»Macht zwölf achtzig.« Der Taxifahrer hielt vor der Tür der Agentur, drückte einige Knöpfe auf dem Taxameter und drehte sich zu Josefine um. »Brauchen Sie eine Quittung?«
Josefine bejahte. Sie zahlte, raffte Röcke, Flügel und Perücke zusammen und stieg aus. Die kalte Luft biss in ihre Haut und schnitt in ihre Lungen. Trotzdem blieb sie auch noch stehen, als das Taxi sich wieder in Bewegung setzte. Sie schloss die Augen. Atmete.
»Genau so. Das hilft. Einatmen, ausatmen. Langsam.«
Josefine öffnete die Augen und wandte sich ihrer Schwester zu. Den Kopf in den Nacken gelegt, hielt Beate die Augen geschlossen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich.
»Du kannst nicht mehr atmen. Du bist tot.«
»Aber ich kann es mir vorstellen.« In Beates entspanntes Gesicht schlich sich ein Lächeln. Die Augen hielt sie weiter geschlossen.
»Bärbel Rosenbusch?«
»Bärbel Rosenbusch.«
»Sie ist dieser besondere Mensch, dem du deinen geheimen Ort offenbart hast?«
»Sie ist diejenige, der der königsblaue Schal und die Mütze gehören.«
»Sie ist diejenige, mit der du dich getroffen hast, nachdem du das Geld von der Bank abgeholt hast?«
Beate nickte, ohne ihre Körperhaltung zu verändern.
»Wusste sie, was du in der Bank gemacht hast?«
»Ich weiß es nicht.« Beate wechselte wieder in ihre normale Haltung, öffnete die Augen und sah Josefine an. »Aber ich gehe davon aus.«
»Du gehst davon aus?«
»Ja.«
Josefine wartete darauf, dass Beate weitersprach. Aber nichts geschah.
»Warum gehst du davon aus?«, fragte sie schließlich.
»Weil ich alles mit ihr beredet habe.« Beates Züge wurden weich.
»Ihr wart gute Freudinnen?« Josefine versuchte sich an ihre erste Begegnung mit Bärbel Rosenbusch zu erinnern. Sie hatte aus ihrer Trauer um Beate keinen Hehl gemacht. Josefine meinte, sich an etwas wie Wehmut zu erinnern. Ein noch nicht verheilter Schmerz.
»Mehr als das.« Beate strich mit ihrer Rechten über ihren linken Oberarm, ließ die Hand dort ruhen und drückte kurz zu, als erinnerte sie das an eine Berührung. »Sie war meine Seelenverwandte, meine Vertraute.«
»Also allerbeste Freundinnen.«
»Nein.« Beate schüttelte den Kopf. »Du verstehst nicht.«
»Was verstehe ich nicht?«
»Sie war meine Kameradin, meine Gefährtin. Meine Geliebte.«
Josefine öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut, ohne etwas zu sagen.
»Was? Schockt dich das?« Beate schmunzelte.
Josefine starrte Beate an. Sie rang mit sich, merkte, wie es in ihr brodelte. Aus der Kälte in ihren Lungen wurde Schmerz.
»Wie kannst du nur?« Sie spie Beate die Worte entgegen.
»Was? Eine Frau lieben?« Beate breitete die Arme aus. »Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert, meine Liebe.«
Wie eine Welle schwappten Josefines Erinnerungen und Emotionen über sie hinweg. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. »Es ist mir völlig egal, ob du eine Frau oder einen Mann oder was auch immer liebst«, presste sie mühsam hervor. »Aber es ist nicht egal, wie rücksichtslos du bist. Wie egoistisch, wie selbstsüchtig.«
»Bitte?«
»Wie es aussieht, bist du es, die nichts versteht.« Aus Josefines Schmerz wurde Zorn. Wut. Auf Beate. Auf das, was sie gerade gesagt hatte. »Bärbel Rosenbusch ist verheiratet. Sie hat eine Frau, zu der sie gehört. Du bist eine Ehebrecherin. Du hast doch keine Ahnung, was du damit anrichtest, wenn du dich so in eine Beziehung drängst und ein ganzes Leben zerstörst. Gemeinsame Zeit, Pläne für die Zukunft.« Sie spürte, wie Tränen über ihre Wangen liefen. »Hauptsache, du hast deinen Spaß. Hauptsache, du bist mit dir selbst im Reinen. Hauptsache, du kannst dein Leben noch einmal neu starten.«
Beate schwieg.
