»Ich wünschte und wünsche,
Gewalt zu vermeiden.
Gewaltfreiheit ist der erste und letzte Grundsatz meines Glaubens.«Mahatma Gandhi1
Manche Eltern geben die eigenen Verletzungen direkt weiter: Sie schlagen ihre Kinder, beschimpfen oder bedrohen sie. Die als wirksam erfahrenen Handlungsstrategien aus der eigenen Kindheit werden übernommen, ohne die eigenen Erfahrungen infrage zu stellen. Durch die Vermeidung der schmerzhaften Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit wird ein idealisiertes Bild der eigenen Eltern aufrechterhalten, und man muss sich der nochmals verletzenden Abwertung und Gewalt nicht stellen. Doch nicht alle geschlagenen Menschen schlagen später auch ihre Kinder. Viele wollen es anders machen, aber das Machtgefälle von Eltern und Kind und die fehlenden Handlungsalternativen in schwierigen Situationen haben sich so tief in uns eingebrannt, dass wir zwar nicht physisch gewaltvoll handeln, aber auch nicht gänzlich gewaltfrei mit den Kindern umgehen können. Oft ist der Ursprung der gewaltvollen Einstellung gar nicht so sichtbar oder leicht ableitbar, denn der Prozess, warum Kinder von ihren Eltern gewaltvoll behandelt werden, ist schwer zu durchschauen, und die psychischen Auswirkungen von Gewalt auf späteres Handeln werden verkannt. Sind wir selbst darin gefangen, sehen wir oft nicht, dass das eigene Verhalten wie im ersten Teil beschrieben eine Reaktion auf das Erlebte und die verinnerlichten Selbstbilder ist. Wir denken, wir würden frei entscheiden und handeln und scheinbar logisch auf das Verhalten des Kindes reagieren, dabei löst das Kind in uns ein Verhalten aus, das durch die früheren Verletzungen provoziert wird. Unsere eigene Erziehung, die Bilder unserer Vergangenheit wirken nach – selbst über den Tod der eigenen Eltern hinaus. Das, was Kinder brauchen, ein gutes Verhältnis von Freiheit und Unterstützung zur Erkundung auf der einen Seite und Nähe, Zuwendung und Sicherheit auf der anderen Seite, wird unterbrochen durch unsere eigenen verinnerlichten Erfahrungen. Diese blockieren unser Handeln im sogenannten »Kreis der Sicherheit«2. Das Konzept dieses Kreises geht zurück auf die Therapeuten Kent Hoffman, Glen Cooper und Bert Powell, die wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Bindungsforschung und Neurowissenschaft in ein alltagsnahes Interventionskonzept bei Problemen in der Eltern-Kind-Beziehung gebracht haben. Diesem Modell zufolge bewegen sich Kinder jeden Tag viele Male zwischen dem Bedürfnis nach Geborgenheit und Sicherheit und dem Bedürfnis nach Erkundung. Allerdings ist es für Erwachsene nicht immer einfach, einzuordnen, welches Bedürfnis das Kind gerade hat und wie genau sie darauf reagieren können. Wichtig ist laut Konzept, dass wir als erwachsene Bezugspersonen dem Kind gegenüber als »größer, weiser, stärker und gütig« erscheinen – dies gibt die notwendige Sicherheit.
Wo genau hierbei Probleme und Blockierungen liegen, können wir nur durch Reflexion unseres eigenen Verhaltens und unserer Erfahrungen aufspüren. Diese Blockierungen sind abhängig von den individuellen Erlebnissen bei jedem Einzelnen. Um solche Problemstellen aufzudecken, ist es sinnvoll, sich die klassischen Erziehungsstrategien anzusehen, die auch heute noch oft verwendet werden.
Der stille Stuhl, Gruselgeschichten, Nachtischverweigerung, emotionale Abwendung, Überwachung – viele Eltern betrachten diese »modernen« Methoden im Erziehungsalltag nicht als problematisch. Im Vergleich zu Schlägen mit der Rute, dem Setzen auf heiße Herdplatten oder dem Einsperren im Keller erscheinen sie nahezu sanft. Aber wir befinden uns damit immer noch im roten Bereich von Maßnahmen, die für die Entwicklung von Kindern aus verschiedenen Gründen nicht förderlich sind. In vielen Erziehungsmethoden, die wir nutzen, steckt Gewalt, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Sie ist nicht so offen sichtbar, ist subtiler. Und wir setzen die Methoden ein, weil wir dem Kind vordergründig ja helfen wollen, damit es sich gut in dem von uns festgelegten Rahmen bewegen kann. Deswegen versuchen wir, durch Belohnung oder Bestrafung, mittels Angst, Strafe und Konsequenzen das Kind zu formen und zu bewegen. Sich diese subtilen Formen von Gewalt bewusst zu machen, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer wirklich gewaltfreien Erziehung. Denn frei und unverbogen ist nur, wer ohne Druck und Gewalt wachsen darf.
