Draußen empfing sie tiefe Dunkelheit. Auch aus den umliegenden Fenstern fiel kein Licht auf die Straße. Im Schimmer einer entfernten Straßenlaterne reflektierten die Schneeflocken, es schneite immer noch. Um sie herum war alles still. Kein Auto fuhr, und wenn doch, schluckte der Schnee jeden Laut. Josefine zog leise die Tür ins Schloss. Es wurde Zeit, nach Hause zu gehen. Mit einer Hand fasste sie ihren Mantelkragen enger und machte sich auf den Heimweg. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen.
André schlief noch fest. Fremde Geräusche hatten sie geweckt. Etwas hatte dumpf gegen das Metalldach geschlagen. Ein Ast vielleicht. Andrés Arm hatte über ihrer Taille legen, sein Bein über ihrem. Er war nicht aufgewacht, als sie sich behutsam aus seiner Berührung befreit hatte und aufgestanden war. Fünf Uhr. Sie hatte ihre Kleider zusammengesucht, sich im vorderen Teil der Wohnung leise angezogen. War zurück zum Schlafzimmer gegangen, hatte ihn vom Türrahmen aus betrachtet. Lächelnd in der Erinnerung an das, was geschehen war. An die Zärtlichkeit. Die Leidenschaft. Das Lachen. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie einander berührt hatten. Ohne einen Gedanken an Beates Tod, ohne Gedanken an die Jahre, die zwischen ihnen lagen, und irgendwann ohne jegliche Gedanken. Freude. Leben. Es hatte sich richtig angefühlt. Als müsste es so und nicht anders sein. Sie und er. Er und sie. Es machte sie leicht. Froh. Dort, wo vor wenigen Stunden noch kalter Zorn an ihr gerissen hatte, breiteten sich Wellen von Glück aus. Josefine wollte dieses Gefühl noch eine Weile mit sich führen, es bewahren. Bevor mit dem Tageslicht die Realität wieder ihren Platz beanspruchen und ihre Bedenken sie auf den kalten Boden der Tatsachen zurückholen würden.
Josefine querte den Marktplatz und hinterließ die erste Spur in der unberührten Schneedecke. Summend bog sie in die Gasse zur Agentur ein und zog klappernd ihren Schlüsselbund aus der Manteltasche.
»Wurde auch langsam Zeit«, sagte eine Männerstimme in der Dunkelheit. Ein Wagen parkte dicht an der Hauswand. Er musste schon lange dort stehen, denn auch in der Gasse war der Schnee unberührt.
Josefine blieb stehen. Ein Schatten löste sich aus dem Dunkel des Hauseingangs. Die Erinnerung an die letzten Stunden verblasste schlagartig mit dem nächsten Wort.
»Christian.«
»Wo kommst du her um diese Uhrzeit?«
»Meinst du nicht, das wäre mein Text?« Sie blieb vor ihm stehen und musterte ihn. Viel konnte sie in der Dunkelheit nicht erkennen. Er sah schlecht aus. Grau. »Komm erst mal rein, bevor du dir eine Lungenentzündung einhandelst.« Ohne ein weiteres Wort schloss sie die Haustür auf und bedeutete Christian, ihr in Beates Wohnung zu folgen. Sie schaltete das Licht ein, streifte die Stiefel ab und schälte sich aus dem Mantel. Sie ging weiter ins Wohnzimmer. Auch hier machte sie es so hell wie möglich. Hinter ihr hörte sie, wie Christian ebenfalls seinen Mantel und seine Schuhe auszog und ihr folgte. Sie wandte sich ihm zu, verschränkte die Arme. »Was willst du hier?«
»Wir müssen reden.« Er wirkte durchgefroren. Wie lange hatte er da unten auf sie gewartet? Stunden? Die ganze Nacht? Sie ging in die Küche, setzte Wasser auf. Öffnete den Schrank, nahm zwei Tassen und Teebeutel heraus. Pfefferminze mit zwei Zuckerwürfeln für Christian, im Ganzen hineingegeben, nicht umrühren, damit sie sich nicht komplett auflösten und er sie am Schluss mit dem Löffel herauskratzen konnte. Jahrelange Gewohnheiten, in Fleisch und Blut übergegangen.
