Die Rückfahrt zur Agentur ging schneller vonstatten. Das lag zum einen daran, dass Josefine sich mit jedem Meter sicherer fühlte. Zum anderen saß nun Bernhard Rösner neben ihr auf dem Beifahrersitz. Ein Mensch mit einem Körper aus Fleisch und Blut, der physikalischen Gesetzen unterlag. Zumal Bernhard Rösner mit sehr viel Körper aufwarten konnte. Obwohl er als Erstes den Beifahrersitz nach hinten geschoben hatte, berührten seine Knie das Handschuhfach. Die schlohweißen Haare stießen an das Wagendach, und sein Bart bauschte sich vom Kinn hinab bis zur Mitte des stattlichen Bauches. Den fröhlichen Falten nach, die sein Gesicht überzogen, schätzte Josefine ihn auf Ende sechzig, Anfang siebzig. Insgesamt übte er, wie Josefine erstaunt feststellte, eine ungeheuer beruhigende Wirkung auf sie aus. Wenn sie zudem noch den Blick in den Rückspiegel vermied, um nicht sehen zu müssen, wie ihre Schwester über Rücksitz und Ladefläche mäanderte, ab und an ihre Beine hinten durch die Heckklappe und ihren Kopf durch das geschlossene Seitenfenster streckte oder wie ein Cabriosurfer mit ausgestreckten Armen und jauchzend aus dem Wagendach ragte, dann ging es. Wobei schneller nicht schnell bedeutete. Aber immerhin zuckelte sie jetzt nicht mehr mit Tempo zwanzig, wo sie fünfzig fahren durfte, durch die Straßen, sondern blieb immer nur knapp zehn Stundenkilometer unter der erlaubten Geschwindigkeit. Noch zwei, drei Fahrten mehr, und sie würde wieder wie früher fahren.
»Sie sind also Beates Schwester«, unterbrach Bernhard Rösner ihre Konzentration. »Wer hätte das gedacht.«
Josefine musterte ihn kurz.
»Und Sie sind der oberste Leihnachtsmann, wenn man so will«, entgegnete sie. Ihm jetzt die verwandtschaftlichen Zusammenhänge zu erklären, würde ihre Fahrkünste überfordern. Außerdem wollte sie ihn erst einmal einschätzen können, bevor sie mit privaten Details bei ihm hausieren ging.
»In der Not ist der Einäugige König«, entgegnete er. Josefine warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. Sie hatte gerade beschlossen, ihn nicht auf seinen Fehler aufmerksam zu machen, als er dröhnend loslachte. Er zwinkerte ihr zu und rieb sich über die Beine.
Josefine lächelte gezwungen. Sprichwörter verdrehen war nicht gerade ihre Art von Humor.
»Wie kommt man auf die Idee, das zu machen?«
»Wenn man so aussieht wie ich«, er machte eine kleine Pause, deutete in einer Bewegung von seinen Haaren bis zu seinem Bauch, »dann kommt man als Elf nicht ganz so glaubhaft rüber.« Er lachte wieder. Diesmal klopfte er sich auf die Schenkel.
Josefine fokussierte einen Wagen, der sich von rechts der Kreuzung näherte, auf die sie gerade zurollte.
»Was haben Sie vorher gemacht?« Sie bremste zehn Meter vor der Kreuzung. »Also vor den Leihnachtsmännern?«
»Ich hatte einen Kiosk. Das wurde aber mit zunehmendem Alter immer anstrengender. Da habe ich etwas gesucht, was mir Spaß machte und bei dem ich mich auf die Dinge konzentrieren konnte, die mir wirklich etwas bringen.«
»Die Begegnung mit Menschen?« Josefine beschleunigte, nachdem ihr klar wurde, dass sie Vorfahrt hatte.
