»Du hast nur noch Geschenkpapier, auf dem ›Happy Birthday‹ steht.« Josefine kramte in der untersten Schublade von Beates Wohnzimmerkommode und förderte mehrere Rollen mit demselben Muster zutage. »Das soll ein Weihnachtspräsent werden.«
»Schreib einfach ›Jesus‹ drunter, dann passt es wieder.« Beate zuckte mit den Schultern. Josefine hielt kurz in der Bewegung inne, verkniff sich aber jegliche Antwort. »Es ist sowieso eine ganz blöde Idee«, fuhr Beate fort.
»Warum?« Josefine rollte den Bogen aus, legte die kleine Schachtel darauf und schnitt exakt die Menge Papier ab, die sie zum Verpacken benötigte.
»Ich weiß nicht. Mein Gefühl sagt es mir.«
»Dein Gefühl? Genauer geht’s nicht?« Josefine pikte mit der Schere in Beates Richtung.
»Mein Gefühl, ganz recht. Und nein. Genauer geht es nicht.« Sie beobachtete, wie Josefine sorgfältig die Ecken umschlug, ausrichtete und umklappte, bevor sie das Klebeband sehr gerade aufklebte. »Schleifen müsste ich auch noch irgendwo haben. Sieh mal in der rechten Schublade im Küchenbüfett nach.« Sie starrte auf die Schachtel. »Was willst du überhaupt bei ihm? Warum auf einmal dieser Aktionismus?«
»Weil wir an irgendeiner Stelle einmal systematisch ansetzen müssen, wenn wir herausfinden wollen, wer dir das angetan hat. Es bringt nichts, nur durch die Gegend zu rennen und wild die Menschen zu fragen, ohne einen Plan zu haben.«
»Und den hast du jetzt?«
»Nicht im Detail. Aber im Groben. Und der besagt, dass es Sinn ergibt, anzufangen und sich von da weiter nach vorne zu arbeiten. Deswegen beginne ich jetzt bei deinen Anfängen, bei deinem Vater.«
»Stiefvater.«
»Stiefvater. Meinetwegen auch das. Und wo, sagtest du, ist das Band?«
Beate wies stumm auf den Schrank. Josefine tat, wie ihr geheißen, ging zu dem Weichholzmöbel und öffnete die Schublade. Unzählige Kugelschreiber, Gummibänder, Grußkarten, Eddings, eine Computermaus, ein Maßband, Gartendraht, eine Farbmusterkarte und eine halbe Türklinke quollen daraus hervor. Geschenkband war nicht dabei.
»Uwe hat gemeint, du wärst sehr genervt von ihm gewesen. Gab es etwas Konkretes?«
»Wenn ein allgemein schlechtes Vater-Tochter-Verhältnis konkret genug ist, dann ja. Wobei sich ja im Nachhinein herausgestellt hat, dass er gar nicht mein Vater ist.« Beate trat ans Fenster und schaute hinaus. »Vermutlich gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Punkten, nur dass es mir Zeit meines Lebens nicht klar war.« Sie verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Vielleicht will ich auch nicht sehen, was die Leute wirklich von mir denken. Ich kann immer noch nicht glauben, was du mir über die Blumenfrau erzählt hast.«
»Karin Butter war nicht gut auf dich zu sprechen.«
»Was sie mich nie hat ahnen lassen. Oder ich bin einfach zu gutgläubig für diese Welt gewesen.« Beate lachte leise auf.
Josefine schob das fertig verpackte Mitbringsel zur Seite. Es war nur eine Kleinigkeit. Eine Schachtel Pralinen, die sie in Beates Küche gefunden hatte. Es erschien ihr richtig, nicht mit leeren Händen bei Werner Silberzier vorstellig zu werden. Schließlich war es eine Art Familienbesuch, wenn auch im allerweitesten Sinne.