»Hast du jemals darüber nachgedacht, was dein Verhalten für Folgen hat? Wie es Bärbels Frau gehen wird, wenn sie es erfährt? Du hast kein Recht, dich so in das Leben anderer einzumischen.« Josefine verstummte. Sie wünschte sich, den riesigen Stein, der ihre Lunge zusammendrückte, fortschieben zu können. Ihr Brustkorb fühlte sich an, als wäre das Taxi darübergefahren.
»Darf ich dir erklären –«
»Ich glaube nicht, dass es da viel zu erklären gibt. Die Sache ist eindeutig genug.«
»Wenn es dich nicht interessiert, was ich dazu zu sagen habe, dann hast du dir deine Meinung ja bereits gebildet«, sagte Beate tonlos. Sie wandte sich ab in Richtung Straße und begann langsam an Substanz zu verlieren. »Nur eines noch, ich erinnere mich jetzt wieder daran: Ich habe ein Testament gemacht. Ich weiß zwar nicht, wo es ist und zu wessen Gunsten, aber eines ist ganz sicher: Du kommst zum Glück nicht darin vor.«
»Das ist so typisch. Sobald es schwierig wird, löst du dich in Luft auf!« Josefine schleuderte das Engelsgewand auf den Fußboden und schrie die Wand in der Requisitenkammer an. Es tat so gut, laut und ungehemmt alles rauszulassen. Sie war allein in der Agentur. Candan Aydin hatte nur einen Hinweis auf dem Schreibtisch hinterlassen, dass sie früher hatte gehen müssen, aber es sei alles in der Spur und sie in Notfällen telefonisch erreichbar. Josefine sank auf einen herumstehenden Hocker und stützte die Stirn auf die Fäuste. In ihr bebte noch immer ein Zittern. Eine Mischung aus Wut und Zorn, Hilflosigkeit und Verzweiflung. Beates Geständnis, ein Verhältnis mit Bärbel Rosenbusch gehabt zu haben, hatte ihre inneren Mauern einstürzen lassen. Dabei waren die Vorwürfe, die sie ihrer Schwester entgegengeschleudert hatte, gar nicht an sie gerichtet gewesen. Das wurde ihr jetzt klar. Sie wusste nichts über die Hintergründe dieser Beziehung. Wusste nichts über Bärbels Verhältnis zu ihrer Frau. Wie hieß sie noch gleich? Anja? Nein. Svenja. Bärbels Ehefrau hieß Svenja. Vielleicht waren die beiden längst getrennt? Oder hatten eine Vereinbarung, wie mit solchen Dingen umzugehen war? Nein. Sie konnte nicht über Beates Beziehung zu Bärbel urteilen, ohne die Hintergründe zu kennen. Und selbst dann hätte sie nicht das Recht dazu.
Josefine horchte in sich hinein. Was sie fand, war die Wahrheit. Oder besser gesagt, ein kleines Stück davon. Sie nahm es und betrachtete es von allen Seiten. Es war gerade so groß, dass sie es halten und aushalten konnte. Es tat weh, dieses Stück Wahrheit in all seinen Details zu betrachten. Denn es offenbarte den tatsächlichen Grund ihres Gefühlsausbruchs. Es war nicht ihre Schwester gewesen, der sie all das vorgeworfen hatte, sondern Christian. Ihm hatte alles gegolten. Ihre Vorwürfe, ihr Zorn, ihre Wut. Und ihr Schmerz. Er war es gewesen, der sie nach all den Jahren für eine andere Frau verlassen hatte. Der ihr gemeinsames Leben, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft einfach so weggeworfen hatte. Er trug die Schuld daran, dass ihr Leben nicht mehr so war, wie es all die Jahre gewesen war.
Aber, und das war ein anderes kleines Stück der Wahrheit, die sie jetzt in den Händen hielt, das womöglich noch mehr schmerzte als das erste: Was geschehen war, lag nicht allein in seiner Verantwortung. Um an diesen Punkt zu kommen, brauchte es zwei. An der Oberfläche hatten sie als Paar phantastisch funktioniert. Die Kinder, das Haus, seine Karriere. Aber unter dem Radar hatte sich der emotionale Abstand von Jahr zu Jahr vergrößert, bis schließlich Platz für jemand anderes entstanden war. Platz, den Christian nicht lange unausgefüllt gelassen hatte, weil er diese Lücke, diese Leere nicht ertrug. Eines Tages war er einfach die Treppe hinuntergegangen, durch die Tür und den Garten und verschwunden.
