Der Mann stellte ihr die Frage ohne Pause und mit einer Dienstbeflissenheit, die auf einschlägige Erfahrung seinerseits schließen ließ. Das ausgesuchte Betrugsopfer nicht zu Wort oder, noch besser, nicht zum Nachdenken kommen lassen. Josefine holte tief Luft, während sie gleichzeitig ihren Fuß hinter die halb geöffnete Tür schob. Man musste mit allem rechnen.
»Wer will das wissen?« Das hatte sie immer schon mal sagen wollen. Erst im nächsten Moment fiel ihr ein, dass der Mann sich ja bereits vorgestellt hatte. Ihr Gegenüber ließ sich aber weder von der Frage noch von ihrer augenscheinlichen Vergesslichkeit irritieren. Vermutlich freute er sich darüber und glaubte nun, mit ihr ein leichtes Spiel zu haben. Er lächelte.
»Mein Name ist Kessler von der Erbenermittlung Kessler und Maierbrink«, wiederholte er im exakt gleichen Tonfall, ergänzte seine Vorstellung aber diesmal um eine kleine angedeutete Verbeugung.
Er griff in die Innentasche seines Mantels, zog eine Visitenkarte hervor und überreichte sie ihr mit großer Geste. Josefine nahm das Kärtchen mit spitzen Fingern entgegen, warf einen kurzen Blick darauf und stopfte es dann in eine der zahlreichen Taschen ihrer Gartenhose.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört.«
Wieder dieses festgeklebte Lächeln. Josefine blickte an sich hinunter. Der Matschfleck auf ihrem Knie wurde langsam hart. Kleine Bröckchen Erde fielen auf die Fußmatte.
»Doch.« Sie schob die Tür ein Stück zu. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe für so etwas keine Zeit.« Sie schloss die Tür.
Umgehend klingelte es erneut. Dreist, unverschämt und lästig. Sie riss die Tür wieder auf. Herr Kesselbrink oder wie er hieß stand an derselben Stelle wie zuvor. Nur sein Lächeln hatte leicht an Spannkraft verloren.
»Es wäre gut, wenn Sie mir kurz die Möglichkeit geben könnten, Ihnen die Angelegenheit zu erläutern.«
»Ich schließe keine Geschäfte an der Haustür ab. Bitte gehen Sie jetzt, sonst rufe ich die Polizei.«
Herr Maierle-Kessel-und-so-weiter ächzte leise. »Ich verstehe, dass mein Besuch unerwartet für Sie kommt, und Sie sind nicht die Erste, die so reagiert.«
Jetzt klang er flehentlich. Josefine verspürte Mitleid mit ihm. Aber nur beinahe. Der angebliche Erbenermittler stellte seine Aktentasche vor ihr auf den Boden, ließ die Verschlüsse aufklacken und nahm ein mit einer Klarsichthülle geschütztes Blatt heraus. Er reichte es Josefine. »Unsere Agentur wurde vom Nachlasspfleger in dieser Sache beauftragt, mögliche Erben der Verstorbenen zu ermitteln.«
»Ist für Erbschaften nicht das Nachlassgericht zuständig?«, fragte Josefine und ärgerte sich im selben Moment, sich nun doch in ein Gespräch hineinmanövriert zu haben. Sie hielt die Klarsichthülle achtlos in der Hand.
»Ja, das stimmt«, Herr Kesselmayer zeigte wieder Zähne, »aber die Gerichte haben oft weder die Zeit noch die technische Ausstattung, selbst die Erben zu ermitteln. Deswegen ernennen sie Nachlasspfleger, und die wiederum wenden sich an uns. Die Ermittlung von Erben ist oft eine sehr langwierige Sache, sie kann sich über Monate, wenn nicht Jahre hinziehen.«
»Monate?«
»Jahre.«
»Und wie lange haben Sie gebraucht, um mich zu finden?« Josefine hob das Blatt und wedelte damit vor dem Gesicht des Erbenermittlers herum. Die Kunststoffhülle knisterte.
»Zwei Wochen.«
»Zwei Wochen?«
»Ganz recht.«
»Das ist nicht sehr lang.«
»Es hat uns auch überrascht. Wissen Sie, oft haben wir es mit internationalen Erbangelegenheiten zu tun, die nicht bei einem deutschen Nachlassgericht anhängig sind, und die sind alles andere als einfach zu bearbeiten«, redete der Mann sich in Rage. Josefine erkannte Begeisterung und Leidenschaft in seinen Augen. Wie schön, wenn jemand in seinem Beruf aufging. Auch wenn es nur das Betrügen vorgeblich hilfloser Hausfrauen war.
