8

Das Handy auf dem Tisch neben Josefine zeigte acht Uhr fünfzig an, als sie erwachte. Sie blinzelte, legte den Arm über die Augen und stöhnte. Wieso dröhnte ihr Schädel so? Weshalb schmerzte ihre rechte Schulter? Warum stand ihr Bett schief? Sie lauschte. Die Geräusche, die von draußen zu ihr hereindrangen, klangen ungewohnt. Ein Motor verstummte, eine Autotür schlug, und eine Männerstimme rief etwas, das sie nicht verstand. Bekam sie eine Lieferung? Hatte sie denn überhaupt etwas bestellt? Dann fiel es ihr wieder ein, und sie setzte sich aufrecht hin. Sie lag nicht in ihrem Bett in ihrem Haus. Sie lag auf dem durchgesessenen Sofa ihrer verstorbenen Schwester in deren Wohnung. Vor ihr auf dem Tisch stand eine leere Weinflasche, daneben eine immerhin noch zu drei Viertel volle Ginflasche. Das erklärte einiges. Josefine ließ sich nach hinten gegen die Lehne fallen und schloss erneut die Augen. Definitiv zu viel Alkohol. Viel zu viel. Sie war das Trinken nicht gewohnt, genoss eher mal ein oder zwei Gläschen Wein zu einem schönen Abendessen in geselliger Runde. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals allein zu viel getrunken zu haben.

Und wie sie jetzt wusste, bekam ihr das auch ganz und gar nicht. Sie hatte mit ihrer toten Schwester geredet, diskutiert und gestritten, als wäre sie wirklich da. Erschreckend realistisch hatte sich das angefühlt. Beate hatte vor ihr gestanden. Zuerst als Rauschgoldengel, dann in einem ausgesprochen hässlichen Weihnachtspullover. Was sagte das über sie aus, wenn sie solche Scheußlichkeiten herbeihalluzinierte? Oder war es ein Traum gewesen? Wenn ja, dann ein Alptraum. Am Ende hatte sie Beate versprochen, in Titzelsee zu bleiben, bis sie herausgefunden hätten, wer Beate umgebracht hatte. Josefine lächelte mit geschlossenen Augen. Das war wieder typisch für sie. Selbst im Wahn noch hilfsbereit.

»Na? Endlich ausgeschlafen? Wurde auch langsam Zeit. Wenn du nicht aus dem Quark kommst, fangen wir meinen Mörder nie.«

Josefine riss die Augen auf. Vor ihr stand ihre Schwester Beate. Diesmal trug sie ein kurzes Kleid mit grünem Glockenrock, rotem Oberteil und breitem goldenen Gürtel. Der große Kragen strahlte im gleichen Grün wie der Rock, auf Strumpfhose und Shirt ringelten sich rote und weiße Streifen um Arme und Beine. Eine kleine goldene Glocke hing ihr samt der rot-grünen Mützenspitze, an der sie befestigt war, in die Stirn. Josefine öffnete den Mund, starrte sie fassungslos an.

»Ja, ja. Ich weiß. Das Kleid ist etwas eng.« Beate zerrte am Gürtel herum und zupfte das Oberteil des Kleides zurecht. »Ich fühle mich ein wenig wie zu viel Leberwurst in zu wenig Pelle, aber das war es, was ich heute Morgen geschafft habe. Die Alternative wäre ein braunes Rentierkostüm gewesen. Mit Geweih.« Sie drehte sich einmal um sich selbst und betrachtete zufrieden den schwingenden Rock. Aber das geht doch zur Not, oder? Was meinst du?«

Josefine nickte stumm. Alptraum. Sie blinzelte in Richtung der Schnapsflasche. Nie wieder.