Für Josefine war es gewesen, als wäre er plötzlich gestorben. Wie bei einem Autounfall. Aber Christian hatte ebenfalls unter der Trennung gelitten, lange vor ihr. Es hatte dazu geführt, dass er sich entschied, sein altes Leben hinter sich zu lassen und ein neues zu beginnen. Er hatte sich verabschiedet, nur deutlich früher als sie selbst. Erst sein Weggang machte die Leere, die sie bis dahin nicht hatte wahrhaben wollen, obwohl sie auch in ihr existierte, auch für sie unübersehbar.
Josefine rieb sich die Augen, stand auf. Obwohl der Schmerz über das Ende ihrer Ehe tief saß und Beates Geständnis ihn wieder an die Oberfläche gespült hatte, spürte sie eine Veränderung. Wenn sie die Wahrheit sah, konnte sie sich ihr stellen. War nicht nur dem ausgesetzt, was ihr durch andere widerfuhr. Sie war kein Opfer der Umstände. Sie musste nicht nur reagieren. Sie bestimmte, was mit ihrem Leben passierte. Die Trennung von Christian war ein Ereignis in ihrem Leben, mit dem sie umgehen musste, mit dem sie umgehen konnte. Es war Zeit, nach vorne zu schauen.
Ihr Handy klingelte. Das Display zeigte eine ihr unbekannte Festnetznummer an.
»Hallo«, meldete sie sich.
»Frau Jeschiechek? Josefine Jeschiechek?«
»Mit wem spreche ich bitte?« Die Stimme kam ihr vage bekannt vor.
»Eichner hier. Kriminalpolizei.«
»Gibt es etwas Neues?«
»Ich wollte Ihnen mitteilen, dass wir die Akte schließen werden.«
»Haben Sie den Mörder gefasst?«
»Laut den abschließenden Untersuchungen war der Tod Ihrer Schwester ein Unfall. Es war sehr kalt in jener Nacht. Der Boden war vereist. Sie ist ausgerutscht, gestürzt …«
Er sprach noch weiter. Es fielen Wörter wie Rechtsmedizin, DNA-Spuren und Beweislage, aber Josefine konnte sich nicht auf die Details konzentrieren. Eichner versprach, in den nächsten Tagen noch einmal bei ihr vorzusprechen, bevor er das Gespräch beendete.
Ein Unfall. Beates Tod war ein unglücklicher Unfall gewesen.
»Hast du es gehört, Beate? Sie sagen, es war ein schrecklicher Unfall. Wo bist du?« Josefine hielt ihr Handy weiter in der Hand. »Nur ein schrecklicher Unfall.« Sie ließ das Telefon sinken. »Dann ist ja alles in Ordnung.« Sie sah sich im Raum um. Keine Beate.
Sie war allein.
»Wenn Sie schon geschlossen haben, kann ich auch wieder gehen. Ich möchte Ihnen nicht den Feierabend verderben.« Josefine schlug die Kapuze ihres Mantels zurück. Trotz des immer dichter werdenden Schneefalls und der hereinbrechenden Dunkelheit war sie zu Fuß gegangen. Die eisige Luft hatte ihr geholfen, sich wieder in den Griff zu bekommen.
»Kein Problem. Ich bin hier und freue mich über Ihren Besuch.« André Lenzen lächelte und hielt ihr die Tür auf. Josefine stampfte den Schnee von ihren Schuhen, schüttelte ihre Kleidung aus und trat ein. Die Wärme im Inneren des Hauses prickelte auf ihren Wangen. Sie zog den Mantel aus. »Ist das ein privater Besuch?«, fragte er, nahm den Mantel entgegen und hängte ihn an der Garderobe auf. »Oder ein geschäftlicher?«
Josefine zögerte. Als sie die Agentur in Richtung Bestattungsinstitut verlassen hatte, tat sie das mit dem festen Vorhaben, endlich Beates Beerdigung festzulegen. Die Sache kurz und knapp zu erledigen und wieder zur Agentur zurückzugehen. Ihre Schwester war laut der Polizei durch einen Unfall gestorben. Damit war alles geklärt. Kein Mord, keine Mördersuche. So einfach war das. Oder auch nicht. Hätte sie nicht erleichtert sein müssen? Ein Unfall war etwas anderes als ein Mord; auch wenn das an der Endgültigkeit von Beates Tod nichts änderte, bedeutete es für sie doch einen großen Unterschied. Sie konnte sich ab sofort darauf konzentrieren, wie es mit der Agentur und dem Erbe weitergehen sollte. Am besten erstellte sie eine Liste. Listen waren immer gut. Mit Listen konnte man sammeln, kategorisieren, abarbeiten. Listen waren sachlich und schützten vor emotionaler Irrationalität. Listen hatten ihr in schwierigen Situationen bisher immer hervorragend geholfen.