Sie ging zu ihrer Schwester und sah ebenfalls hinaus. Dabei stellte sie sich vor, wie es wäre zu erfahren, dass ihr Vater nicht ihr Vater war. Alle Streitigkeiten, alle Probleme, die sie miteinander gehabt hatten, verlören ihren Bezug und erschienen unter einem ganz neuen Blickwinkel.
»Wusste er schon immer, dass du nicht seine leibliche Tochter bist?«
»Muss ja wohl so sein.« Es schien, als wollte Beate noch etwas ergänzen, aber dann presste sie die Lippen aufeinander.
Dicke Schneeflocken tanzten durch die einsetzende Dämmerung. Im Licht von Beates Wohnzimmer blinkten sie kurz auf, bevor sie zu Boden sanken. Sie schwiegen. Josefine wandte den Kopf zur Seite und betrachtete Beates Profil. Die Form ihrer Nase, den Schwung des Mundes, das kleine Grübchen am Kinn. Sie sieht mir tatsächlich etwas ähnlich, dachte sie. Die Leute haben recht. Bisher hatte sie keinen Blick dafür gehabt.
»Danke für gestern«, sagte sie leise. »Ohne dich hätte ich das mit dem Singen niemals geschafft. Ich hatte so eine Angst, mich zu blamieren.« Spontan umarmte sie ihre Schwester von der Seite. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, Beate zu spüren. Ihre Schultern, ihre Arme, ihre Wärme. Dann glitt sie durch sie hindurch.
Beate zuckte zusammen, starrte Josefine an, wich zurück.
»Bitte entschuldige. Ich wollte dir nicht zu nahetreten. Das war übergriffig.«
»Übergriffig? Quatsch.« Ein Ruck ging durch Beates Körper. Sie wies auf Josefines Hände. »Ich habe dich gefühlt. Ganz kurz. Es war wie ein Kitzeln. Oder Kribbeln. Versuch es noch einmal.« Sie streckte Josefine beide Hände entgegen.
Josefine zögerte, dann griff sie danach. Aber diesmal geschah nichts, sie fasste durch ihre Schwester hindurch, ohne etwas zu spüren. Enttäuscht blickten beide auf ihre Hände.
»Man sollte wohl auch nie zu viel erwarten«, sagte Beate betont munter und drehte sich um. Sie zeigte auf eine Kiste oben auf dem Küchenschrank. »Versuch es da mal mit dem Band.«
Aber auch in der Kiste war es nicht. Erst nachdem Josefine erfolglos sämtliche Schubladen auf- und Kartons aus den Regalen hervorgezogen und geöffnet hatte, fand sie das Band schließlich im Waschbeckenschrank im Badezimmer und vervollständigte die Verpackung.
»Hast du eigentlich auf das Haltbarkeitsdatum geschaut?«, fragte Beate beiläufig. »Ich kann mich nicht erinnern, wann ich die Pralinen geschenkt bekommen habe.«
Josefine hoffte inständig, dass es sich bei den Pralinen nicht um diese Art von Wandergeschenk handelte, das über Jahre hinweg von einem zum Nächsten weiterverschenkt und niemals geöffnet wurde. Bei ihrem Glück würde diese Endloskette just von Werner Silberzier unterbrochen werden. Sie fragte sich, warum sie nicht einfach eine neue Packung gekauft hatte. Die richtigen Lösungen fielen einem immer zu spät ein. Sie umklammerte die Packung, während sie der Pflegekraft durch einen langen Gang folgte.
Werner Silberzier lebte in einer Seniorenanlage, deren Ausstattung und Atmosphäre deutliche Rückschlüsse auf die Bewohnerinnen und Bewohner zuließen. Hier lebten Menschen, die sich einen gewissen Luxus leisten konnten. Glänzender dunkler Marmorboden, gediegene Ledergarnituren und elegante Ohrensessel, dekorativer Blumenschmuck und dezente Beleuchtung im Empfangsbereich erweckten den Eindruck eines Sternehotels. Nur die Menschen in Rollstühlen und einige umhereilende Pflegekräfte erinnerten daran, dass es sich hier um eine Pflegeeinrichtung handelte.