So langsam machte die Sache Josefine Spaß. Was sprach eigentlich dagegen, diesen Herrn hier noch ein wenig zu beschäftigen? Der Garten wäre auch in einer Stunde noch da. Genau genommen tat sie damit ein gutes Werk. Solange er mit ihr redete, konnte er niemand anderen belästigen.
»Aha.« Sie bemühte sich um einen neugierigen Gesichtsausdruck. »Und meine Sache, ist sie auch international? Die berühmte Erbtante aus Amerika?« Sie grinste.
»Nein. Keine Tante.« Er machte eine Pause, räusperte sich und eröffnete ihr dann: »Eine Schwester.«
»Sehr interessant. Nein, kreativ. Eine Schwester. Aha.« Josefine unterdrückte die weitere Erwiderung, die ihr auf der Zunge lag und in der die Wörter »für wie blöde« eine Rolle spielten. »Mal angenommen, Sie hätten recht, und ich wäre die Erbin meiner Schwester. Wie würde es dann weitergehen?«
»Gut, dass Sie fragen, Frau Jeschiechek. Die Sache verhält sich so. Das Nachlassgericht bezahlt unsere Dienste nicht. Es ist üblich, mit den Erben eine Vereinbarung zu schließen. Die Höhe unserer Honorare richtet sich nach dem Wert des Erbanteils. Wir bekommen also eine Art Provision. Selbstverständlich nur, wenn Sie auch Geld oder andere Vermögenswerte aus dem Erbe bekommen.«
»Das klingt ja ungeheuer vertrauenswürdig.«
»Ist es auch.« Er nickte eifrig. »Auf diese Weise müssen Sie nichts im Voraus an uns zahlen. Wir tragen sämtliche Kosten, die für die Erbenermittlung angefallen sind, und unser Honorar wird erst fällig, wenn das Erbe zur Auszahlung gekommen ist«, fuhr der Erbenermittler mit ungebrochener Begeisterung fort. Entweder ignorierte er die Ironie in Josefines Einwurf, oder er erkannte sie nicht.
»Was ich geerbt habe, werden Sie mir zweifellos erst sagen, nachdem ich bei Ihnen unterschrieben habe.«
»Richtig.«
»Und auch den Namen und die Adresse des Erblassers erfahre ich erst nach Vertragsabschluss.«
»Ganz genau.«
»Und woher weiß ich dann, dass ich keinen Haufen Schulden erbe?«
Herr Kessler von der Erbenermittlung neigte den Kopf zur Seite und schmunzelte vertraulich. »Unser Honorar bemisst sich nach der Höhe Ihrer Erbschaft. Aus einem negativen Nachlass oder, wie Sie das nennen, einem Haufen Schulden können wir kein positives Honorar berechnen. Das, meine liebe Frau Jeschiechek, würde sich schlicht nicht für uns lohnen.«
»Also lohnt es sich für Sie in meinem Fall.«
»Ja. Und dementsprechend auch für Sie.«
»Aber Sie können mir nicht sagen, was oder wie viel ich von wem geerbt habe.«
»Bedauerlicherweise nein.«
Josefine betrachtete ihren Besucher. Ein Gefühl der Enttäuschung breitete sich in ihr aus. So machte das keinen Spaß. Eine Schwester? Wie einfallslos. Und keine Auskunft über das vermeintliche Erbe. Sie sollte die sprichwörtliche Katze im Sack kaufen. Mit Brief und Siegel beziehungsweise Honorarvereinbarung. Natürlich. Der feine Herr Betrüger gab sich keine große Mühe, ihr die Sache angemessen zu verkaufen.