»So kann man das auch ausdrücken. Ja.« Er wandte ihr den Kopf zu. »Mit netten Menschen wie Ihnen. Auf jeden Fall muss ich mich bedanken, dass Sie in den Wagen gestiegen sind und mich abgeholt haben. Oder wie ich immer sage: Besser ein Ende mit Schrecken als Arm ab.«
»Auf die Minute pünktlich«, sagte Candan Aydin, als sie um kurz vor elf die Agentur betraten. Sie reckte sich zur Türglocke hoch, schob einen Schalter nach links. Das »Ho! Ho! Ho!« erklang. Sie schüttelte den Kopf. »Ich lerne es nie«, sagte sie lachend und schob den Schalter in die andere Richtung. »Jetzt haben wir Ruhe und können gleich anfangen.«
»Womit anfangen?«
»Mit unserer Teamsitzung. Eigentlich wäre die erst Anfang nächster Woche dran gewesen, aber da nicht klar ist, wie lange Sie bleiben, habe ich sie vorgezogen. Ich dachte, dann können wir alles Wichtige besprechen und außerdem Ihre Fragen beantworten. Bärbel müsste auch jeden Moment hier sein.« Sie wies einladend auf einen kleinen Tisch, auf dem neben vier Tassen jeweils ein Block mit Kugelschreiber und in der Mitte ein Teller mit Keksen stand. Erst jetzt bemerkte Josefine den durchdringenden Kaffeeduft im Raum.
»Bärbel?« Den Namen hatte Josefine bereits gehört, aber vergessen, in welchem Zusammenhang. Sie wusste nicht genau, was sie von der Situation halten sollte. Auf der einen Seite schätzte sie Menschen, die die Initiative ergriffen, Dinge in die Hand nahmen und gut organisierten. Und das tat Candan Aydin ohne Zweifel. Andererseits wurde sie damit erneut vor vollendete Tatsachen gestellt, ohne ein einziges Wörtchen mitreden zu können. Das gefiel ihr ganz und gar nicht.
»Hach, Cancan ist ein Schatz.« Beate strahlte. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne sie machen würde. Zahlen sind wie eine Fremdsprache für mich, die ich weder verstehe noch sprechen kann. Und der ganze Orgakram erst.
»Bärbel Rosenbusch. Unsere Märchenerzählerin.«
»Sie ist aber keine Festangestellte?«
Candan Aydin und Bernhard Rösner wechselten einen schnellen Blick. Candan Aydin schob kurz das Kinn vor. »Nein. Sie ist eine freie Mitarbeiterin. Aber sie war eine sehr gute Freundin von Beate.«
»Ja. Und?« Josefine hob fragend eine Augenbraue.
»Nichts und«, brummte Bernhard Rösner. »Bärbel hat keine Festanstellung, aber ohne sie wäre der Laden hier sicher nicht so rundgelaufen.«
Die Frau, die in diesem Moment die Agentur betrat, war Josefine auf Anhieb sympathisch. Sie strahlte eine ruhige Freundlichkeit aus, die den Raum füllte. Unaufgeregt zog sie ihren Mantel aus und hängte ihn auf, begrüßte Candan Aydin und Bernhard Rösner und blieb dann vor Josefine stehen.
»Sie sehen Ihrer Schwester sehr ähnlich«, sagte sie in einer Mischung aus Freude und Trauer und streckte ihre Hand aus. »Mein Beileid.«
Josefine ergriff die Hand. Sie fühlte sich warm und kräftig an. Beate war dicht neben Bärbel Rosenbusch getreten. Sie hob die Hand, versuchte, sie zu berühren. Es sah aus, als wollte sie ihr über die Wange streichen. Als es ihr nicht gelang, wandte sie sich frustriert ab und verschwand in der Requisitenkammer.
»Danke. Auch Ihnen mein Beileid«, erwiderte Josefine. Diese Frau hatte als enge Freundin ihrer Schwester mehr Grund zu trauern als sie, die diesen Menschen gar nicht gekannt hatte.
