»Du bist wo?«
Hatte Christians Stimme immer schon so geknarzt? Er klang, als habe er drei Tage kein Wort von sich gegeben und müsste nun unvermittelt losbrüllen. Josefine stellte sich vor, welche Lautstärke er am anderen Ende der Leitung gerade entwickelte. Das Prinzip des Fernsprechens und der modernen Kommunikationsmöglichkeiten hatte sich Christian nie erschlossen. Er sprach stets in einer Lautstärke, als müsste er die Entfernung ohne Hilfsmittel überbrücken. Und das galt für Gespräche in ausgeglichener Stimmungslage. Jetzt war er wütend.
»Auch wenn es dich eigentlich nichts angeht. Ich bin in Titzelsee.« Sie hielt das Handy mit einigem Abstand vor ihr Gesicht. Den Lautsprecher konnte sie getrost ausgeschaltet lassen.
»Kannst du es wieder nicht lassen.« Eine Feststellung, keine Frage. Josefine presste die Lippen aufeinander. »Dass du dich aber auch überall einmischen musst.«
»Ich mische mich nicht ein. Ich regele Dinge.«
»Ja. Darin bist du gut. Dinge zu regeln für andere Leute.« Am anderen Ende erklang ein bitteres Lachen. »Ob sie es wollen oder nicht.«
Josefine kämpfte mit sich. Christian wusste, mit welchen Worten er sie triggern konnte. Wie einen alten schweren Sack voller Unrat knallte er ihr die üblichen Vorwürfe vor die Füße. Sie hätte alles an sich gerissen, alles gemacht, alles entschieden, alles von ihm wegorganisiert. Kinder, Familie, Finanzen. In all den Jahren ihrer Ehe hätte er keine Chance gehabt, seine Vorstellungen umzusetzen, weil immer alles nach ihrem Willen und ihren Wünschen gelaufen war. Dass sie ihm auf diese Weise den Rücken freigehalten und ihm seine Karriere überhaupt erst ermöglicht hatte, sah er nicht.
»Warum hast du mich angerufen?« Es fiel ihr schwer, nicht auf seine Sätze zu reagieren, aber sie schaffte es.
»Ich habe dir eine Mail geschrieben, aber du hast sie noch nicht geöffnet.«
»Wie gesagt. Ich bin unterwegs.« Sie hatte die Mail in der Liste in ihrem Handy gesehen, aber sie bewusst noch nicht gelesen. »Ich schaue sie mir an, wenn ich Zeit dafür habe.«
»Josefine …«
»Und jetzt entschuldige mich bitte. Mein Termin wartet auf mich.« Schnell beendete sie das Telefonat, noch ehe Christian etwas erwidern konnte, und verließ das Bahnhofsgebäude. Sie hatte jetzt keinen Kopf für seine Wünsche. Auch wenn das mit dem Termin nicht der Wahrheit entsprach. Sie hatte keinen Termin gemacht. Sie hatte sich noch nicht einmal angekündigt. In den letzten zwei Wochen war sie keinen Tag lang sicher gewesen, ob sie überhaupt herkommen sollte. Und sie wollte nicht, dass ihretwegen Vorbereitungen getroffen wurden. Weder in die eine noch in die andere Richtung. Wer wusste denn, wie es in der Agentur zuging? Wie die Bücher geführt wurden? Sie wollte sich schnellstmöglich einen Überblick über die realen Gegebenheiten verschaffen. Wie auch immer die sein würden. Danach konnte sich eine Notarin mit der Sache befassen. Auf der Zugfahrt hierher hatte sie beschlossen, die Abwicklung einem Fachmenschen zu überlassen, und eine Adresse in Titzelsee ausfindig gemacht.
Josefine schaute sich um. Vor ihr erstreckte sich der Marktplatz von Titzelsee. Die Fläche war deutlich größer, als sie erwartet hatte, und es gab auch eine Menge Geschäfte. Eine Apotheke, eine Reinigung, ein Blumengeschäft und eine Buchhandlung auf der einen, einen Drogeriemarkt, eine Bäckerei und eine Metzgerei auf der anderen Seite. Ein Café mit eingezäuntem Außenbereich dominierte eine der Stirnseiten des Platzes. Unter großen Schirmen saßen trotz des kaltfeuchten Wetters einige in Mäntel und Decken gehüllte Menschen, schlürften Heißes und unterhielten sich. Über allem schwebte an langen Streben befestigte Weihnachtsbeleuchtung in Form von Sternen, Glocken und etwas, das Josefine an Stringtangas erinnerte. Der ganze Platz machte einen gediegenen und sehr gepflegten Eindruck. So schlecht konnte das Geschäft der Agentur tatsächlich nicht gelaufen sein. Die Mieten entsprachen sicherlich der Lage.