»In Ordnung. Am besten erzählst du mir, warum du hier ohne Ankündigung auftauchst, wir klären, was zu klären ist, und dann verschwindest du wieder.« Sie stellte die Tasse auf den Küchentisch. Christian nickte zum Dank und setzte sich. Josefine blieb stehen, lehnte sich an die Spüle, hielt ihre Tasse mit beiden Händen umfasst. Sie blies den Dampf von der Oberfläche.
»Ich bin die halbe Nacht gefahren, dachte, du bist hier.«
»Jetzt bin ich hier.« Josefine kämpfte den Impuls nieder, ihm zu erklären, wo sie gewesen war und warum. Sie war ihm nichts schuldig. Keine Rechtfertigung, keine Bitte um Verständnis. Kurz durchfuhr sie der Gedanke, einem der Kinder könnte etwas passiert sein und Christian säße nur hier, um ihr die Schreckensnachricht selbst zu überbringen. Ihr Herz stolperte, und einen Moment lang vergaß sie zu atmen. Aber der Gedanke verließ sie so schnell, wie er gekommen war. Wenn dem so wäre, hätte er nicht bis hier oben geschwiegen. Christian mochte vieles sein, aber kein liebloser Vater. So etwas hätte er nicht vor ihr verbergen können. Dazu kannte sie ihn zu gut.
Christian rührte in seinem Tee, hob den Löffel heraus und leckte ihn ab, bevor er ihn neben die Tasse legte.
»Es ist wegen dem Haus.«
»Ist etwas passiert? Hat es gebrannt? Ist jemand eingebrochen?« Sie stellte ihre Tasse ab.
»Nein, nein. Alles in Ordnung.« Er griff wieder nach dem Löffel. »Wir werden das Haus verkaufen. Ich habe bereits alles in die Wege geleitet.«
»Wer ist wir?«
»Wir beide. Du und ich.«
»Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir beide, du und ich, darüber gesprochen und etwas in der Richtung entschieden hätten.«
»Das war mir klar.« Er verdrehte die Augen. »Du willst dich mal wieder querstellen. In dem Fall muss ich dich allerdings daran erinnern, dass dieses Haus mit dem Geld bezahlt wurde, das ich verdient habe. Ich habe nun andere Pläne, und dafür brauche ich das Geld.« Er sah sich in der Küche um, verzog das Gesicht zu einem abschätzigen Grinsen und ergänzte: »Du kannst mich natürlich auch auszahlen. Du hast schließlich geerbt.« Er trank einen Schluck und beobachtete sie über den Rand der Tasse hinweg. Josefine versteifte sich. Ihre Finger krallten sich um den Rand der Arbeitsfläche. Er hatte also Pläne. Vermutlich mit seiner Neuen, deren Ansprüche er erfüllen musste. Und dafür sollte sie nun ihr Zuhause aufgeben?
»Richtig. Du kennst mich sehr gut. Ich werde mich querstellen. Vor allem dann, wenn du einfach so über meinen Kopf hinweg Dinge entscheidest, die mein Leben betreffen.« Sie stieß sich von der Küchenzeile ab. »Dieses Haus ist mit dem Geld bezahlt worden, das du verdient hast. Das mag sein. Aber dieses Geld hättest du nicht verdienen können, wenn ich dir nicht den Rücken freigehalten und die Haushälterin für dich gespielt hätte. Du wolltest Kinder und Karriere ohne Einschränkung. Beides hast du bekommen, weil ich es dir ermöglicht habe. Dieses Haus gehört also auch mir.«
»Was willst du denn so ganz allein in dem großen Haus?«, warf Christian ein. »Mit dir selbst verstecken spielen? Sei doch nicht so irrational.«
»Das ist interessant. Sobald ich dir widerspreche, bin ich irrational.«
»Du wirst doch nicht behaupten wollen, es sei vernünftig, im Alter allein in einem großen Haus zu leben.«
»Wer sagt denn, dass ich das will?«
»Na also, geht doch.« Er fasste in die Innentasche seines Jacketts, zog eine Klarsichthülle mit Unterlagen hervor und legte sie auf den Tisch. Als Nächstes folgte ein Kugelschreiber, den er auf die Papiere warf, bevor er sich wieder zurücklehnte. »Hier. Unterschreib.«
Josefine starrte ihn fassungslos an. Sie hatte Mühe, sich davon abzuhalten, ihn anzuschreien und mit ihrer Tasse zu bewerfen. Sie holte tief Luft, hielt für einige Sekunden den Atem an. Wie sehr hätte sie sich jetzt Beate zur moralischen Unterstützung herbeigewünscht. Aber Beate war nicht da. Hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst.