»Herr Silberzier bewohnt eins unserer Appartements.« Die Pflegekraft wandte sich im Gehen Josefine zu und lächelte freundlich. »Er organisiert Konzertbesuche für unsere Klienten und ist immer viel unterwegs.«
»Braucht er keine Unterstützung?«, wollte Josefine wissen und merkte, wie sie in der Wärme des Hauses schwitzte. Sie zog ihren Wintermantel aus und legte ihn über den Arm.
»Nicht alle unsere Bewohnerinnen und Bewohner sind pflegebedürftig. Ganz im Gegenteil. Viele nutzen die Annehmlichkeiten des Hauses und leben selbstständig in ihren eigenen Wohnungen, bis sie vielleicht eines Tages Hilfe brauchen. Bei einigen passiert das schrittweise, bei anderen nie.«
»Ich dachte immer, man geht erst ins Altenheim, wenn man ein Pflegefall ist.«
»Das ist schon längst nicht mehr so. Viele ziehen lange vorher zu uns in die Seniorenresidenz. Wir haben auch viel zu bieten hier. Restaurant, Weinstube, Café, ein großes Schwimmbad, mehrere Saunen, ein Fitnessstudio. Friseur, Fußpflege und Kosmetik – alles vorhanden. Sogar einen kleinen Supermarkt finden Sie hier bei uns.«
»Fast wie eine kleine Stadt.«
»Richtig. Eine kleine Stadt, auf die Wünsche und Bedürfnisse älterer Menschen zugeschnitten.« Sie bogen um eine Ecke. Josefines Begleiterin blieb vor einer Wohnungstür stehen. »Da wären wir.«
Sie drückte auf die Klingel. Ein heller Gong ertönte im Inneren der Wohnung. Josefine hörte Schritte, dann öffnete sich die Tür.
Man sah Werner Silberzier sein stattliches Alter von neunundachtzig Jahren nicht an. Er war groß gewachsen, hielt sich sehr gerade und machte einen sportlichen Eindruck. Wenn Josefine es nicht besser gewusst hätte, sie hätte ihn auf Ende sechzig, Anfang siebzig geschätzt. Sein Blick fiel zuerst auf die Pflegekraft, dann auf Josefine. Er musterte sie.
»Ja bitte?«
»Guten Tag, Herr Silberzier. Mein Name ist Josefine Jeschiechek, und ich bin –«
»Ich weiß, wer Sie sind«, unterbrach er sie. Seine tiefe Stimme dröhnte durch den Gang. Seine Miene war der Inbegriff von Strenge.
»Hätten Sie wohl einen Moment Zeit für mich? Ich habe Fragen, auf die ich Antworten suche.« Josefine streckte ihm die Hand mit der Pralinenpackung entgegen. Werner Silberzier ignorierte das Präsent, machte aber den Weg in seine Wohnung frei. Josefine bedankte sich mit einem Nicken bei der Pflegekraft und trat ein. Werner Silberzier schloss die Tür und wies ihr den Weg in sein Wohnzimmer. Sie ging ihm voran und blieb in der Mitte des Raumes stehen.
»Mein Beileid zum Tod Ihrer Tochter.«
»Was wollen Sie wissen? Ich habe nicht viel Zeit.« Er ging zu seinem Esstisch am Fenster, zog einen Stuhl hervor und setzte sich. Er bot ihr weder an, sich zu setzen, noch nahm er ihr den Mantel ab. Josefine ging ebenfalls zu dem Tisch, legte den Mantel über eine Stuhllehne und nahm gegenüber von Werner Silberzier Platz.
»Das ist wieder typisch«, hörte Josefine Beate hinter sich sagen. »Emotional wie ein Backstein.« Sie warf einen kurzen Blick über ihre Schulter. Beate stand mit vor der Brust verschränkten Armen neben einer Anrichte aus geschnitzter Eiche und betrachtete ihren Stiefvater mit gesenktem Kinn.