»Lassen Sie mich kurz nachdenken, Herr Kesselbrink.«
»Kessler.«
»Was?«
»Mein Name ist Kessler von der Erbenermittlung Kessler und Maierbrink.«
»Lassen Sie mich kurz nachdenken, Herr Kessler.« Josefine legte mit übertriebener Geste einen Finger an die gespitzten Lippen und schaute angestrengt nach oben. Dann wandte sie sich mit gespielter Überraschung wieder an ihn. »Wissen Sie, was mir gerade einfällt? Ich habe gar keine Schwester.« Wieder schaute sie angestrengt nach oben. »Doch, doch. Ich glaube, das wäre mir aufgefallen. Vor allem in der Kindheit. So ein zweites Kind nimmt einiges an Platz in Anspruch. Suchen Sie sich jemand anderen für Ihre Betrügereien. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.« Josefine trat einen Schritt zurück, schloss die Haustür und ging wieder in den Garten. Auf dem Weg dorthin warf sie die Klarsichthülle samt Papier in den Müll. Sollte Herr Kessler von der Erbenermittlung Kessler und Maierbrink weitere Klingelattacken starten, würde sie das geflissentlich ignorieren.
Eine Schwester. So einen Unsinn hatte man ihr schon lange nicht mehr aufgetischt.
Zwei Stunden später hatte sie in einer Ecke am Zaun einen großen Laubhaufen für die Igel zusammengefegt, alles Fallobst aufgesammelt und die Fruchtmumien von den Bäumen entfernt. Der Teich, von Algen und Laub befreit, wartete mit frisch geschnittenen Uferpflanzen auf. In der Mitte dümpelte ein Eisfreihalter aus Styropor, den sie zwar ausgesprochen hässlich, aber auch sehr nützlich fand. Christian hatte ihn vor Jahren im baumarktlichen Angebot erstanden und jeden ästhetischen Einwand ihrerseits abgeschmettert. Seither erwies sich das Teil als unkaputtbar, und Josefines Umweltgewissen schlug ohnehin Alarm bei dem Gedanken, das Plastikteil vor Ablauf seiner Nutzungsdauer auf den Müll zu werfen. Wobei der Eisfreihalter vermutlich eine längere Nutzungsdauer aufwies als sie selbst. Sollten sich doch die Kinder irgendwann damit herumschlagen.
Herr Kessler von der Erbenermittlung Kessler und Maierbrink hatte keinen weiteren Versuch gestartet, sie zu belästigen. Oder sie hatte es im hinteren Teil des Gartens überhört. Egal. Hauptsache, sie war ihm nicht auf den Leim gegangen. Eine Schwester. Was für ein Blödsinn. Josefine war das einzige Kind ihrer Eltern und eines von zwei Enkelkindern ihrer Großeltern mütterlicherseits. Auf der Seite ihres Vaters hatte es eine eher unüberschaubare Menge an Cousins und Cousinen gegeben, was der beeindruckenden Geschwisterschar ihres Vaters zuzurechnen war. Aber die kannte sie alle, wenn sie über die Jahre auch nicht zu allen Kontakt gehalten hatte.
Josefine drehte den Gartenwasserhahn auf und hielt die Harke darunter, bis alle Reste von Erde und Schlamm entfernt waren. Den Spaten unterzog sie der gleichen Prozedur und stellte beide Gerätschaften an die Schuppenwand. Hier, unter dem kleinen Dachüberstand, konnten sie trocknen.
Welche Möglichkeiten gäbe es denn für die Existenz einer Schwester? Ein außereheliches Kind ihres Vaters? Das Resultat eines Fehltritts? Nein. Sicher nicht. Ihre Eltern waren einander immer sehr zugeneigt gewesen. Eine Geliebte passte da nicht ins Bild. Oder vielleicht doch? Josefine ging durch den Garten, kontrollierte, ob sie irgendwo eine Gartenschere, eine Rolle Rosendraht oder eine Verpackung der Blumenzwiebeln liegen gelassen hatte. Und ihre Mutter? Sie erinnerte sich an die Begeisterung, mit der sie in fremde Kinderwagen geschaut hatte. Stets hatte auch ein Hauch von Wehmut in ihrem Blick gelegen. Josefine hatte gedacht, die Mutter wünschte sich, dass sich bei ihnen ein Schwesterchen oder Brüderchen ankündigte. War es keine Hoffnung, sondern Trauer um etwas Verlorenes gewesen? Denn wenn Herr Kessler kein Betrüger war und es diese Schwester vonseiten der Mutter wirklich gegeben hatte, musste sie aus der Zeit vor der Ehe ihrer Eltern stammen. Josefine bückte sich, um einen winzigen Fitzel Pappe aufzuheben, und sah sich um. Bis zum Frühjahr stand nun bis auf gelegentliches Laubfegen nichts mehr an. Wieder etwas mehr, das sie nicht zu tun hatte.