»Was bist du? Berufstrinkerin?« Beate war ihrem Blick gefolgt. »Kommt gar nicht in Frage. Oder glaubst du, am Ende ergibt alles einen Gin?« Sie lachte kurz auf und klatschte dann in die Hände. »Los! Auf, auf. Frisch ans Tagwerk. Wie sind deine Pläne? Was hast du dir überlegt?« Sie wippte von den Fersen auf die Zehenspitzen und zurück.

Langsam, um Zeit zu gewinnen, schlug Josefine die Decke zur Seite und schob ihre Beine vom Sofa. Sie stöhnte. Jetzt spürte sie nicht nur ihre Schultern, sondern auch ihre Hüften und den Nacken. Sie stützte ihren Kopf in beide Hände, rieb sich die Augen. Als sie sie wieder öffnete, schaute Beate sie weiterhin erwartungsvoll an.

»Du bist kein Traum. Du bist echt.«

»Abgesehen davon, dass ich tatsächlich in vielerlei Hinsicht ein echter Traum bin – so weit waren wir doch gestern Abend schon: Ich bin ein Geist, du siehst mich, und wir sind wirklich Schwestern. Du hast versprochen, mir zu helfen, meinen Mordfall aufzuklären.« Beate stemmte die Hände in die Hüften und blickte sich im Wohnzimmer um. »Außerdem hast du mir versprochen, die Bude hier aufzuräumen. Ich bin dummerweise nicht mehr dazu gekommen.«

»Nein. Das mit dem Aufräumen hab ich ganz sicher nicht gesagt.«

»War ein Versuch.« Beate zuckte mit den Schultern. »Aber jetzt hübsch dich auf und ran an den Tag.«

»Ich war nicht auf einen längeren Aufenthalt vorbereitet.« Josefine sah an sich herunter. Sie hatte in dem T-Shirt geschlafen, das sie gestern Morgen als Unterhemd angezogen hatte.

»Fühl dich frei und bediene dich an meinem Kleiderschrank. Was mir an deiner Länge fehlt, gleiche ich durch Umfang wieder aus. Irgendetwas Passendes wird sich finden lassen. Ich habe ein paar hübsche bunte Kleider. Die könntest du ausprobieren.«

Eine halbe Stunde später stand Josefine frisch geduscht und angezogen in der Küche. Nach langem Wühlen in pinken, gelben, türkis- und lilafarbenen Oberteilen und Hosen, deren luftig weite Beinschnitte an jeden Strand, aber weniger ins winterliche Titzelsee passten, hatte sie schließlich eine dunkelblaue Cordhose und einen hellblauen Rollkragenpullover aus den Stapeln gezogen. Klamotten, die an ihr ganz vernünftig saßen und in denen sie sich halbwegs wohlfühlte. Beate hatte sie zwar umgehend informiert, dass sie in dieser Kombi aussah wie die Chefsekretärin vom Dienst, aber genau das war ihre Absicht. Ordentlich und seriös. Auch wenn die Hose ein wenig zu kurz und der Pulli zu weit war. Damit würde sie leben müssen, wollte sie nicht in die verschwitzten Sachen von gestern steigen.

»Beate hatte fast den gleichen Pulli.« Candan Aydin hielt eine Hand über den Hörer, als Josefine die Agentur betrat, lächelte ihr freundlich zu und widmete sich wieder dem Telefonat. »Selbstverständlich. Gerne. Ja, das klappt. Ein Weihnachtsmann plus zwei Helferwichtel. Siebzehn Uhr. Hintereingang der Firma. Die drei können unkostümiert erscheinen, damit die Überraschung zur Firmenfeier auch gelingt. Kein Problem. Ich habe alles notiert. Ihre Daten liegen mir vor. Die Rechnung wie im letzten Jahr an die Firma.« Zwischen den einzelnen Sätzen nickte sie, als könnte ihr telefonisches Gegenüber sie sehen und nicht nur hören. Dann beendete sie das Gespräch. »Bald habe ich keine freien Termine mehr«, sagte sie halb zu ihrem Bildschirm und halb an Josefine gewandt.