»Ich erwarte, dass Sie mich anschauen, wenn Sie mit mir reden.«
Josefine fuhr herum. Werner Silberzier blickte sie mit düsterer Miene an, seine dichten grauen Brauen stießen über der Nasenwurzel beinahe aneinander. Trotz ihrer sechsundfünfzig Jahre fühlte sie sich wie ein kleines Mädchen vor dem gestrengen Lehrer. Sie verstand, warum Beates Verhältnis zu ihrem Stiefvater schwierig war. Sie sah sich in der Wohnung um. Ein gut gefülltes Buchregal, ein großer Fernseher, ein einladendes Sofa mit Kissen. Alles penibel ordentlich und sauber. Trotzdem fehlte etwas, das dem Raum eine persönliche Note verlieh, ohne dass sie hätte sagen können, was es war. Eine Anrichte mit einer kleinen Minibar stand direkt hinter dem Essplatz. Sie konzentrierte sich auf die bunten Etiketten der Flaschen, sammelte sich. Josefine setzte sich gerade hin, stellte beide Füße fest auf den Boden und legte ihre Unterarme locker ausgestreckt auf den Tisch. Hier war eine klare Ansprache gefordert. Kein Geplänkel, kein Drumherumreden.
»Warum haben Sie nicht direkt nach Beates Tod jemanden darauf hingewiesen, dass Sie nicht ihr Vater sind?«
»Weil es nicht recht ist.« Werner Silberzier ballte kurz die Fäuste.
»Wie meinen Sie das?«
»Was ist ein Vater?«, dozierte er. »Derjenige, der ein Kind erzieht, es kleidet, ihm ein Dach über dem Kopf gibt, zahlt. Oder sehen Sie das anders?«
»Wie wäre es mit Liebe, Fürsorge, Kümmern, einem Zuhause, in dem man sich willkommen fühlt?«, warf Beate ein. Josefine hatte Mühe, sich nicht wieder nach ihr umzudrehen.
»Wenn ich bedenke, was ich alles in Beate investiert habe, obwohl sie nicht mein leibliches Kind war. Das interessiert jetzt niemanden mehr.«
»Geld, Geld – es geht ihm immer nur ums Geld.« Beates Zorn war unüberhörbar.
»Sie wussten immer, dass Sie nicht ihr Vater waren?«
»Nicht ihr biologischer Vater. Ja. Ich habe Christel kurz nach Beates Geburt kennengelernt. Sie war meine große Liebe. Ich wollte sie. Um jeden Preis. Das Kind habe ich in Kauf genommen. Ich habe nie nach Details gefragt.« Er schaute aus dem Fenster, als könnte er so direkt in die Vergangenheit blicken. Seine Züge wurden weich. Er senkte den Kopf und atmete langsam aus. Als er sich wieder Josefine zuwandte, war die Härte zurückgekehrt. »Sie sind die Tochter desjenigen, der als ›Vater unbekannt‹ in Beates Geburtsurkunde steht.«
Josefine nickte. Hier ging es nicht nur um Beate, wurde ihr klar. Hier ging es auch um sie. Um ihren Vater, der vor ihr ein anderes Kind gezeugt hatte.