»Ich möchte, dass du dieses Haus sofort verlässt, Christian.«
»Ja, ja. Unterschreib, und ich bin weg.« Christian stand auf, griff nach dem Stift und hielt ihn ihr entgegen.
»Ich werde das nicht unterschreiben. Selbst wenn ich zu dem Entschluss kommen sollte, das Haus nicht länger zu halten, wird dieser Entschluss nicht zwischen Tür und Angel fallen. Und schon gar nicht, weil du mich dazu drängst.« Sie nahm die Unterlagen, rollte sie zusammen und reichte sie ihm. Er rührte sich nicht.
»Ich habe mit den Kindern gesprochen. Sie sind einverstanden.«
»Du hast was?« Josefine schnappte nach Luft. Es war eine Sache, wenn Christian sie vor vollendete Tatsachen zu stellen versuchte, aber eine ganz andere, wenn er hinter ihrem Rücken die Kinder auf seine Seite zog und die nicht mit ihr darüber sprachen. Es verletzte sie auf einer Ebene, die mehr schmerzte als alles andere.
»Ich habe mit ihnen geredet und sie gefragt, ob sie damit einverstanden sind, dass wir das Haus verkaufen«, erklärte er langsam und bedächtig, als sei sie zu dumm, um ihn bereits beim ersten Mal verstanden zu haben.
»Raus. Sofort.« Josefine ging zur Wohnungstür, riss sie auf und wies ins Treppenhaus. Christian stand reglos neben dem Küchentisch.
»In dieser Sache ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Ich dachte, es ginge im Guten. Nun wird mein Anwalt sich bei dir melden.«
Schweigend starrte sie ihn an, bis er seinen Mantel nahm, die Wohnung und das Haus verließ. Erst als sie den Automotor starten und ihn wegfahren hörte, wich die Anspannung aus ihr. Leise schloss sie die Wohnungstür und ging zurück in die Küche. Wie ein Roboter nahm sie seine Teetasse, trug sie zur Spüle, ließ kaltes Wasser hineinlaufen, bis auch die letzten Zuckerreste verschwunden waren. Erst danach stellte sie sie in die Spülmaschine. Ihr eigener Tee war kalt geworden. Sie goss ihn mit Schwung in die Spüle, stellte die Tasse ins Becken. Mit beiden Händen stützte sie sich auf den Rand des Spülbeckens und sah zu, wie die letzten Teeschlieren in den Ausguss liefen.
Bei allen drei Kindern lief die Mailbox. Josefine legte jeweils auf, bevor die Aufzeichnung startete. Alles, was sie hätte sagen können, wäre unweigerlich ins Vorwurfsvolle abgeglitten. Sie wollte persönlich mit ihnen reden. Am besten von Angesicht zu Angesicht per Videochat. Frustriert warf sie ihr Handy auf das Sofa. Sie ließ sich rücklings hineinfallen, lehnte sich nach hinten und bedeckte ihre Augen mit dem Unterarm.
Christian wollte das Haus verkaufen. Er brauchte das Geld, für was auch immer. Seine Neue stellte Ansprüche. Was verlangte sie? Eine Kreuzfahrt? Ein neues Auto? Ein eigenes Haus, in dem sie mit Christian Erinnerungen aufbauen konnte? Wieder spürte sie das Brennen der Eifersucht, den Schmerz des Verlustes, den heftigen Wunsch, der neuen Frau in Christians Leben wehzutun, ihr ebenfalls Schmerzen zuzufügen, um die eigenen besser ertragen zu können. Hatte sich so auch Svenja gefühlt? Rachephantasien entwickelt? Wollte sie Beate ebenfalls wehtun? War aus der Phantasie Wirklichkeit geworden? Josefines Arm glitt von ihrem Gesicht, ihre Hand fiel schlapp auf das Sofa, als gehörte sie nicht zu ihr. Sie hatte das Gefühl, nie wieder aus diesem Sofa aufstehen zu können. Als wäre diese kleine Anstrengung ein unüberwindbares Hindernis. Wäre Svenja Beates Mörderin – Josefine könnte sie verstehen. Könnte nachvollziehen, wieso und was in ihr abgelaufen sein musste. Täterschaft und Opfersein waren zu verschwommen, um eine Grenze zu ziehen, an der sich Schuld zuordnen ließe. Sie schloss die Augen, presste die Fäuste an die Schläfen. Diese Gedanken waren nicht richtig. Jemanden zu töten, durfte nie eine Option sein. Niemals.