»Das ist Beates Pulli«, erwiderte Josefine. »Sie war so nett und hat mir …« Sie unterbrach sich. »Ich war so frei und habe mir etwas geliehen.«

»Heißt das, Sie werden bleiben?« Josefine hörte die Hoffnung in Candan Aydins Stimme.

»Erst einmal.«

»Bis wir meinen Mörder gefangen haben.« Beate stand mit einem Mal neben Josefine. »Sag ihr das.«

»Nein, das werde ich nicht«, zischte Josefine zwischen den Zähnen hindurch in Beates Richtung.

»Also Sie bleiben nicht?« Candan Aydin wirkte verunsichert. Sie blickte zu Beate.

»Sieht sie mich?« Beate beugte sich vor, bis ihre Nase beinahe die ihrer Angestellten berührte.

»Nein. Sie wundert sich nur, wohin ich schaue.« Josefine hob beide Hände an die Ohren. »Sei still«, sagte sie in Beates Richtung.

Candan Aydin hob die Augenbrauen.

»Nicht Sie.«

»Alles in Ordnung?«

»Ja. Danke.« Josefine holte tief Luft, atmete langsam wieder aus. »Ich habe kaum geschlafen. Bitte entschuldigen Sie. Ich werde ein paar Tage bleiben …«

»Sag ich doch«, warf Beate ein. Josefine gelang es nur mit Mühe, sie zu ignorieren.

»Es gibt einige Fragen zu klären«, fuhr sie fort und konzentrierte sich auf Beates Mitarbeiterin. Das Telefon klingelte erneut. Candan Aydin warf Josefine einen entschuldigenden Blick zu und nahm den Hörer ab.

»Ho! Ho! Ho! Die Leihnachtsmänner – was dürfen wir Ihnen bescheren?« Wieder hörte man das Lächeln in ihrer Stimme. »Ah, hallo.« Das Lächeln verschwand und machte einem Tonfall des Bedauerns Platz. »Nein, wie ärgerlich.« Lauschen, heftiges Kopfnicken. »Aber ich bin allein hier und kann nicht … nein, warte.« Sie nahm den Hörer vom Ohr und wandte sich an Josefine. »Das ist Bernhard. Er hat einen Platten am Wagen und müsste abgeholt werden. Könnten Sie das übernehmen?«

»Ich bin mit der Bahn angereist.«

»Kein Problem. Sie können mit Beates Auto fahren. Es steht im Hof. Der Schlüssel liegt hier.« Sie zeigte auf ihre Schreibtischschublade und hob den Hörer wieder hoch. »Alles geregelt, Berni, unsere neue Chefin kommt dich abholen. Bis gleich.« Sie beendete das Gespräch.

Josefine starrte sie an. Da war jetzt in sehr kurzer Zeit eine ganze Menge über ihren Kopf hinweggetrampelt wie eine Herde wild gewordener Rentiere. Erst hatte Candan Aydin sie als ihre neue Chefin bezeichnet, was sie definitiv nicht war. Denn das würde ja bedeuten, dass sie ins Leihnachtsmänner-Geschäft einsteigen und es nicht abwickeln würde. Da gab es eindeutig Klärungsbedarf. Außerdem hatte sie in ihrem Namen etwas zugesagt, ohne es mit ihr abzusprechen – was wiederum den ersten Punkt verkomplizierte. Und schließlich, und das war der entscheidende Punkt, hatte sie gerade gesagt, dass sie mit Beates Auto fahren und jemanden abholen sollte. Was das betraf, konnte sie der jungen Frau allerdings kaum einen Vorwurf machen, denn die ging natürlich davon aus, dass sie dazu in der Lage war. In der Theorie stimmte das auch. In der Praxis nicht. Weil sie zwar einen gültigen Führerschein besaß, aber seit fast acht Jahren nicht mehr selbst gefahren war. Nicht mit Absicht. Das Ganze war eher ein schleichender Prozess gewesen. Ihren uralten, aber sehr praktischen Kastenwagen hatte sie Lea bei deren Umzug in ihre Unistadt überlassen. Eigentlich mit der Absicht, sich ein neues Auto zuzulegen. Stattdessen hatte sie ein E-Bike samt kleinem Lastenanhänger gekauft und kurvte seitdem damit durch die Stadt. Bei den überschaubaren Entfernungen brauchte sie kein Auto, und dank des guten Nahverkehrs galt das bei jedem Wetter. Wenn sie und Christian gemeinsam gefahren waren, hatte immer Christian am Steuer gesessen, schon weil es ja sein Auto und damit unantastbar war. Sie hatte nichts vermisst. Ganz im Gegenteil. Das viele Radfahren hielt sie fit, und für ihr Umweltgewissen konnte sie einen Pluspunkt verbuchen.