»Wollen wir dann mal loslegen?« Candan Aydin ging zum Besprechungstisch, zog einen der vier Stühle hervor und setzte sich. »Es gibt einige Punkte, die wir klären müssen. Unsere Auftragsbücher sind voll, und ich könnte noch mehr annehmen, wenn wir mehr Leute hätten.«
Josefine trat ebenfalls an den Tisch, blieb aber zunächst stehen und wartete, bis Bernhard Rösner und Bärbel Rosenbusch Platz genommen hatten. Erst dann setzte sie sich und ergriff sofort das Wort.
»Ich wusste nicht, dass Frau Aydin so freundlich war, Sie beide heute Morgen hierherzubestellen. Deswegen bin ich leider nicht vorbereitet. Aber es ist sicherlich sinnvoll, wenn ich Sie kurz darüber informiere, wie meine Pläne für das weitere Vorgehen mit der Agentur sind. Wie Frau Aydin gerade sagte, gibt es ja eine Menge zu tun.«
»Machen Sie sich mal keine Sorgen, Frau Jeschiechek.« Bernhard Rösner strich sich in einer Bewegung über Bart und Bauch. »Wir haben das gut im Griff. Candan macht die Organisation und die Finanzen, ich koordiniere die Darsteller, und Bärbel steht uns mit gutem Rat zur Seite. Alles wie gehabt. Die Agentur ist bestens aufgestellt.«
»Was ist die Aufgabe meiner Schwester?« Josefine schaute in die Runde. Dann ergänzte sie rasch: »Gewesen. Was ist ihre Aufgabe gewesen?«
»Beate war immer eher für den kreativen Teil zuständig. Sie kümmerte sich um die Kostüme, ließ sich Texte einfallen und solche Sachen.« Bernhard Rösner rückte seinen Stuhl zurecht und wischte mit der flachen Hand einen imaginären Krümel von seinem Brustkorb. Josefine betrachtete ihn nachdenklich, bevor sie sich an Candan Aydin wandte.
»Inwieweit hatte meine Schwester mit den Finanzen zu tun?«
»Sie wusste über alles Bescheid. Ich habe ihr immer alle Zahlen vorgelegt«, erklärte Candan Aydin eifrig. »Und natürlich erklärt.«
Josefine nickte. Das passte in das Bild, das sie so langsam von ihrer Schwester bekam. Sie überlegte, wie sie den nächsten Satz am besten formulieren sollte. »Beate hat sich also bei der Leitung der Agentur vollkommen auf Ihre Zuarbeit verlassen können?«
»Richtig.« Bernhard Rösner beugte sich vor, öffnete den Mund, sprach aber nicht weiter. Er schloss den Mund wieder und presste die Lippen aufeinander.
»Dafür bedanke ich mich bei Ihnen dreien sehr herzlich. Ich bin sicher, dass Ihre Zusammenarbeit mit Beate sehr gut war und Sie Beate in vielen Punkten unterstützt haben, damit hier alles glattlief.« Josefine blickte jedem Einzelnen kurz in die Augen. Dann schob sie ihren Stuhl zurück, stand auf und ging ein paar Schritte. Niemand sagte etwas. »Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein. Als ich von meinem Erbe erfuhr, war mein erster Gedanke: ›Verkauf den ganzen Laden möglichst schnell.‹ Jetzt, wo ich hier bin und um einiges mehr weiß, hat sich das geändert. Ich habe mich noch nicht entschieden, was auf lange Sicht mit der Agentur passieren wird. Gestern konnte ich ja schon einen Blick auf die Zahlen werfen, und die sind, genau wie die Auftragsbücher, erfreulich. Insofern werde ich hier auf keinen Fall einfach morgen die Tür zuschließen. Die Weihnachtssaison ist gesichert. Danach sehen wir weiter. Ein Verkauf ist in meinen Augen auch weiterhin eine Option. Es kommt darauf an, wie es sich entwickelt. Vorerst jedenfalls sind Ihre Jobs gesichert, und ich bleibe für eine Weile hier.« Dass dabei ihr Versprechen an Beate, deren Mörder zu finden, eine nicht unerhebliche Rolle spielte, behielt sie lieber für sich. »Ich möchte mich gerne noch tiefer in die Materie einarbeiten, herausfinden, was jeder Einzelne von Ihnen macht und wie das Geschäft im Detail funktioniert. Diese Kenntnis brauche ich in jedem Fall für meine Entscheidung.« Sie setzte sich wieder zu den anderen. »Allerdings bin ich weniger der kreative Typ. Bunte Kostüme sind nicht meine Stärke. Eher schwarze Zahlen.« Sie lächelte in die Runde. »Wir werden die Aufgaben also etwas anders verteilen müssen. Vielleicht haben Sie Ideen oder Vorschläge?«
Schweigen.