Und in einer schwierigen Situation befand sie sich gerade, das war ihr auf dem Weg hierher mit jedem Schritt klarer geworden. Vielleicht war es paranoid, ihrem seelischen Stress zuzuschreiben oder einfach nur verrückt. Aber nach allem, was sie bisher erfahren hatte, konnte sie nicht an die Unfallversion der Polizei glauben. Da gab es zu viele Stolpersteine. Sie musste dringend mit jemandem reden.
Nun stand ihr André Lenzen gegenüber. Ein Mensch mit einer selbstverständlichen Offenheit, die zu sagen schien, setz dich zu mir und erzähl einfach alles.
»Beides«, antwortete sie auf seine Frage.
»Okay.« André Lenzen kam zu ihr zurück. »Was zuerst?«
»Das Geschäftliche. Die Beerdigung.« Josefine ging zu dem großen Schreibtisch in der Ecke des Raumes und rückte sich einen der beiden Besucherstühle zurecht. Sie setzte sich.
André Lenzen tat es ihr nach. Doch statt auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz zu nehmen, drehte er den zweiten Besucherstuhl so, dass er sich mit den Armen auf der Rückenlehne abstützen und sie ansehen konnte.
»Beate möchte …« Josefine unterbrach sich, fing dann neu an: »Ich kann mir vorstellen, dass Beate eine Bestattung in der Natur gut gefallen hätte.« Sie wartete auf eine Reaktion ihres Gegenübers. André Lenzen nickte und schwieg. »Ich weiß gar nicht, ob das überhaupt erlaubt ist, das müssen Sie mir sagen, wenn es nicht geht. Dann denke ich mir etwas anderes aus«, redete sie hastig weiter und wartete erneut auf eine Antwort.
»Wenn ich nicht weiß, was gemacht werden soll, kann ich auch nicht sagen, ob es erlaubt ist.«
»Keine offizielle Waldbestattung. In der Nähe des Bootsstegs am See gibt es eine kleine Bucht. Da soll die Asche verstreut werden.«
»Das ist nicht erlaubt.«
»Dachte ich mir schon. Dann eben etwas anderes. Vielleicht doch eine Waldbestattung in einem Friedwald«, beeilte sie sich zu sagen.
»Dass es nicht erlaubt ist, heißt nicht, dass wir es nicht trotzdem machen können.«
»Oder eine Seebestattung.«
»Wir bekommen das hin mit der Bucht am Titzelsee.« André Lenzen griff an der Stuhllehne vorbei nach Josefines Händen, hielt sie fest in seinen. Mit dem Daumen strich er über ihren Handrücken. Sie starrte darauf.
»Ich möchte aber nicht, dass du Ärger bekommst.« Sie spürte die Gelassenheit, die von ihm ausging. Sie tat ihr gut.
Er lachte leise auf. »Das deutsche Bestattungsgesetz ist sehr eng gefasst. Zum Glück sind die umliegenden Nachbarländer nicht so streng. Gegen eine Bestattung im Ausland hat niemand etwas. Wir können den Leichnam deiner Schwester in die Niederlande bringen und dort kremieren lassen. Die Asche kannst du selbst abholen.«
»Und dann damit machen, was ich möchte?«
»Selbstverständlich unterliegst du wieder dem deutschen Gesetz, sobald du die Landesgrenze überschreitest. Hier gilt die Bestattungspflicht auf Friedhöfen.«
»Wer kontrolliert das?« Josefine löste ihren Blick von ihren Händen und schaute ihn an.
André Lenzen hob die Schultern, ohne Josefine loszulassen. »Ich nicht. Meine Arbeit ist erledigt, wenn ich den Leichnam in die Niederlande gebracht habe.«
»Ich glaube, das würde ihr gefallen.« Josefine musste beim Gedanken daran, wie Beate auf den Vorschlag, das Gesetz einfach zu umgehen, reagieren würde, schmunzeln. »Doch. Ich bin sicher. Das passt zu ihr.«
»Gut. Dann veranlasse ich morgen früh alles Notwendige. Ich habe einen guten Kontakt dort. Es wird nicht lange dauern.« Er ließ ihre Hände los, stützte sich kurz auf der Stuhllehne ab und stand dann auf. »Komm«, sagte er.
»Wohin?«
»Hattest du nicht gesagt, es sei geschäftlich und privat?«
Josefine nickte.
»Ich habe Essen im Ofen. Das reicht auch für zwei.« Er wandte sich ab und ging auf eine Tür im hinteren Bereich des Raumes zu. Josefine stand auf, nahm ihren Mantel und folgte ihm.