»Der Erbenermittler sagte etwas von einer zweiten Urkunde, in der die Vaterschaft anerkannt wurde.«
»Das stimmt. Sie befand sich bei den privaten Unterlagen meiner verstorbenen Frau.«
»Haben Sie die nach ihrem Tod nicht gesichtet?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Aus Respekt. Sie hatte ihre Gründe, die Unterlagen in einer Kiste zu verschließen. Sie wollte nicht, dass jemand sie liest. Genau wie ihre Tagebücher.«
»Beates Mutter hat Tagebuch geführt?«
»Das sagte ich gerade.«
»Was steht da über Beates und meinen Vater?«
»Woher soll ich das wissen? Es kann jedenfalls nicht viel sein.«
»Nicht viel bedeutet nicht nichts.«
»Sein Name steht vermutlich drin, und dass er eine kurze bedeutungslose Affäre war, nicht mehr. Ich war die große Liebe ihres Lebens.«
»Herr Kessler von der Erbenermittlung sagte mir, dass er von der Schwangerschaft nichts wusste.«
»Christel hat sie ihm damals absichtlich verschwiegen. Sie wollte nicht, dass er sich verpflichtet fühlte. Ihr Vater ist also entschuldigt, dass er sie nicht geheiratet und so vor der Schande bewahrt hat.«
»Aber was ist dann mit der Anerkennung der Vaterschaft?« Josefine brauchte keine Absolution von Werner Silberzier für etwas, das von niemandem versäumt worden war. Ihr Vater hatte nichts von Beates Geburt gewusst. Sich nicht vor der Verantwortung gedrückt, die Werner Silberzier freiwillig an seiner statt übernommen hatte. Womöglich hatte er sogar für Beate einstehen wollen, als er schließlich davon erfuhr.
Werner Silberziers Lippen wurden weiß. Sein ganzer Körper verspannte sich, und Josefine spürte, wie schwer es ihm fiel, darüber zu sprechen.
»Warum haben Sie und Ihre Frau keine weiteren Kinder bekommen?«, wechselte sie das Thema.
»Nach Beate war das nicht mehr möglich. Sie hat Christel eine sehr schwere Geburt bereitet.«
Josefine bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Beate sich in Bewegung setzte. Sie schwebte an ihr vorbei und durch die Tischplatte, bis sie direkt neben Werner Silberzier stand. Sie beugte sich vor. Josefine sah Tränen auf ihren Wangen.
»Das hast du mich spüren lassen, jeden einzelnen Tag«, sagte sie leise. »Du hast mich gehasst. Gib es zu.«
»Sie sagen das so, als hätte Beate ihre Mutter mit Absicht bei der Geburt verletzt. Sie wissen, dass das nicht sein kann?«
An Werner Silberziers Unterkiefer traten die Muskeln hervor. »Mag sein«, entgegnete er gepresst. »Bei der Geburt vielleicht nicht. Es gab genügend andere Gelegenheiten.«
»Gelegenheiten?«
»Beate war ein anstrengendes Kind und eine strapaziöse Heranwachsende. Sie war laut und unruhig, sie war unstet, hatte keine Disziplin, keinen Willen, etwas zu Ende zu bringen. Ständig unterbrach sie das Gespräch von Erwachsenen. Christel hatte sehr viel Last mit ihr. Es war eine große Erleichterung, als sie endlich auszog.«
»Du hast mich rausgeschmissen, sag, wie es war.« Beate schrie den Satz beinahe in sein Ohr. Werner Silberzier reagierte nicht. Josefines Hals brannte. Wie gerne hätte sie Beate getröstet. Alles, was er über sie sagte, traf auch auf ihren Sohn Florian zu. Aber bei allen Schwierigkeiten und Problemen hätte sie ihn nie als Last bezeichnet. Sie liebte ihn und tat alles in ihrer Macht Stehende, um ihn zu unterstützen. Sie hoffte, dass Beates Mutter genauso gefühlt hatte wie sie selbst.
Werner Silberzier schob seinen Stuhl zurück, stand auf und trat ans Fenster. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken.
»Haben Sie von der späteren Anerkennung der Vaterschaft gewusst?«, wagte Josefine einen erneuten Vorstoß.
»Nein. Meine Frau hat mich nie darüber informiert«, antwortete er leise.
Josefine erkannte, dass er sich von seiner Frau hintergangen fühlte, und dieser Betrug wog schwerer als die Tatsache, dass jemand anders ab diesem Moment offiziell der Vater seiner Stieftochter gewesen war.
