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»Titzelsee? Wo liegt das?« Josefine hatte noch nie von diesem Ort gehört.

»Hier.« Herr Kessler von der Erbenermittlung Kessler und Maierbrink drehte seinen Laptop so, dass sie den Bildschirm sehen konnte, und zeigte auf einen Punkt auf der Karte. »Die nächste große Stadt ist Iwersingen.«

»Und woraus genau besteht das Erbe? Beim ersten Erklären sind noch etliche Fragen bei mir offengeblieben.« Sie zog nachdenklich an ihrem Ohrläppchen. Sie hatte den Abend am Rechner verbracht und alles gelesen, was sie über Erbenermittlung im Allgemeinen und über das Unternehmen Kessler und Maierbrink im Besonderen hatte finden können. Die Erbenermittlung hatte eine ordentliche Webseite, auf der es einen FAQ-Reiter mit Antworten auf all die Fragen gab, die sie sich auch gestellt hatte. Mit ihrem Misstrauen schien sie nicht allein zu sein. Der Hinweis, man empfehle den Kunden einen Anruf beim Nachlassgericht, um die Richtigkeit der Sache zu bestätigen, und die Auskunft, die sie dort erhalten hatte, hatten sie schließlich überzeugt.

Herr Kessler griff in seinen Aktenkoffer, nahm einen schmalen Ordner heraus und legte ihn in die Mitte des Tisches. »Hier sind alle Unterlagen, die mit Ihrem Erbe in Zusammenhang stehen. Selbstverständlich sende ich Ihnen das alles auch noch einmal als PDF-Datei, aber wir wissen aus Erfahrung, dass die Kunden besonders am Anfang gerne alles schwarz auf weiß vorliegen haben.« Er schlug den Ordner auf. »Die Erblasserin Frau Beate Silberzier war die Inhaberin der Agentur ›Ho! Ho! Ho! – Die Leihnachtsmänner‹, ein Mietservice für Weihnachtsmänner und andere Eventfiguren.«

»Weihnachtsmänner mieten?«

»Ganz richtig.«

»Das kann ich mir ja noch vorstellen, aber was sind Eventfiguren?«

»Hier.« Herr Kessler nickte und tippte den Namen der Firma in seinen Laptop. Eine Webseite öffnete sich, ein lautes »Ho! Ho! Ho!« ertönte, und auf dem Bildschirm schleppte eine Horde gezeichneter Rentiere vor nächtlichem Himmel einen bimmelnden und leuchtenden Schlitten hinter sich her, auf dem ein, wie Josefine fand, ausgesprochen übergewichtiger Weihnachtsmann durch seinen mächtigen weißen Bart grinste. Nachdem er samt Entourage vorbeigezogen war, erschien der Schriftzug »Die Leihnachtsmänner« in Rot, Weiß und Grün, ebenfalls blinkend.

Herr Kessler drückte auf eine Taste, das Bild erstarrte, und an der linken Seite ploppte mit einem hellen Glockenton eine von Efeu- und Mistelranken umkränzte Menü-Leiste auf. Wenn diese Homepage dem Geschmack ihrer unbekannten Schwester entsprochen hatte, war Josefine jetzt bereits klar, dass große Ähnlichkeiten nicht unbedingt vorhanden gewesen sein konnten.

»Da.« Es blinkte, glitzerte und bimmelte, und ein Weihnachtsmann erschien auf dem Bildschirm. Nicht gezeichnet, sondern als Foto, aber nicht weniger umfangreich und ebenfalls mit einem stattlichen Bart. »Die Agentur bietet in der Hauptsache einen Weihnachtsmann-Mietservice an. Weihnachtsfeiern, Geschäfte, Familienfeiern. Aber eben nicht nur Weihnachtsmänner, sondern auch …« Er schob die Zunge zwischen die Lippen, während er konzentriert auf den Bildschirm schaute. »… Rauschgoldengel, Wichtel, Elfen und eine …«, wieder zögerte er, »… eine Ruprechtine. Was auch immer das sein soll.« Er räusperte sich. »Außerdem offeriert die Agentur eine Märchenerzählerin.«

»Ist auf dieser Seite auch ein Bild von Frau Silberzier?«, wollte Josefine wissen. Das Wort Schwester kam ihr nach wie vor sperrig vor.