»Am Markt 47«, murmelte Josefine leise und kniff die Augen zusammen. Sie stand neben dem Haus mit der Nummer 53. Hier irgendwo musste es sein. Sie blickte suchend in alle Richtungen. Schließlich entdeckte sie den Eingang zu einer kleinen Gasse. Nach wenigen Schritten hatte sie sie erreicht und spähte hinein. Die Hausnummern setzten sich hier fort. Die Nummer 47 bemerkte sie erst, als sie sich direkt davor befand. Das Haus stand etwas zurückgesetzt. Ein Anstrich hätte dem fleckig angegrauten Putz gutgetan. Die schwarz-goldenen Metallrahmen der Fenster stammten wie der komplette Bau vermutlich aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Josefine erkannte das Logo von der Webseite wieder. Es nahm beinahe die gesamte Breite des Schaufensters ein. Eine rote Folie versperrte den Blick ins Innere des Geschäfts, ließ nur oben einen schmalen Streifen frei, in dem eine blinkende Lichterkette hing, die wohl weihnachtliche Stimmung verbreiten sollte. Die Eingangstür zur Agentur lag nach innen versetzt in einer Art Windfang, in dem sich auch noch eine weitere Haustür befand. Drei Klingelschilder ließen Wohnungen über dem Ladenlokal vermuten. Rechts daneben quetschte sich eine enge Hofeinfahrt zwischen die Wohnhäuser.
»Die Leiche der Agenturinhaberin Beate Silberzier wurde vor dem Eingang ihres Ladenlokals gefunden«, flüsterte sie und zitierte damit den Zeitungsartikel, den Herr Kessler ihr zusammen mit den Unterlagen überreicht hatte. Bis jetzt hatte Josefine diesen Punkt verdrängt. Beate Silberzier war erschlagen worden, hier an dieser Stelle, an der sie nun stand. Sie stellte sich die Szene vor. Die Absperrbänder, die Menschen in weißen Anzügen, die Spiegelung des blinkenden Blaulichts in den Scheiben und auf den Wänden der benachbarten Häuser. Und direkt vor ihr, hinter einem Sichtschutz: die Tote. Ob jemand damals die Lichterkette ausgeschaltet hatte? Laut Herrn Kessler suchte die Polizei nach dem Mörder.
Josefine wollte sich damit nicht auseinandersetzen. Es war schrecklich, was Beate Silberzier zugestoßen war, und sie wünschte niemandem so ein Schicksal. Aber für ihr Vorhaben konnte es keine Rolle spielen. Sie war hier, um die Sache so schnell wie möglich zu erledigen. Zu viel emotionale Beteiligung wäre da nur hinderlich. Probeweise drückte sie gegen den schwarzen Griff der Eingangstür. Sie gab nach, und sofort erklang ein fröhliches »Ho! Ho! Ho!«. Josefine schob die Tür auf und betrat die Agentur. Eine junge Frau erhob sich halb von ihrem Schreibtischplatz, den Blick noch auf ein Papier geheftet. Hinter ihr hing eine riesige Foto-Pinnwand in der Art, wie Josefine sie von ihrer Frauenärztin kannte – Bilder dicht an dicht, teilweise einander überlappend. Nur lachten von diesen Fotos keine Babys den Betrachter an, sondern Engel, Wichtel, Elfen, jeweils umringt von strahlenden Kindern oder Menschen in Businesskleidung. Den Rahmen der Pinnwand zierte eine Girlande aus künstlichem Tannengrün. Die hineingeflochtene Lichterkette gab sich große Mühe, keinem der unzähligen bunten Lämpchen im Schaufenster die Show zu stehlen. Josefine fragte sich, wie lange man das Geblinke von allen Seiten wohl aushalten konnte, ohne einen epileptischen Anfall zu bekommen.