Seine Wohnung befand sich in einer alten Werkstatt, die früher einmal zu der Tankstelle gehört hatte, in der nun das Bestattungsinstitut untergebracht war. André Lenzen hielt ihr die Tür auf und ließ ihr den Vortritt. Überrascht blieb sie an der Schwelle stehen. Ein gewölbtes Metalldach überspannte den gesamten Raum in luftiger Höhe. In der Mitte zog sich eine drei Meter hohe Mauer von links nach rechts, die nur in der Mitte einen Durchgang in den hinteren Teil frei ließ. Rechts neben dem Eingang dominierte ein frei stehender Holzkamin in Blockform den Raum. Dahinter standen zwei braune Ledersofas vis-à-vis, an der Wand ein schlichtes, aber übervolles Buchregal. Links befand sich eine dunkle hüfthohe Küchenzeile mit frei stehender Kochinsel. Auf dem Esstisch davor stand ein Gedeck. Ein aromatischer Duft entströmte dem Backofen. André Lenzen ging zu der Küchenzeile, nahm einen zweiten Teller und Besteck aus den Schränken und deckte einen zweiten Platz für Josefine ein.
»Wein?«
»Wasser bitte. Den Wein später.« Josefine sah sich weiter um. Zwischen diesem Loft und dem Haus, das sie mit Christian bewohnt hatte, lagen Welten. Von Beates Wohnung ganz zu schweigen. Wäre in dieser Sekunde der Fotograf eines Wohnungshochglanzmagazins hinter der grauen Mittelwand aufgetaucht, sie hätte sich nicht gewundert. Zu ihrer Erleichterung sah man dennoch, dass hier jemand lebte. Eine achtlos liegen gelassene Decke auf dem Sofa, eine gelesene Zeitung neben einer schmutzigen Kaffeetasse auf dem Esstisch und die lose Laufschuhsammlung direkt neben der Eingangstür machten ihren Gastgeber deutlich menschlicher.
André Lenzen stellte eine Karaffe mit Wasser und eine Flasche Wein in die Mitte des Tisches, ging zum Ofen und kehrte mit einer großen Auflaufform zurück. Es roch verführerisch nach Kräutern und Gewürzen. Josefines Magen knurrte.
»Die Polizei hat mich heute angerufen. Es war kein Mord, sagen sie. Es war ein Unfall.«
»Aber das glaubst du nicht.« Er goss sich ein Glas Wein ein und hob die Flasche fragend in Josefines Richtung. Die schüttelte den Kopf. Sie wollte einen klaren Kopf behalten.
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Die Polizei wird wissen, was sie tut.«
»Du willst es nicht glauben?«, schlug André Lenzen vor. Josefine griff nach der Gabel, drehte sie nachdenklich zwischen ihren Fingern und legte sie wieder neben den Teller. Sollte sie ihn ins Vertrauen ziehen? Was hatte sie zu verlieren?
»Vielleicht bin ich komplett verrückt, aber aus meiner Sicht gibt es einiges, was mich diese Erklärung nicht glauben lässt.« Sie trank einen Schluck Wasser. Dann berichtete sie ihm alles, was sie bisher erfahren hatte: Beates Streit mit dem Stiefvater über das Erbe, das verschwundene Geld, das Verhältnis zwischen ihrer Schwester und Bärbel Rosenbusch, die Drogendeals und die Unzufriedenheit der Angestellten, der Ärger mit einigen Geschäftsnachbarn und ihre Vermutung, dass es doch ein Testament geben könnte. Nur von Beates Geist erzählte sie nichts. Auch zwischen verrückt und verrückt gab es Unterschiede. André Lenzen hörte schweigend zu, während sie aßen.
»Eine Menge möglicher Motive für einen Mord«, sagte er schließlich, nachdem sie geendet hatte. »Hast du mit der Polizei darüber gesprochen?«
»Nein. Aber der Kommissar hat gesagt, er melde sich noch einmal bei mir. Wenn er das nicht tut, rufe ich ihn an.«
»Gut. Aber heute nicht mehr. Das hat Zeit bis morgen.« Er schob den Teller von sich weg und stand auf. Sein Stuhl kratzte über den Fußboden. Josefine schrak zusammen. Er hatte recht. Sie hatte schon viel zu viel seiner Zeit in Anspruch genommen.
»Danke, dass du mir zugehört hast«, sagte sie, ging zur Garderobe und nahm ihren Mantel vom Haken. »Es ist auch wirklich schon spät. Ich gehe jetzt besser nach Hause.« Als sie sich umdrehte, stand André Lenzen dicht vor ihr.
»Wenn du möchtest, bleib«, sagte er, beugte sich vor und küsste sie.