Candan Aydin zog mit Schwung die Schublade auf, nahm den Schlüssel und reichte ihn Josefine. Auf dem Filzanhänger in ursprünglich schreiendem, aber durch lange Nutzung angeschmuddeltem Türkis stand: »Merk dir, wo das Auto steht!«

»Der Wagen parkt hinten im Hof. Die Einfahrt ist etwas eng, und man muss zirkeln, aber es geht.« Sie zog eine Haftnotiz vom Block, notierte etwas darauf und klebte ihn in Leserichtung zu Josefine an den Rand ihres Schreibtischs. »Das ist Bernis Adresse. Der Wagen hat ein Navigationssystem. Meinen Sie, Sie kommen klar, oder soll ich Ihnen helfen?«

Das Telefon klingelte, Candan Aydin hielt die Hand darüber, ohne abzuheben, und schaute Josefine fragend an.

»Oh ja, fein. Ein Ausflug.« Beate klatschte hinter ihr in die Hände. Josefine zuckte zusammen. »Wir gehen Berni abholen. Vielleicht kann er mich ja sehen.«

Das Telefon klingelte wieder. Jetzt blinkte auch ein zweites Lämpchen an der Anlage. Josefine nahm das Post-it, griff nach ihrer Jacke und ging zur Eingangstür. Es war wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Entweder blieb sie hier und hielt Stallwache, was durch das brummende Geschäft eine anspruchsvolle Aufgabe wäre, oder sie stellte sich der Herausforderung einer Autofahrt. Das Einzige, was für die Cholera, also die Autofahrt sprach, war die Aussicht, für ein paar Minuten Ruhe vor Beate zu haben. Geister waren doch ans Haus gebunden, wenn sie sich nicht irrte.

»Nein. Du musst zuerst den Ort eingeben und dann den Straßennamen.« Beate fuchtelte mit den Fingern ihrer ausgestreckten Rechten vor dem Display des Navigationssystems herum. Gut. Vielleicht galt die Bindung ja an Haus und Hof, also an das Grundstück und nicht an die Mauern des Gebäudes. Josefine gab die Hoffnung nicht auf. Sie würde es herausfinden, sobald sie das Navi besiegt hatte und es ihr gelungen war, den Wagen zu starten und heil aus dem Hof zu bugsieren. Noch saß Beate quietschfidel neben ihr auf dem Beifahrersitz. Wobei sitzen der falsche Ausdruck war. Sie schwebte eher. Ohne den Sitz zu berühren, thronte sie mit übereinandergeschlagenen Beinen neben ihr. »Du kannst es aber auch lassen, und ich erkläre dir den Weg.«

Josefine tippte Titzelsee ein und versuchte, den Straßennamen zu entziffern. So aufgeräumt und organisiert Candan Aydin auch war, ihre Handschrift erinnerte an einen Haufen Ameisen, die sich nicht einigen konnten, in welche Richtung sie laufen wollten. Lautete die Adresse wirklich »Im Sackgrund«?