Dem aufblasbaren Weihnachtsmann in der Ecke fehlte es etwas an Spannkraft. Vielleicht hätte er sich besser auf den Nikolausstab aus Metall stützen sollen, der neben ihm an einem Türrahmen lehnte. Letztlich hinderte ihn nur ein in kaltweißem Licht leuchtendes Rentierschlittengespann daran, umzufallen. Josefine schauderte. Hier stand ein Besuch der Geschmackspolizei mit Sicherheit ganz kurz bevor.
»Willkommen bei den Leihnachtsmännern«, hob die junge Frau an. »Mein Name ist Candan Aydin. Womit kann ich Ihnen …« Sie sah Josefine an und verstummte. Ihr Lächeln erstarrte. Sie wurde blass. Ohne ihren Blick von Josefine abzuwenden, ließ sie sich wieder auf den Stuhl fallen.
»Ist Ihnen nicht gut?« Josefine machte einige Schritte auf die junge Frau zu. Sie kannte das von ihrer Tochter, wenn die wieder mal eine ihrer Diäten machte und auf Kriegsfuß mit ihrem Kreislauf war. »Soll ich Ihnen ein Glas Wasser besorgen«, sie versuchte, sich an den Namen zu erinnern, »Frau Aydin?«
Candan Aydin schüttelte den Kopf. »Nein. Danke. Es ist nur …« Sie straffte sich und stand erneut auf. »Sie müssen Frau Jeschiechek sein.« Sie streckte ihr die Hand entgegen.
»Das stimmt.« Hatte Herr Kessler ihr Kommen in der Agentur entgegen ihrer Vereinbarung angekündigt? »Woher wissen Sie das?«
»Sie sehen aus wie Beate.« Candan Aydins Stimme wurde weich. »Für einen Moment dachte ich, sie wäre wieder hier. Aber das kann ja nicht sein.« Sie lächelte traurig. »Der Herr von der Erbenermittlung hatte Ihren Namen erwähnt, als er hier war.«
»Meinen Sie Frau Silberzier?« Josefine rief sich den Wichtel auf dem Foto in Erinnerung. Sie hatte keine Ähnlichkeit entdeckt.
Candan Aydin nickte. »Ja.« Sie betrachtete Josefine genauer. »Sie sind größer. Aber sehr ähnlich.«
»Das mag sein.« Kein Grund, direkt einen Streit zu beginnen. Sie stellte ihre Tasche auf dem Schreibtisch ab. »Dann können Sie sich vermutlich auch denken, warum ich hier bin.« Josefine bemerkte, wie distanziert, beinahe kühl sie klang, und konnte sich nicht erklären, warum sie so reagierte. Die junge Frau hatte sie sehr freundlich empfangen. Oder war es gerade diese Freundlichkeit, die ihr Misstrauen weckte?
»Sie möchten sich einen Überblick verschaffen, was wir hier so machen? Schließlich gehört die Agentur jetzt Ihnen«, entgegnete Candan Aydin und nahm ihren professionellen Tonfall auf.
»Richtig. Ich bin hier, um zu entscheiden, wie ich die Angelegenheit am besten abwickle.«
»Was meinen Sie mit abwickeln?« Ihr Gegenüber schaute sie mit aufgerissenen Augen an.
»Ich werde die Agentur vermutlich schließen.«
»Oh.« Candan Aydin hob die Hand an den Mund. Ihre Miene zeigte Enttäuschung. »Wie schade!«, platzte sie heraus. »Aber doch nicht sofort, oder? Wir befinden uns mitten in der Hauptsaison. Unsere Darstellerinnen und Darsteller sind nahezu ausgebucht.«
»Vielleicht verkaufe ich sie auch. Ich habe mich noch nicht entschieden«, ruderte Josefine zurück. Die junge Frau wirkte ehrlich betroffen, und Josefine ärgerte sich über sich selbst. Es war keine gute Idee, hier einfach hereinzuspazieren und der Angestellten zu verkünden, dass ihr Arbeitsplatz in naher Zukunft nicht mehr existieren würde. »Bitte entschuldigen Sie. Ich bin selbst von dem Erbe überrascht worden.« Sie lächelte und schaute sich nach einem zweiten Stuhl um, entdeckte aber keinen.
Candan Aydin verstand ihren Blick.
»Ich hole schnell einen Stuhl von hinten aus der Kammer«, sagte sie und klang erleichtert. »Dann zeige ich Ihnen, was wir hier so machen. Sie möchten sicherlich auch die Buchhaltung sehen?«
Josefine nickte.