Solche Sätze haben viele von uns sicher schon einmal gesagt: »Wenn du nicht an meiner Hand läufst, dann wirst du überfahren«, oder: »Wenn du nicht lieb bist, bekommst du eine Rute zu Nikolaus!« Gerade bei jüngeren Kindern arbeiten viele Eltern mit Angst: Sie ängstigen ihre Kinder, um ein gewünschtes Verhalten hervorzurufen. Auf den ersten Blick erscheint diese Methode sinnvoll und praktisch, denn sie spielt oft mit tatsächlich möglichen Problemsituationen, wie der heißen Herdplatte oder dem Straßenverkehr. Schauen wir aber genauer hin, was dieses Erziehungsmittel bewirkt. Bei Kindern im Kleinkindalter ist dieses Erziehungsmittel wirksam, da Kinder innerhalb des Bindungssystems auf Schutz und Zuwendung angewiesen sind. Indem wir Angst in ihnen erzeugen, signalisieren wir unseren Kindern, dass wir sie nicht schützen würden oder könnten.
Das Zähneputzen ist gerade bei Kleinkindern oft ein Problem, wenn sie »einfach« nicht mitmachen wollen: Der kleine Mund geht zu, der Kopf wird geschüttelt. Viele Eltern arbeiten an dieser Stelle gegen den Willen des Kindes mit körperlicher Gewalt, teilweise wird dies sogar von Zahnärzt*innen angeraten. Wer dies ausschließt, greift oft auf Angst als Mittel der Wahl zurück: »Wenn du die Zähne nicht putzt, dann bekommst du Karies und das tut weh, und der Zahnarzt muss mit einem Bohrer in deinem Mund bohren und dir eine Spritze geben.« Viele Kleinkinder lassen sich auch von solchen Geschichten nicht beeindrucken, denn sie sind zu abstrakt für ihre Vorstellungen. Was sie aber hinterlassen können, ist eine Angst vor dem Besuch der Zahnarztpraxis. Viele Eltern denken, eine solche Geschichte wäre eben eine »logische Konsequenz«, tatsächlich ist es aber ein Arbeiten mit Ängsten, durch die sie sich auch ihrer eigentlichen Elternaufgabe entziehen. Natürlich ist es schwierig, etwas zu tun, wenn das Kind nicht will. Aber unsere Verantwortung als Eltern ist es, einen gewaltfreien Weg dafür zu finden, Kinder zu schützen und ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Genau das ist Elternschaft, alles andere ist nur Zwang. Wir müssen also kreativ sein und überlegen: Ist es die falsche Uhrzeit? Ist das Kind zu müde? Hilft ein Lied, Video, eine Handpuppe, ein Spiel, eine Zahnfärbetablette …?
Wir sollten unsere Kompetenz und Verantwortung nicht abgeben und Ängste heraufbeschwören, auf die das Kind eher hören könnte als auf uns. Das Kind kooperiert aus Aufrichtigkeit und Beziehung – wenn die Rahmenbedingungen für das kindliche Denken und seine eigenen Möglichkeiten stimmen. Auch an dem typischen »Angstort der befahrenen Straße« können wir sicherheits- und bindungsorientiert argumentieren, indem wir zum Beispiel sagen: »Wenn du an meiner Hand läufst, kann ich noch besser aufpassen und dich vor Gefahren schützen.« Und im Falle des Nikolaus oder Weihnachtsmanns ist es sinnvoller, dass wir als Erwachsene hinter den Werten und Regeln stehen, die wir vermitteln wollen, und nicht eine andere Instanz vorschieben. Statt »Wenn du nicht lieb bist, dann …« (wobei Kleinkinder schon allein mit dem Konstrukt »lieb« nichts anfangen können) können wir je nach Situation die Werte vorbringen, die gerade wichtig sind: »Wenn du deinen Bruder beißt, tut ihm das weh. Wir verletzen uns nicht gegenseitig in der Familie. Wenn du wütend bist, kannst du auch xy machen, das ist okay.« Lagern wir die Bestrafung auf angsteinflößende imaginäre Personen oder religiöse Bilder (»… dann kommst du in die Hölle«) aus, verschwinden wir als Personen mit unseren Werten hinter einer Methode.
Ähnlich ist es mit angsteinflößenden Märchen und Geschichten. »Der Schwarze Mann/Piet kommt und holt dich, wenn du unartig bist« oder »Der Krampus holt dich ab!« – mit solchen Androhungen ängstigen wir Kinder und befördern möglicherweise zugleich unterschwellig Rassismus in ihrem Denken. Tatsächlich gibt es Familien, in denen damit nicht nur gedroht wird, sondern Kinder im Rahmen der Adventsfeierlichkeiten vom »Krampus« in einen Sack gesteckt werden, um ihnen zu verdeutlichen, dass sie unartig waren. Angst machende Erziehungsmaßnahmen zeigen bei kleinen Kindern durchaus eine Wirkung, was sich in verstärkten Ängsten und späteren Problemen äußert.