»Können Sie sich vorstellen, warum das geschah?«
Wieder versteifte sich Werner Silberzier. Es war offensichtlich, dass ihn das Thema schmerzte, aber Josefine konnte darauf keine Rücksicht nehmen. Es war zu wichtig. Sie gab ihm Gelegenheit, sich zu sammeln, und wartete geduldig, bis er weitersprach.
»Es gab eine kurze Zeit, in der wir mit unserer Ehe eine Krise durchmachten. Beate war als Teenager noch schwieriger, und wir waren uns nicht einig darüber, wie man ihrer Erziehung Herr werden und ihrem Treiben Einhalt gebieten konnte. Ich wollte sie mit Härte und Strenge zu mehr Disziplin führen. Christel war zu weich in dieser Hinsicht. Mehr als einmal standen wir kurz vor einer Trennung, ehe ich Christel wieder zur Vernunft bringen konnte. Die Anerkennung stammt aus dieser Zeit. Ich weiß nicht, wie sie es bewerkstelligt hat, aber vielleicht wollte sie sichergehen, auch nach einer Scheidung für ihre Tochter sorgen zu können.«
Beate umschlang ihren Oberkörper mit beiden Armen. Ihre Miene drückte Trauer und Wehmut, aber auch Willensstärke und Rebellion aus. Josefine erkannte in ihr den Teenager, der sie einmal gewesen sein musste.
»Christel hat immer Kontakt zu Beate gehalten, obwohl ich ihr davon abgeraten habe. Ich weiß, dass sie ihr eine Zeitlang heimlich Geld zugesteckt hat. Mein Geld. Sie dachte, ich merkte es nicht«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Als Christel starb, hat Beate sich nicht gekümmert.«
»Du lügst. Du hast mich nicht zu ihr gelassen.«
»Vor gar nicht allzu langer Zeit stand sie dann auf einmal hier vor meiner Tür und wollte ihren Erbteil ausbezahlt haben.« Er lachte höhnisch und trat vom Fenster zurück. »Können Sie sich das vorstellen? Lebt auf meine Kosten und will dann auch noch Christels Geld?« Sein Ton wurde lauter. »Geld, das eigentlich mir zusteht? Wenn ich bedenke, wie viel Zeit Christel an diese Frau Schneider verschwendet hat, weil sich sonst niemand um die alte Frau gekümmert hat. Helfen wollte sie ihr. Pah! Das war Zeit, die sie mit mir hätte verbringen sollen. Dass die Schneider Christel dann als Alleinerbin eingesetzt hat, war ja wohl nur recht und billig. Ich habe es immer als eine Art Schadensersatz für unsere verlorene Zeit betrachtet.« Er ging ein paar Schritte auf Josefine zu, blieb kurz vor ihr stehen. Trotz seines Alters war er groß und kräftig. »Und jetzt kommen Sie daher und machen mir das streitig, was von Rechts wegen mir zusteht. Es ist mein Geld.« Er atmete heftig.
»Sie haben ihr den Erbteil ausbezahlt?« Josefine wich nicht zurück. Sie würde sich nicht einschüchtern lassen.
»Ich musste. Natürlich habe ich mich erst geweigert. Aber sie hatte einen Anwalt eingeschaltet. Sie haben mich gezwungen, nannten es Rechtsprechung. Pah!« Er machte einen weiteren Schritt auf Josefine zu und sah von oben auf sie herab. Josefine spürte ihr Herz schlagen. »Es ist besser, wenn Sie jetzt gehen, Frau Jeschiechek. Es ist alles gesagt.«
Er ging um sie herum zur Wohnungstür und öffnete sie. Mit der Hand an der Klinke blieb er stehen. Josefine nahm ihren Mantel von der Stuhllehne, sah sich ein letztes Mal im Raum um und wusste auf einmal, was sie von Anfang an vermisst hatte: Fotos. Dass Aufnahmen von Beate fehlten, wunderte sie nach dem Gehörten nicht. Aber auch von seiner Frau Christel fand sich kein einziges Bild.