»Es kann etwas dauern«, erklärte Candan Aydin entschuldigend und stand auf. »Wir lagern dort unsere Requisiten und Kostüme und haben nicht viel Platz.« Sie ging in den hinteren Bereich des Geschäfts und öffnete eine der beiden Türen, die dort waren. »Nehmen Sie solange gerne auf meinem Stuhl Platz.«
Josefine setzte sich. Sie hörte, wie im hinteren Raum Dinge verschoben wurden. Etwas fiel mit Gepolter um, ein unterdrückter Fluch ertönte. Eine Bewegung am Ladeneingang lenkte sie ab. Dort stand eine Frau in einem grünen Wams und grauen Filzhosen. Das gleiche Kostüm wie auf dem Foto, das Herr Kessler ihr gezeigt hatte. Sicherlich eine der Darstellerinnen. Josefine konnte sich nicht erinnern, das »Ho! Ho! Ho!« der Türglocke gehört zu haben.
»Hallo«, sagte Josefine. Die Frau beachtete sie nicht. Sie ging auf die Tür zu, hinter der Candan Aydin hörbar nach einem Stuhl suchte, und betrat den Lagerraum.
Nicht alle hier waren so höflich und kundenorientiert wie Candan Aydin. Eine halbe Minute später stand diese im Türrahmen und hielt triumphierend einen Klappstuhl in der Hand. Sie öffnete ihn mit Schwung, wischte mit der flachen Hand den Staub von der Sitzfläche und stellte ihn neben den Schreibtischstuhl.
»Ich zeige Ihnen gerne alles, was Sie sehen möchten.« Sie klatschte leise in die Hände. »Womit sollen wir anfangen?«
»Müssen Sie sich nicht erst um Ihre Kollegin kümmern?« Josefine wies mit dem Kinn auf die Tür zur Requisitenkammer.
»Welche Kollegin?« Candan Aydin drehte sich in Richtung der Tür, bevor sie wieder Josefine ansah.
»Die gerade gekommen ist. Eine Frau in einem Wichtelkostüm. Graue Hosen und so eine grüne Weste.« Josefine deutete das Kostüm mit ihren Händen an. »Lassen Sie die Mitarbeiter nicht irgendwas unterschreiben? Dass der Auftrag erledigt ist oder etwas in der Art?«
»Doch, selbstverständlich.« Candan Aydin deutete auf eine Ablage, in der ein kleiner Stapel Kopien lag. »Aber ich weiß nicht, welche Kollegin Sie meinen. Es ist niemand in die Kammer gekommen.«
Fünf Stunden später hatte Candan Aydin Josefine das Geschäftsmodell der Agentur erklärt und ihr die Zahlen der letzten Monate sowie die Abschlüsse der vergangenen sechs Jahre gezeigt. Alles sehr ordentlich und sorgfältig geführt und dank eines Computerprogramms flexibel abrufbar. In dieser Zeit hatte das Telefon nicht länger als fünf Minuten stillgestanden. Allerdings musste Candan Aydin mehr Leute vertrösten, als dass sie Zusagen machen konnte. Der Terminkalender der Leihnachtsmänner war voll.
»Ich könnte doppelt so viele Auftritte zusagen, wenn wir mehr Menschen hätten, die für uns arbeiten.«
»Wie viele sind es denn?«
»Fünfundzwanzig insgesamt. Natürlich alles Freie. Nur Bernhard Rösner und ich sind fest angestellt.«
»Wo ist Herr Rösner?«
»Er arbeitet von zu Hause aus. Er ist zuständig für die Einsatzpläne und betreut die Darsteller inhaltlich. Und als unser Vorzeigeweihnachtsmann ist er selbst entsprechend viel im Einsatz.«
»Das ganze Jahr über?«
»Nein, natürlich nicht. Aber er ist auch sehr überzeugend als Wikingerkönig und Piratenkapitän.«
»Wer mietet denn einen Wikingerkönig?«
»Auftritte auf Kindergeburtstagen sind sehr beliebt. Unsere Rauschgoldengel gehen auch super als Prinzessinnen und Prinzen.«
»Das kann ich mir vorstellen. Einfach nur Blinde Kuh spielen reicht heute nicht mehr aus.« Josefine erinnerte sich an die Geburtstagsfeiern ihrer Kinder. Eine Prinzessin oder ein Pirat als Extrabesucher wäre ihr sehr willkommen gewesen. Vor allem ihr, denn die hätten ihr ein paar Minuten Auszeit von dem Wahnsinn verschaffen können.