»Ich konnte eines auf der Webseite finden. Aber nur im Kostüm.« Herr Kessler wiegte unschlüssig den Kopf hin und her, ehe er das Foto aufrief. Ein Rauschgoldengel mit einer Flut goldblonder Haare und Flügeln mit Zwei-Meter-Spannweite erschien. Die Frau strahlte in die Kamera, perfektes Make-up, phantastische Figur und die Haarpracht allem Anschein nach echt.

»So jung?« Josefine beugte sich vor. »Diese Frau ist doch höchstens Ende zwanzig.« Die Anmerkung, dass sie bildschön war und so viel Ähnlichkeit mit ihr aufwies wie eine Rose mit einer Stinkmorchel, verkniff sich Josefine ebenso wie ihre logische Schlussfolgerung. Mal angenommen, der Rauschgoldengel war Anfang dreißig, was ihr in Anbetracht der strahlenden Haut und der Haare schon hochgegriffen erschien, bedeutete es, dass ihr Vater nach langen Jahren glücklicher Ehe fremdgegangen sein musste. Denn eine Schwangerschaft ihrer Mutter wäre zu diesem Zeitpunkt sicherlich nicht unbemerkt geblieben. Wenn sie denn überhaupt noch möglich gewesen wäre. Ihre Mutter hatte sich zu dem Zeitpunkt definitiv in den Wechseljahren befunden.

»Nein. Bitte entschuldigen Sie. Nicht der Engel ist Ihre Schwester, sondern da … äh … sie stellt den Wichtel dar.« Herr Keller verzog bedauernd die Mundwinkel.

Erst jetzt sah Josefine den Weihnachtswichtel hinter dem Rauschgoldengel. Er lugte unter dem linken Flügel hervor, die rote Zipfelmütze tief in die Stirn gezogen. Sein dickes grünes Wams, die graue Hose und die spitzen Stiefel ließen keine eindeutigen Rückschlüsse auf eine wie auch immer geartete Figur zu. Ein breites sympathisches Lachen dominierte das Gesicht, und Josefine reagierte spontan mit einem Lächeln. Auch wenn der Kopf im Schatten des Flügels und eher unscharf war – diese Frau war definitiv nicht mehr Ende zwanzig.

»Wie alt war Frau Silberzier?«

»Neunundfünfzig. Am 21. Dezember hätte sie ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert.«

»Knapp drei Jahre älter als ich.« Josefine betrachtete ihre Hände. Unter der Haut zeichneten sich Adern ab, und wenn sie sie ausstreckte, durchzogen Falten den Handrücken. »Meine Eltern haben ein Jahr vor meiner Geburt geheiratet. 1965.« In ihrer Erinnerung tauchte das Hochzeitsbild auf. Eine Schwarz-Weiß-Fotografie im typischen Stil der Sechziger. Ihre Mutter trug ein weißes Minikleid, der Vater einen Anzug. Das Bild war vor dem Eingang der Kirche aufgenommen worden. Die Familie, ihre Großeltern und die Geschwister des Vaters, posierten hinter dem Brautpaar. Alle lachten in die Kamera. »Dann muss sie 1963 geboren sein.«

Herr Kessler nickte und schaute Josefine abwartend an.

»Möchten Sie die genauen Zusammenhänge wissen?«, fragte er. »Wir haben natürlich alles sehr sorgfältig recherchiert und überprüft.« Er strich mit den Fingerspitzen über den Ordner. »Aber manchmal wollen unsere Kundinnen und Kunden die Details gar nicht erfahren«, sagte er mit weicher Stimme. Josefine erwiderte seinen Blick, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Sie hörte die Stimme ihrer Mutter, das Lachen ihres Vaters. Einer von beiden hatte dieses Geheimnis mit sich herumgetragen. Ein fortgegebenes Kind. Wusste der jeweils andere davon? Hatten sie sich offenbart und die Last gemeinsam geschultert?

»Ist die Agentur ein Ein-Frau-Unternehmen, oder gibt es Angestellte?« Sie schob das Bild ihrer Eltern zur Seite. Nicht jetzt. Eine Sache nach der anderen.