Candan Aydin sah sie erwartungsvoll an, trank einen Schluck Kaffee, goss sich aus der Thermoskanne nach und kaute auf ihren Wangen herum.
Bernhard Rösner knetete seine Hände, die er vor sich auf dem Tisch gefaltet hatte, und zog an seinen Fingern, bis sie knackten.
Bärbel Rosenbusch betrachtete Josefine, wie eine stolze Mutter ihr Kind ansieht. Ihre Mundwinkel umspielte ein Lächeln, dann schaute sie von Bernhard Rösner zu Candan Aydin und wieder zu Josefine. Sie war diejenige, die schließlich das Schweigen brach.
»Bisher waren wir es alle gewohnt, sehr selbstständig zu arbeiten. Beate hat uns große Freiheiten gelassen. Sie scheinen mehr Wert auf …«, sie suchte nach einem passenden Wort, »… mehr Wert auf den Gesamtüberblick zu legen.«
Bernhard Rösner schnaubte. Er entknotete seine Finger. »Sagen wir es doch, wie es ist. Sie möchten die Kontrolle haben.«
Josefine hielt seinem Blick stand. Wenn sie die Situation und ihn richtig einschätzte, war er mit der Entwicklung der Dinge nicht glücklich. Sie fragte sich, weshalb. Gefielen ihm Veränderungen grundsätzlich nicht, oder hatte er Schwierigkeiten damit, sich von einer Frau etwas sagen zu lassen? Vielleicht eher Letzteres. Sein Alter und die ehemalige Selbstständigkeit wären dafür eine mögliche Erklärung, wenn auch keine Entschuldigung. Aber er war ein Weihnachtsmann-Darsteller wie aus dem Bilderbuch. So jemanden im Team zu haben, war sicherlich eine sehr gute Sache – so jemanden schon bei der ersten Begegnung zu verärgern, keine gute Idee.
»Keine Kontrolle. Einblick.« Sie lächelte ihn an. »Jemand mit Ihrer Erfahrung braucht sicherlich keinen Laien, der ihm sagt, wo es langgeht. Aber Sie verstehen bestimmt auch, dass ich wissen muss, wo die Agentur steht, um für uns alle die richtige Entscheidung zu treffen. Ich vertraue da auf Sie und hoffe auf Ihre Unterstützung.« Sie wandte sich an Candan Aydin. »Und auf Ihre natürlich auch. Ich habe ja gesehen, wie sorgfältig Sie arbeiten. Gibt es noch irgendwelche Unterlagen, die mir weiterhelfen könnten? Hatte Beate einen Kalender, den ich mir ansehen kann?«
»Sie hatte einen Terminkalender. Aber den hat die Polizei.« Candan überlegte kurz. »Ihr Diensthandy hat sie leider verloren. Das war aber schon vor ihrem …« Sie zögerte. »Bevor sie gestorben ist, oder Bernhard?« Sie schaute ihren Kollegen fragend an. Bernhard Rösner nickte.