»Außerdem bespielen wir noch Firmenveranstaltungen und andere Events für Erwachsene. Wir haben sämtliche Figuren in männlicher und weiblicher Ausführung und sowohl für Kinder als auch für Erwachsene im Portfolio.«
Josefine hob fragend eine Braue.
»Knappe Kostüme, nackte Haut, anzügliche Sprüche. Die entsprechende Kundschaft steht auf so was. Jungesellinnen-Abschiede zum Beispiel.« Candan Aydins Magen knurrte laut. Sie legte beide Hände auf ihren Bauch. »Ich muss jetzt etwas essen. Was ist mit Ihnen? Haben Sie auch Hunger? Ich kann uns schnell etwas besorgen.« Sie stand auf. »Vegan? Vegetarisch? Fast Food? Was möchten Sie haben?«
Josefine sah auf ihre Uhr. »Haben Sie nicht längst Feierabend?«
»Ja. Eigentlich schon. Wir schließen das Büro normalerweise um sechs. Aber ich kann bleiben, kein Problem.«
»Würden Sie mir einen Schlüssel geben?« Josefine kam sich nach wie vor wie ein Eindringling vor.
»Natürlich. Bitte entschuldigen Sie, dass ich es vergessen habe. Sie sind meine neue Chefin.« Candan Aydin ging zu einem verschlossenen Aktenschrank, öffnete ihn und nahm einen Schlüsselbund aus einem Körbchen. Sie reichte ihn Josefine. »Das gehörte Beate. Der Schlüssel hier ist für die Agenturräume und dieser für ihre Wohnung oben.« Sie zeigte auf einen pinken Schlüssel. »Ich habe die Blumen gegossen und mich ein bisschen gekümmert. Sie können da auch übernachten, wenn Sie möchten.« Candan Aydins Miene drückte eine Mischung aus Trauer um Beate und Hilfsbereitschaft für Josefine aus. »Oder haben Sie ein Hotelzimmer?«
»Nein, ich … Wie dumm von mir …« Josefine verstummte. Sie hatte nichts reserviert. Nicht daran gedacht. Entgegen ihrer sonstigen Art hatte sie vor ihrer Abreise nichts geplant. Irgendwie war sie davon ausgegangen, noch am gleichen Abend wieder nach Hause zu fahren. »Danke.« Sie nahm den Bund und legte ihn neben die Computertastatur. Zwischen den beiden Schlüsseln, auf die Candan sie hingewiesen hatte, hing ein weiterer. Wie es aussah, der Haustürschlüssel. Auch ein hellgrüner Filzanhänger mit der Aufschrift »Schrottgewichtelt« und etwas, das aussah wie ein Igel in der Mauser, baumelten an dem Schlüsselring. »Wenn ich hier fertig bin, schließe ich ab.«
Candan Aydin zögerte kurz. Dann nickte sie. Sie ging zur Kammer und kam wenig später in Mantel, Schal und Mütze gehüllt wieder heraus.
»Meine Nummer steht dort auf der Liste.« Sie deutete auf ein Papier unter der transparenten Schreibtischunterlage. »Falls noch etwas ist. Ich bin morgen um neun wieder hier.«
Josefine sah ihr hinterher, dann rief sie die Webseite ihres Mailanbieters auf und loggte sich in ihr Konto ein. Die Mail von Christian war als einzige ungelesen.
Das Programm verlangte eine Bestätigung von ihr, dass sie die Mail geöffnet hatte. Josefine atmete bewusst langsam aus und setzte das Häkchen an der gewünschten Stelle. Was war das nun wieder für eine Schikane?
Die Antwort auf diese Frage gab ihr der Inhalt der Mail. Es fühlte sich befremdlich an, die Nachricht zu lesen, obwohl sie nicht unerwartet kam. Aber die Worte zu sehen und zu begreifen, was sie bedeuteten, schmerzte trotzdem. »Scheidung«, stand da. Flankiert von Terminen, Fristen, Ankündigungen und Rechtsbelehrungen. Sie sollte Papiere einreichen. Alles müsse über einen Anwalt laufen, und sie möge doch bitte kooperativ sein, damit man sich einvernehmlich trennen und so eine Menge Geld sparen könne.
Josefine starrte auf den Bildschirm. Mehr als dreißig Jahre ihres Lebens. Ein langes Kapitel. Vorbei.