»Ja, das ist richtig«, sagte Beate und verdrehte die Augen, nachdem Josefine erfolglos mehrere alternative Varianten, die ihr glaubhafter erschienen, ausprobiert hatte. »Lass uns endlich losfahren. Worauf wartest du noch?«

Josefine sah sich um. Das fehlte noch. Nicht nur, dass sie seit acht Jahren nicht mehr hinter dem Steuer gesessen hatte. Ihr Auto, also der von Lea okkupierte Wagen, war ein Automatik gewesen. Dieser hier hatte ein Schaltgetriebe. Sie schloss die Augen, atmete tief ein und wieder aus und versuchte, sich zu erinnern. Das war doch wie Radfahren oder Schwimmen. Das verlernte man nicht.

»Meditierst du vor deinen Autofahrten, oder was wird das?« Beate wurde zusehends ungeduldiger. Josefine drehte den Zündschlüssel. Der Wagen machte einen Satz nach vorne und katapultierte Beate durch die Rückenlehne auf die Rückbank.

»Entschuldigung.« Josefine merkte, wie sich der Schweiß unter ihren Armen sammelte. »Ich bin lange nicht mehr gefahren.«

»Lange nicht mehr oder noch nie?« Beate glitt wieder nach vorne und bedachte sie mit einem strafenden Blick.

Josefine trat die Kupplung, drehte den Schlüssel erneut im Zündschloss und hörte erleichtert, wie der Motor ansprang. Das wäre geschafft.

»Rückwärtsgang rein, Kupplung langsam kommen lassen«, befahl Beate. Josefine schnaubte genervt, tat aber, wie ihr geheißen. Auf der einen Seite hatte sie keine Lust, sich von Beate herumkommandieren zu lassen, auf der anderen Seite war sie nun aber doch froh über die Unterstützung. Also alles in allem ein ganz normales Kleine-Schwester-große-Schwester-Ding. Mit dem Fuß auf der Kupplung gab sie Gas, der Motor heulte auf.

»Runter vom Gas! Da ist eine Wand!« Beate schrie und suchte Halt mit den Händen, was eher aussah, als ruderte sie durch die Armaturen.

»Reg dich nicht so auf. Du bist doch schon tot.« Trotzdem zog Josefine den Fuß zurück, setzte erneut und diesmal mit mehr Gefühl an, ließ die Kupplung schleifend kommen. Der Wagen rollte langsam vorwärts. Na also. Ging doch. Gelernt war gelernt. Es brauchte nur ein wenig Auffrischung.

Nach mehrfachem Hin und Her – »Du musst nach links einschlagen, nach lihinks!« – und Vor und Zurück – »Ich kann durch Wände gehen, das Auto kann das nicht!« – und zweimaligem Abwürgen des Motors – »Wenn du das noch öfter machst, folgt mein Auto mir bald in die Geisterwelt« – hatten sie es bis zur Ausfahrt des Hofes und auf die Straße geschafft. Langsam fuhr Josefine an, bremste sofort wieder, weil die Frontscheibe beschlug, und drückte den Knopf für die Lüftung. Nichts geschah.

»Ist kaputt. Ich wollte es reparieren lassen, bevor der Winter kommt, aber mir ist etwas dazwischengekommen.« Beate hob bedauernd die Schultern. Josefine beugte sich zum Handschuhfach hinüber und öffnete es in der Hoffnung, dort etwas zu finden, womit sie die Scheibe freibekommen konnte. Ein einzelner gestrickter, oranger Fäustling purzelte ihr entgegen. Sie nahm ihn und wischte großzügig von links nach rechts und zurück, wobei der Handschuh eine Spur oranger Flusen auf der Scheibe hinterließ. Aber immerhin konnte sie jetzt etwas sehen, was bei ihrer ungeübten Fahrweise sicherlich von Vorteil war. Schweigend setzte sie die Fahrt fort. An der ersten roten Ampel wandte sie den Kopf zur Seite und betrachtete ihre Schwester, die neben ihr über dem Beifahrersitz schwebte.