»Niemals«, sprach sie ihre Gedanken im Rhythmus ihres schnell schlagenden Herzens aus. »Niemals«, flüsterte sie, um sich selbst daran zu erinnern. Das Karussell ihrer Gedanken und Gefühle verlor an Fahrt, drehte sich langsamer. Sie öffnete die Augen und starrte an die Zimmerdecke. Sie musste wieder einen klaren Kopf bekommen. Dermaßen emotional kannte sie sich gar nicht. Und es tat ihr auch nicht gut. Systematik würde helfen.
Christian wollte das Haus verkaufen. Mal angenommen, es käme wirklich dazu. Was würde das für sie bedeuten? Sie verlöre den Ort, den sie lange Zeit ihr Zuhause genannt hatte. Folglich brauchte sie ein neues Zuhause. Ein neues Leben. Am besten an einem neuen Ort. Sie sah sich um. Warum nicht hier? Titzelsee war genauso gut wie jeder andere Ort für einen Neustart. Sie richtete sich auf.
»Gut, Josefine«, sagte sie zu sich selbst. »Dann solltest du jetzt schnellstmöglich klären, was es mit dem Testament auf sich hat.« Sie lauschte dem Klang ihrer Stimme nach. »Ich denke, das Testament klärt nicht nur meine Zukunft, sondern auch deine Vergangenheit, Beate«, rief sie laut, als stünde ihre Schwester im Bad und putzte sich die Zähne. Aber Beate blieb verschwunden.
Nach einer halben Stunde gründlichen Suchens in Schränken und Schubladen hatte Josefine zwar etliche Stellen entdeckt, die dringend einer Entrümpelung bedurften, aber kein Testament. Einige dieser etlichen Stellen erforderten eine intensivere Beschäftigung mit dem Gerümpel, um nichts zu übersehen. Josefine zog die unterste Schublade aus der Kommode im Wohnzimmer, trug sie zum Küchentisch und stürzte den kompletten Inhalt darauf. Ein Wust aus Papieren, Stiften, Küchenutensilien und Werkzeugen türmte sich vor ihr auf. Vereinzelt segelten Quittungen zu Boden. Ein Gummiball rollte an den Rand, lief ein Stück an der Kante entlang, bevor er sich für die Tiefe entschied. Mit einem lauten »Popp« titschte er auf den Boden auf, sprang in einem unkalkulierbaren Winkel zur Seite und verschwand unter den Sitzmöbeln. Er würde sich frühestens beim nächsten Staubsaugerdurchgang wieder bemerkbar machen oder aber für immer verschollen bleiben. Josefine zog den Mülleimer neben den Tisch und öffnete ihn. Dann nahm sie eine große Mülltüte, die sie an der Rückenlehne eines der Küchenstühle befestigte, und eine Papiertüte, die sie auf die Sitzfläche eines weiteren Stuhls stellte. Wenn schon sortieren, dann bitte auch richtig.
Obwohl sich Tonne, Tüte und Müllsack nach zwanzig Minuten bereits ordentlich gefüllt hatten, war der Berg auf dem Tisch noch nicht nennenswert abgebaut, als es an der Wohnungstür klingelte.
Christian? War er zur Einsicht gelangt, oder wollte er einen weiteren Versuch starten? Josefine ging zum Fenster, spähte hinaus. Kein Auto stand in der Gasse, aber das musste nichts heißen. Sie zögerte. Sollte sie ihm überhaupt öffnen? Aber zum einen würde er, wenn es Christian war, keine Ruhe geben, bis sie ihn einließ, und zum anderen bestand durchaus die Möglichkeit, dass es jemand anderes war. Candan Aydin. Oder André? Josefine ging zur Tür, drückte den Öffner und spähte in den Hausflur. Aber es war weder Candan Aydin noch André, der da die Treppe hinaufstapfte.