Sie stopfte das Pappestückchen in die Hosentasche. Nur keine trübsinnigen Gedanken aufkommen lassen. In dem großen Haus würde sich sicher auch in den langen Wintermonaten etwas finden, womit sie sich beschäftigen konnte. Der Keller vertrug auch noch einen vierten Entrümpelungsdurchgang, und dem Speicher fehlte nach wie vor ein stringentes Ordnungssystem. Was stand eigentlich auf dem Blatt Papier, das der Erbenermittler ihr in die Hand gedrückt hatte? Sie könnte auch die Zimmer der Kinder gründlich putzen, damit alles vorbereitet wäre, wenn sie zu Besuch kämen, obwohl gerade nichts darauf hindeutete, dass dies der Fall sein würde. Weder jetzt noch in näherer Zukunft. Und wenn auf dem Papier Erklärungen standen? Eine Schwester. Sie hätte immer gerne eine Schwester gehabt. Früher als Kind eine Spielkameradin. Als Teenager eine Verbündete gegen die ungerechte Allmacht der Eltern. Und vor ein paar Jahren, als die Eltern beide Pflege benötigten und schließlich kurz hintereinander verstarben, als Unterstützung und Trost. Eine Schwester. Sie wäre nicht allein gewesen. Nicht damals und auch nicht heute. Wobei das genau genommen nicht stimmte. Denn selbst wenn es eine Schwester gegeben hatte – jetzt war sie tot. Und an Josefines Zustand des geschwisterlosen Daseins würde sich nichts ändern.
Josefine blieb stehen und horchte in sich hinein. Machte es einen Unterschied, ob man keine oder eine tote Schwester hatte? Würde sich allein durch das Wissen um deren Existenz ihr Leben ändern? »Meine tote Schwester«, das klang wie ein kitschiger Buchtitel oder der Name eines mit Schauspielerinnen und Schauspielern der C-Riege besetzten Low-Budget-Heulfilms. Josefine ging zur Terrassentür, streifte die Gartenschuhe von den Füßen und eilte in die Küche. Die Klarsichthülle hatte verhindert, dass das Papier den Saft aus den Orangenschalen gesogen hatte, auf denen es gelandet war. Josefine nahm den Spülschwamm aus dem Ständer, hielt ihn kurz unter heißes Wasser und wischte die Hülle sauber, bevor sie sie umdrehte.
»Honorarvertrag«, stand mittig oben. Darunter, ebenfalls mittig gesetzt, die Adresse der Agentur als Auftragnehmer und ihr Name samt vollständiger Adresse als Auftraggeberin. Es folgten jede Menge Absätze mit Rechten und Pflichten beider Vertragspartner. Keine Hinweise auf den Namen oder den Wohnort der Erblasserin. Die wussten schon, wie sie die Leute hinters Licht führten. Josefine lehnte sich an die Küchenzeile, ließ das Blatt sinken. Andererseits, so suspekt alles auf den ersten Blick schien, so korrekt las sich der Vertrag. Keine Vorkasse, das Honorar wurde nur fällig bei Erfolg. Wenn sich herausstellen würde, dass sie doch nicht erbberechtigt war, hätte sie keine Verpflichtungen. Das finanzielle Risiko lag allein bei der Agentur. Nach Betrug sah das nicht aus. Es sei denn, sie übersah etwas – was sie nicht grundsätzlich ausschließen wollte.
Josefine legte den Vertrag auf die Arbeitsfläche und verschränkte die Arme vor der Brust. Mal angenommen, es ging dort alles mit rechten Dingen zu, die Agentur war seriös und die Schwester nicht erfunden. Was hätte das für Konsequenzen? Würde sie einfach einen Batzen Geld in noch zu definierender Höhe überwiesen bekommen, und die Sache hätte sich erledigt? Oder würde mit dem Erbe auch Arbeit auf sie zukommen? Man kannte das doch. Ein Mensch verstarb einsam und ohne Freunde und Verwandte zwischen Müllbergen und Dreck, und irgendwer musste sich darum kümmern, dass die Bude ausgeräumt wurde. Sie stellte sich vor, zwischen stinkenden Türmen gehorteter Habseligkeiten zu stehen, und schüttelte sich.