»Was? Warum guckst du so?«

»Du bist noch da.«

»Ja. Und das ist auch gut so. Dich mit meinem Auto allein zu lassen, wäre der reine Wahnsinn.«

»Das meinte ich nicht.«

»Sondern? Willst du mich nicht dabeihaben?« Beate verschränkte die Arme vor der Brust. »Na, das ist ja super. Dass du ohne meine Hilfe das Auto überhaupt aufgeschlossen bekommen hast, grenzt doch schon an ein Wunder.«

»Nein. Nein. Ich dachte, du kannst das Grundstück nicht verlassen.«

»Hast du dich deswegen hierauf eingelassen? Um mich loszuwerden?«

»Weißt du, was du kannst?«

»Dich mal, oder wie? So langsam ist aber gut. Ich helfe dir, und du bist so –«

»Deine Regeln. Ich meine deine Regeln.« Die Ampel wurde grün. Josefine umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad und beugte sich weit vor. Sie fuhr Schritttempo. In einer Dreißigerzone. Hinter ihnen bildete sich eine Schlange. »Du bist tot. Ein Geist. Du kannst nichts anfassen, durch Dinge gehen und dich durch Gedankenkraft umziehen. Du schwebst über dem Sitz. Was ich wissen will, ist, ob du weißt, was du kannst und was nicht. Dich außerhalb deines Hauses zu bewegen beziehungsweise abseits des Ortes, an dem du gestorben bist, funktioniert augenscheinlich, obwohl man immer liest, dass Geister an einen Ort gebunden sind.«

»Ach, papperlapapp. Geister. Das sind doch alles Märchen, die erfunden wurden, um Kindern Angst zu machen. Natürlich weiß ich, was ich kann: nichts anfassen, durch Dinge gehen, mich durch Gedankenkraft umziehen, über dem Sitz schweben und mein Haus verlassen.«

»Was noch?«

»Wie, was noch?«

»Das sind alles Punkte, die du mit der Zeit gelernt hast, weil du sie tun wolltest und getan hast. Was ist mit den Dingen, die du noch nicht getan hast, weil es noch nicht notwendig war?« Josefine zeigte einem wild hupenden Autofahrer, der sie gerade überholte, einen Vogel. »Gedankenlesen zum Beispiel. Kannst du Gedanken lesen?«

»Nein. Kann ich nicht.«

»Und das weißt du einfach so, ohne es ausprobiert zu haben?«

»Seit etwa zweihundert Metern gilt hier fünfzig. Du darfst ruhig ein wenig mehr aufs Gas drücken, meine Liebe«, flötete Beate und winkte dem nächsten überholenden Autofahrer freundlich zu, spreizte dann die Finger ihrer Hand und klappte vier davon ein, sodass nur der mittlere stehen blieb. Josefines Frage ignorierte sie geflissentlich.

»Hast du etwa versucht, meine Gedanken zu lesen? Schon mal etwas von Privatsphäre gehört?«

»Vielleicht. Da hinten ist es übrigens.« Beate zeigte auf einen roten Sportwagen, der in einiger Entfernung am Straßenrand parkte. Ein weißbärtiger Mann stand daneben und trat gerade mit voller Wucht gegen den Reifen. Ohne ihn zu hören, konnte sich Josefine bildhaft vorstellen, welche Flüche er gerade ausstieß. Er hatte Beates Wagen noch nicht entdeckt und tobte. Sogar ein junger vorbeigehender Mann auf dem Bürgersteig schien eingeschüchtert und beeilte sich, da wegzukommen.

»Darf ich vorstellen«, Beate hob sich noch weiter aus dem Sitz und beugte sich leicht nach vorne: »Bernhard Rösner. Unser Ober-Leihnachtsmann.«