»Als wir das letzte Mal zusammen unterwegs waren, hat sie es schon gesucht.« Er lächelte wehmütig. »Beate hat alles Mögliche an den unmöglichsten Orten vergessen und verloren. Das war ganz typisch für sie.«
»Wir hätten es gefunden, wenn es hier gewesen wäre. Mit dem großen Siebzigerjahre-Blumenaufkleber ist es nicht zu übersehen.« Candan hob bedauernd die Schultern. »Aber es gibt noch ein paar Ordner, die ich Ihnen zeigen kann. Unsere Lieferanten und die Anfänge einer gezielten Kundenakquise. Vielleicht sind sie nützlich für Sie.«
»Wir beide werden uns wunderbar ergänzen, wenn wir …« Josefine sprach nicht weiter, weil die Eingangstür aufschwang und zwei Männer die Agentur betraten.
»Frau Jeschiechek?«, fragte der eine der beiden in das letzte »Ho!« hinein. Josefine stand auf und ging zu ihnen.
»Ja?«
»Guten Tag. Mein Name ist Eichner. Mein Kollege Heech und ich sind von der Mordkommission und mit den Ermittlungen zum Tod Ihrer Schwester betraut. Frau Aydin hat uns informiert, dass Sie eingetroffen sind. Wenn es möglich ist, würden wir uns gerne mit Ihnen unterhalten.«
»Selbstverständlich.« Josefine blickte über ihre Schulter hinweg nach hinten zu den dreien am Tisch. »Wir haben gerade eine Teamsitzung.« Sie wandte sich wieder den Polizisten zu und umfasste mit einer Geste den Raum. »Wie Sie sehen, ist der Platz hier begrenzt. Ist es in Ordnung, wenn meine Kolleginnen und der Kollege hierbleiben?«
»Wir möchten gerne allein mit Ihnen sprechen, Frau Jeschiechek. Gibt es eine Möglichkeit?«, fragte Heech.
Josefine nickte, griff nach ihrer Tasche und ging zur Tür, die in den Hausflur führte. »In der Wohnung oben sind wir ungestört.«
Sie betraten den Flur und stiegen die Treppe hinauf. Oben schloss Josefine die Wohnung auf und ließ den beiden den Vortritt. Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie heute Morgen alles so gelassen und nicht aufgeräumt hatte. Na wunderbar. Was für einen Eindruck würde die Polizei von ihr bekommen? Sie beschloss, nichts darauf zu geben. Schließlich war es nicht ihre Wohnung, sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Vergeblich. Die Situation machte sie nervös. Man hatte halt nicht jeden Tag mit der Mordkommission zu tun. Außerdem erinnerte Eichner sie in seinem Auftreten an Christian, und auch das trug nicht gerade zu ihrer Entspannung bei.
»Was möchten Sie denn mit mir besprechen?«, fragte sie, während sie mit raschen Handgriffen die Flaschen und das Glas vom Wohnzimmertisch räumte und die Decken auf dem Sofa zusammenfaltete. »Sie müssen entschuldigen. Ich war nicht darauf vorbereitet, hier zu übernachten. Das ist die Wohnung meiner Schwester. Ich bin erst gestern angekommen.«
Eichner und Heech nickten unisono.
»Das wissen wir.«
Josefine lachte unsicher und ärgerte sich im gleichen Augenblick über sich selbst. Natürlich wussten sie das. Vermutlich kannten sie auch diese Wohnung. War es nicht so, dass die Polizei die Wohnung eines Mordopfers durchsuchte, auch wenn sie nicht der Tatort gewesen war? Sie räusperte sich und straffte den Rücken. »Ich vermute, Sie möchten mit mir über den Mordfall sprechen. Wie ist denn der Stand der Dinge? Haben Sie schon einen Verdächtigen?«
Eichner und Heech wechselten einen Blick, bevor Heech erklärte: »Wir sind noch mitten in den Ermittlungen.«
»Sie sind die Schwester von Frau Silberzier. Ist das richtig?«, übernahm Eichner das Gespräch.