»Hallo, Herr Eichner.« Josefine empfand eine vage Enttäuschung, dass es nicht André war. Sie drängte das Bild von ihm auf der Treppe, bewaffnet mit einer Brötchentüte und seinem ganz persönlichen Lächeln, zur Seite und konzentrierte sich auf ihren Besucher.
»Guten Tag, Frau Jeschiechek. Ich hatte Ihnen zugesagt, noch einmal vorbeizukommen und mit Ihnen zu sprechen. Ich hoffe, Sie haben einen Moment Zeit?«
Josefine nickte, trat zurück in den Wohnungsflur und hielt ihm die Tür auf.
»Störe ich Sie beim Aufräumen?«, fragte er mit Blick auf den Küchentisch. »Soll ich ein anderes Mal wiederkommen?«
»Nein.« Josefine wies zum Sofa. »Wir können uns dort unterhalten. Ich möchte gerne mit Ihnen über einige Punkte im Mordfall meiner Schwester sprechen.«
»Der keiner ist, Frau Jeschiechek. Das hatte ich Ihnen am Telefon bereits gesagt. Deswegen bin ich hier. Um Ihnen zu erläutern, warum wir zu diesem Schluss gekommen sind.«
»Sind Sie sicher? Es gibt jede Menge Motive, Leute, die in Frage kommen.«
»Ja, ich bin sicher. Und was die Motive potenzieller Täter angeht: Die Menschen haben immer und zu allen Zeiten eine Menge Motive, einander umzubringen. Hass. Liebe. Eifersucht. Gier. Neid. Rache. Zum Glück nehmen die allermeisten letztendlich doch davon Abstand, ihre Gedanken in Taten umzusetzen.«
»Sie haben aber doch Ermittlungen angestellt.«
»Das haben wir.«
»Was ist dabei herausgekommen?«
»Frau Jeschiechek, sind Sie mit der Polizeiarbeit vertraut?«
Josefine zuckte mit den Schultern.
»Und damit meine ich nicht das, was man in Fernsehkrimis und in Büchern vorgesetzt bekommt. Das ist in der Regel sehr weit entfernt von dem, was wir tatsächlich tun. Allein der Papierkram. Davon würden Sie weder lesen noch es im Film sehen wollen.« Er hielt kurz inne. »Aber ich schweife ab. Bitte entschuldigen Sie. Was ich damit sagen wollte, ist: Es tut mir leid, dass das so lange gedauert hat, aber wir haben jahreszeitbedingt in den Laboren und in der Rechtsmedizin einen sehr hohen Krankenstand, und alles geht deutlich langsamer als gewohnt. Aber jetzt liegen die Autopsieergebnisse abschließend vor: Die tödliche Kopfverletzung Ihrer Schwester ist durch einen Sturz entstanden. Die Rechtsmedizinerin sagt, so wie es sich darstellt, ist Frau Silberzier vor der Agentur ausgerutscht, nach hinten gestürzt und hat sich am Vorsprung des Fensterrahmens die Verletzung zugezogen.«
Josefine verschränkte ihre Hände ineinander, blickte zur Seite. Sie wusste, welche Kante des Rahmens der Kommissar meinte.
»War sie sofort tot?«
Eichner atmete vernehmlich, ehe er fortfuhr: »Nein. Sie hat noch eine Weile gelebt. Sie hat lange dort gelegen.«
»Hätte sie …« Josefine schluckte. »Hätte man sie retten können, wenn man sie früher gefunden hätte?«
»Die Rechtmedizinerin sprach von einer fünfzigprozentigen Chance.«
»Also war es Schicksal.«
»Wenn Sie es so ausdrücken wollen.«
»Was ist, wenn ich Beweise dafür finde, dass es doch Mord sein könnte?«
»So seltsam es klingt, Frau Jeschiechek, aber im Laufe der Jahre habe ich erfahren, dass es für die Angehörigen einfacher ist zu glauben, jemand wäre ermordet worden, als zu akzeptieren, dass die Person bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Dann hat man jemanden, dem man die Schuld geben kann. Die Verantwortung. Fühlt sich der Willkür des Todes nicht so ausgesetzt.« Eichner erhob sich und reichte Josefine die Hand. »Es tut mir leid, dass ich es Ihnen nicht leichter machen kann. Wenn Sie Unterstützung durch unsere Psychologen brauchen, melden Sie sich bitte.«