»Die Agentur arbeitet mit einer ganzen Reihe an freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber es gibt auch zwei Festangestellte.« Er blätterte im Ordner. »Eine Dame für die Verwaltung und einen Herrn, der Hauptweihnachtsmann sozusagen. Die beiden kümmern sich auch weiter um die Geschäfte, bis klar ist, was mit der Agentur geschehen soll.«

»Heißt das, sie ist nicht geschlossen worden?«, fragte Josefine verwundert. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber in ihrer Vorstellung starb ein Geschäft mit dem Tod des Besitzers. Auch wenn das bei genauerer Betrachtung Unsinn war, wie ihr jetzt klar wurde.

»Nein. Wir haben den 25. November, und es ist Hauptsaison. In Absprache mit dem Nachlasspfleger wurde entschieden, das Geschäft aufrechtzuerhalten, bis die Erbangelegenheit geklärt wurde.« Er wies mit der Hand in Josefines Richtung. »Womit wir ja nun ein gutes Stück weitergekommen sind.«

»Bedeutet das, ich muss entscheiden, was mit der Firma geschieht?«

»Letztlich ja. Aber nicht sofort. Vielleicht möchten Sie das Geschäft ja übernehmen?«

Josefine lachte laut auf. Was für eine abstruse Vorstellung. Sie mochte Weihnachten nicht. Sie mochte keinen Kitsch und erst recht kein übertriebenes Getue und Gewese. Auf keinen Fall all das Geblinke, Geblitze und Gebimmele. Unter allen möglichen Tätigkeiten war die des Betriebs eines Weihnachtsmann-Verleihs die allerletzte, die sie ausüben würde. »Ein Verkauf kommt wohl eher in Frage.«

Ihr Tonfall klang selbst in ihren Ohren schroffer, als sie es beabsichtigt hatte. Das war Herrn Kessler gegenüber nicht fair. Er gab sich alle Mühe, sie in dieser Situation zu unterstützen.

»Alles ist denkbar.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Wir empfehlen in solchen Fällen immer, nichts übereilt zu entscheiden. Lassen Sie sich Zeit. Denken Sie in aller Ruhe nach. Manchmal hilft es auch, sich persönlich ein Bild der Lage zu machen.«

»Nach Titzelsee fahren?«

»Das wäre eine Möglichkeit.«

Josefine zögerte. Die Abwicklung des Erbes hatte sie sich anders vorgestellt. Eher bürokratisch als praktisch. Mehr Formulare als Handeln. Nach Titzelsee zu fahren bedeutete, in die Privatsphäre einer ihr unbekannten Person einzudringen. Sie würde in Unterlagen, Papieren und persönlichen Dingen herumkramen, ein fremdes Leben betrachten, ohne den Menschen dahinter gekannt zu haben. Das Leben ihrer fremden Schwester.

»Wieso war sie meine Schwester?« Sie wollte es nicht wissen, ihr Bild von der heilen Welt ihrer Eltern nicht zerstören, nicht das Geheimnis lüften, das ihr Leben bestimmt hatte, ohne dass sie es ahnte. Aber sie brauchte die Antwort. Sie kannte sich. Die Frage würde ihr keine Ruhe mehr lassen.

Herr Kessler zog den Ordner zu sich heran und blätterte darin, bis er zu einem amtlich aussehenden Papier kam. »Ihre Schwester, genau genommen Ihre Halbschwester, wurde am 21. Dezember 1963 als uneheliches Kind einer gewissen Christel Werstall geboren. Vater unbekannt. Christel Werstall ehelichte 1964 einen gewissen Werner Silberzier, später erfolgte die sogenannte Einbenennung des Kindes. Was bedeutet, dass Ihre Schwester Beate den Namen ihres Stiefvaters erhielt.«

Christel Werstall. Josefine hatte diesen Namen noch nie gehört. »Hat er sie adoptiert?«

»Nein. Sie bekam nur seinen Namen.«

»Weshalb?«

»Über die damaligen Beweggründe können wir nur spekulieren. Für uns ist die Konsequenz daraus interessant.«

»Die lautet?«

»Hätte Herr Silberzier Ihre Schwester Beate adoptiert, säße ich jetzt nicht hier. Denn mit einer Adoption erlöschen alle leiblichen Verwandtschaftsverhältnisse, in Folge auch die Erbberechtigung.«

»Die Eltern sind also auch tot?«

»Christel Silberzier ist bereits verstorben. Werner Silberzier lebt noch, ist aber aus den eben erläuterten Gründen nicht erbberechtigt.«