»Ja. Aber das weiß ich erst seit Kurzem.«
»Vorher hatten Sie keinen Kontakt zu Frau Silberzier?«
»Was?« Josefine schob die Brauen zusammen. Was war das denn? Ein Verhör? »Wie soll ich denn Kontakt zu jemandem haben, von dem ich nicht weiß, dass es ihn gibt? Außerdem wohne ich fast fünfhundert Kilometer entfernt. Da läuft man sich auch nicht zufällig über den Weg.«
»Wie haben Sie denn von Ihrem Erbe erfahren?«
»Ein Erbenermittler hat mich ausfindig gemacht. Aber darüber sind Sie doch sicher informiert.«
»Wir stellen gerne persönlich unsere Fragen, Frau Jeschiechek.« Heech kratzte sich am Ohr. Wie beiläufig fragte er: »Und Ihr Verwandtschaftsverhältnis ist wie?«
»Sie ist meine Schwester. Halbschwester«, korrigierte sie sich sogleich. Bei diesen beiden musste man es genau nehmen. »Wir haben denselben Vater.« Sie verstummte und blickte von einem zum anderen.
In der Wohnung hörte man nichts außer dem Ticken der Küchenuhr.
»Denken Sie etwa, ich hätte meine Schwester umgebracht?« Beinahe hätte sie gelacht. Dieser Gedanke war zu abstrus. Aber die beiden machten nicht den Eindruck, Großmeister des Humors zu sein. Ganz im Gegenteil. Sie wirkten eher frustriert. Was ja, wenn sie es sich recht überlegte, auch kein Wunder war. Beate war seit mehr als sechs Wochen tot, und augenscheinlich gab es noch keinen nennenswerten Ermittlungserfolg. Wieder schauten die beiden sich an.
»Wir möchten Ihnen mitteilen, dass die Rechtsmedizin die Leiche freigegeben hat, das Beerdigungsinstitut wurde informiert. Sie können Ihre Schwester nun bestatten.« Eichner deutete eine knappe Verbeugung an, ging aber mit keinem Wort auf Josefines Frage ein. »Mein Beileid«, ergänzte er.
»Wenn wir weitere Fragen haben, können wir Sie hier finden?« Heech wandte sich bereits wieder in Richtung Wohnungstür.
»Ja. Ich bleibe einige Tage.« Josefine blieb stehen und beobachtete, wie die beiden die Wohnung verließen.
»Das war ja nicht sonderlich ergiebig«, tönte es neben Josefine. Sie schreckte zusammen. Beate stand so dicht neben ihr, dass ein Teil ihrer Schulter in ihrem Oberarm verschwand. »Die haben keinen Schimmer, wer hierfür verantwortlich ist.« Beate deutete bei dem Wort auf sich. »Und da heißt es immer ›die Polizei, dein Freund und Helfer‹. Pustekuchen.«
Josefine trat einen Schritt zur Seite. »Dabei gibt es bestimmt Verdächtige«, sagte sie halb zu sich und halb an ihre Schwester gewandt.
»Denkst du?«
»Ja.«
»Wen?«
»Erst einmal ist jeder verdächtig, der dich kennt.«
»Du schaust definitiv zu viele Krimis.«
»Zum Beispiel Bernhard Rösner. Er scheint mir vielschichtiger zu sein, als sein Aussehen vermuten lässt.«
»Ach was, Bernhard ist nicht nur ein Kollege, sondern auch ein guter Freund. Und überhaupt.« Beate breitete die Arme aus. »Meine Freunde würden mir niemals so etwas antun.«
»Da bist du sicher?«
»Ganz sicher.« Beate nickte heftig. »Und ich möchte auch nicht weiter darüber nachdenken. Denn es ist etwas Schreckliches passiert.«
»Was?«
»Der Bestatter. Er hat sich eben bei Cancan gemeldet.«
»Das ist doch gut.«
»Nein, ist es nicht.« Beate umklammerte ihren Oberkörper mit beiden Armen. »Oder wie fändest du die Vorstellung, dass dich jemand unter die Erde bringen will?«