Mit geschlossenen Augen horchte sie in die Stille des Hauses. Nichts rührte sich. Wollte sie diese Ruhe gegen einen unkalkulierbaren Aufwand eintauschen, ohne zu wissen, was auf sie zukam? Dann stutzte sie, lauschte erneut. Es war ruhig. Zu ruhig. Josefine stieß sich von der Arbeitsfläche ab und ging ins Wohnzimmer. Auch hier: Stille. Es dauerte einen Moment, bis sie es begriff. Sie spürte einen Kloß in ihrer Kehle, und Tränen lauerten in ihren Augen, als sie langsam zum Vogelkäfig ging. Hasso lag auf dem Rücken, die Flügel ausgebreitet. Sein Kopf hing zur Seite, die Augen waren halb geöffnet. Josefine öffnete das Türchen, griff hinein und stupste Hasso an. Vielleicht war er nur bewusstlos, würde im nächsten Moment losflattern und ihr entwischen, wie schon viele Male zuvor.
»Komm schon, alter Junge«, flüsterte sie und strich mit der Fingerspitze sanft über den Brustkorb des Wellensittichs. Nichts. Schließlich nahm sie ihn behutsam auf und hielt ihn in ihren Händen wie in einer Schale. Sie legte einen Finger an den Schnabel, rüttelte ihn vorsichtig. Hasso rührte sich nicht.
Josefine ging vor dem Käfig auf die Knie, setzte sich mit dem Vogel in den Händen auf den Boden und wiegte ihn, während sie sich im Raum umsah, ohne etwas zu sehen. Tränen brannten in ihren Augen. Sie küsste den toten Vogel sanft auf das Köpfchen, schmiegte ihre Wange an ihn. Die weichen Federn streichelten ihre Haut. Er fühlte sich noch warm an.
»Auf Wiedersehen, alter Freund«, flüsterte sie und verstummte. Sie hörte nichts außer ihrem eigenen Atem. Minuten verstrichen. Die Leere und Stille des Hauses drückten sie nieder. Sie war endgültig allein. Niemand brauchte sie mehr. Egal, was sie sich an Arbeiten vornahm, irgendwann wäre alles getan, und dieses Irgendwann war nicht mehr weit entfernt. Sie musste sich nichts vormachen. Es war bereits da. Die Kinder lebten ihr eigenes Leben. Ihren Job war sie los, und in ihrem Alter standen potenzielle Arbeitgeber nicht gerade Schlange. Selbst Frau Riechers, ihre langjährige Nachbarin, für die sie regelmäßig eingekauft und kleinere Besorgungen gemacht hatte, war in ein Betreutes Wohnen gezogen. Wieder streichelte sie den Vogel. Mit Hasso war das letzte Puzzleteil ihres Lebens als Mutter und Familienfrau verloren gegangen. Ein Lebensabschnitt unwiederbringlich vorbei. Ab heute war es egal, ob sie sich hier oder woanders aufhielt. Es war egal, ob sie ihre Pflichten erfüllte, denn sie hatte keine. Es war egal, welcher Arbeit sie nachging, ob sie überhaupt einer nachging. Im Zweifel, wenn sie genügsam lebte, reichten ihre Ersparnisse bis zur Rente. Aber die Vorstellung, mit siebenundfünfzig im Sessel zu sitzen, die Wände anzustarren und auf etwas zu warten, das nicht kam, erschreckte sie zutiefst. Dann konnte sie Hassos Grab der Einfachheit halber groß genug machen und sich direkt mit hineinlegen. Nein. Sie wollte etwas tun. Und wenn es die Abwicklung des Erbes einer ihr gänzlich unbekannten Schwester war.
Josefine suchte eine kleine Schachtel, legte Hasso auf eine dunkelblaue Serviette gebettet mit seinem Lieblingsspielzeug hinein und trug die Kiste in den Garten. Den Spaten würde sie ein zweites Mal säubern müssen, aber das machte nichts. Nachdem sie an einer hübschen Stelle ein Loch ausgehoben hatte, grub sie eine der frisch gesetzten Zwiebeln wieder aus und legte sie mit in Hassos Grab. Über ihr in den Bäumen zwitscherte ein Vogel. Sie schaute hoch. Im Ast ganz oben saß ein Wellensittich, der Hasso bis auf die Flügelspitze glich. Er neigte den Kopf zur Seite, beobachtete sie aus einem Auge und flog schließlich fort. Josefine schaute ihm hinterher, winkte, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. Dann zog sie die Visitenkarte aus ihrer Hosentasche.