»Wie sind Sie dann auf mich gekommen?«

»Wir haben uns natürlich mit Herrn Silberzier unterhalten. Auch er wusste nicht, wer der leibliche Vater seiner Tochter war, weil es ihn, wie er uns versicherte, nie interessiert hat. Allerdings hatte er private Unterlagen seiner verstorbenen Frau aufbewahrt. Dort sind wir dann fündig geworden.«

»Wusste mein Vater von seinem Kind?«

»Nicht zum Zeitpunkt der Geburt.«

Josefine versuchte sich vorzustellen, was gewesen wäre, wenn ihr Vater von der Schwangerschaft gewusst hätte. Sie kannte ihn nur als ausgesprochen rechtschaffenen Mann, der Gesetz und Ordnung immer hochgehalten hatte. Hätte er diese Christel Werstall geheiratet? Wenn nicht aus Liebe, so doch aus Pflichtgefühl? Ja. Das hätte er. Selbst wenn er gezögert hätte, der Druck auf ihn wäre sicherlich groß gewesen. Josefine rief sich ihren Großvater in Erinnerung. Ein strenger Mann, der über seine Familie regierte wie ein kleiner König. Niemals hätte er zugelassen, dass der Sohn nicht die Konsequenzen seiner Taten trug.

Hätte Christel Werstall nicht angegeben, den Vater ihrer neugeborenen Tochter Beate nicht zu kennen, wäre ihr, Josefines Leben ganz anders verlaufen. Nein, halt, das stimmte nicht. Es wäre nicht anders, es wäre gar nicht verlaufen. Sie wäre schlicht nie geboren worden. Und infolgedessen gäbe es auch Lea, Sarah und Florian und das Baby nicht. In Gedanken schickte sie einen stummen Dank an Christel Silberzier, der sie auf gewisse Weise ihre Existenz zu verdanken hatte.

Den Dank konnte sie aber umgehend wieder relativieren, denn ohne das alles stünde sie jetzt auch nicht vor der Frage, wie sie mit dem Erbe ihrer Schwester umgehen sollte.

Erst jetzt fiel ihr die Formulierung auf, die Herr Kessler eben genutzt hatte.

»Sie sagten gerade ›Nicht zum Zeitpunkt der Geburt‹. Was bedeutet das?«

»Die Vaterschaft wurde 1977 nachträglich anerkannt. Es fand sich eine entsprechende Urkunde in den Unterlagen von Christel Silberzier. Da war Ihre Schwester bereits ein Teenager.«

»Mein Vater hat nie etwas in der Richtung verlauten lassen.« Sie versuchte sich zu erinnern. Hatte es je eine Zeit gegeben, in der ihr Vater sich anders verhalten hatte? In der es eine Krise in der Ehe ihrer Eltern gegeben hatte? Ihre Mutter hatte ihren Vater um fünf Jahre überlebt. Nie war auch nur ein Wort in dieser Richtung gefallen. Josefine rieb sich über die Augen. Sie konnte ihre Eltern nicht mehr fragen. Dieses Geheimnis hatten sie mit sich genommen. Jetzt galt es, praktisch zu denken. Probleme wurden nicht kleiner, wenn man sie ignorierte, und der beste Weg, sie zu lösen, war immer, zunächst Ordnung in die Sache zu bringen und sich einen möglichst guten Überblick zu verschaffen.

»Gut.« Sie rieb sich mit beiden Händen über die Oberschenkel, stützte sich darauf ab und stand auf. »Ich fahre nach Titzelsee und regele die Angelegenheit.« Sie nickte Herrn Kessler zu. »Brauche ich Vollmachten?«

Herr Kessler tippte auf die Mappe.

»Es ist alles vorbereitet.« Er erhob sich ebenfalls. »Eines sollten Sie aber noch wissen, Frau Jeschiechek.«

Josefine hob fragend eine Augenbraue.

»Ihre Schwester, Frau Silberzier.« Er machte eine Pause. »Es gibt Ermittlungen.«

»Ermittlungen? Hat sie etwas angestellt?«

»Nein. Sie hat nichts angestellt.«

»Warum dann die Ermittlung?«

»Es besteht der dringende Verdacht, dass Ihre Schwester Opfer eines Mordes wurde.«