Eltern geben auch dort ihre Schutzfunktion auf, wo sie sich selbst als Instanz inszenieren und in der dritten Person über sich sprechen: »Jetzt musst du aber mit Mami mitkommen!«, oder: »Papa möchte das nicht, dass du an den Haaren ziehst!« Wenn wir so sprechen, geben wir in gewisser Weise uns selbst als Person auf und konfrontieren das Kind mit der Instanz »Mutter« oder »Vater«. Mit keinem anderen Menschen reden wir in einer solchen Weise. In einer zu engen Bahn würden wir einem anderen Menschen niemals sagen: »Können Sie bitte ein wenig von Frau wegrutschen, das ist ihr zu eng!«, oder an der Supermarktkasse: »Entschuldigung, Sie haben sich da vor Mann vorgedrängelt!« Wir nutzen diese Formulierung ausschließlich, um unsere machtvollere Position zu rechtfertigen und klarzumachen, dass das Kind der Mutter oder dem Vater folgen soll. Kinder aber folgen nicht automatisch einer Person, nur weil sie in unserem erwachsenen Sinne eine Autorität ist. Sie folgen einem Wunsch, einer Anweisung aufgrund von Beziehung. Diese Beziehung entsteht in der Eltern-Kind-Beziehung durch Authentizität und nicht, weil wir gegenüber unserem Kind eine Machtposition behaupten.
Angst als Erziehungsmittel kommt auch da zum Einsatz, wo wir uns bewusst vom Kind abwenden und mit Liebesentzug drohen: »Lass mich in Ruhe!«, »Mit einem Kind, das andere haut, möchte ich auch nicht spielen!« Liebesentzug ist für Kinder eine furchtbare und schmerzhafte Erfahrung. Sie lernen, nur dann geliebt zu werden, wenn sie ein bestimmtes Verhalten zeigen, was sich auf ihr Selbstwertgefühl und auch auf ihre spätere Beziehungsgestaltung auswirkt. Dabei verlernen sie auch, sich und ihre eigenen Bedürfnisse wirklich wahrzunehmen und zu verstehen. Ein Problem, das viele Erwachsene kennen, die keinen Zugang zu ihren eigenen Bedürfnissen haben und oft zu spät merken, wenn sie ihre eigenen Grenzen überschreiten. Und nicht nur das: Liebesentzug führt zu schlechterer emotionaler Gesundheit, und die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Depressionen steigt. Auch die moralische Entwicklung von Kindern, die mit Liebesentzug erzogen werden, leidet, da sie ihren Fokus auf die starre Einhaltung von erlernten Regeln richten. Der Pädagoge Alfie Kohn führt dementsprechend aus: »Wenn es uns ein ernstes Anliegen ist, unseren Kindern zu helfen, zu mitfühlenden und psychisch gesunden Menschen heranzuwachsen, müssen wir uns bewusst werden, wie schwer das ist, wenn wir uns auf Liebesentzug […] stützen.«3 Liebesentzug und ein bewusstes Ignorieren sind Formen stiller Gewalt.
Eine weit verbreitete Methode der Umsetzung des Liebesentzugs ist nicht nur die bewusste Abwendung vom Kind, sondern auch die sogenannte »Auszeit«: Spätestens seit Anfang der 2000er-Jahre hat diese Methode nach dem erfolgreichen, aber teilweise gegen die Menschenwürde verstoßenden4, voyeuristischen Fernsehformat »Super Nanny« in vielen Familien, aber auch Kindergärten Einzug gehalten und findet sich auch heute noch in der pädagogischen Praxis und in vielen Familien wieder.5 Ursprünglich der Konditionierung von Tieren entnommen, wurde diese Methode, Kinder bei einem abweichenden Verhalten eine Strafzeit in einem extra Raum (oder einer Treppe/einem Stuhl/einer Bank) zu verordnen, in das amerikanische Erziehungsprogramm »Triple P« übernommen, von wo aus es sich weiter verbreitete. Kinder werden bei unerwünschtem Verhalten ausgegrenzt, von Zuwendung, Sicherheit und Beziehung getrennt, ihrer Freiheit beraubt und nicht selten zusätzlich bedroht: »Wenn du jetzt trotzdem rauskommst, dann …« Hier kommen verschiedene Aspekte von Bestrafung und Gewalt zusammen, die dem Kind vermitteln, dass es sich unterzuordnen hat und nicht liebenswert ist.
Es gibt eine Alternative zum Liebesentzug: Zunächst müssen wir die Situation reflektieren, in der sich das Kind befindet: Habe ich realistische Vorstellungen von kindlichem Verhalten? Welche Alternativen hat das Kind gerade? Was liegt seinem Handeln zugrunde? Wie kann ich handeln, ohne eine Grenze zu verletzen? Es ist okay, wenn wir erklären, dass wir eine kurze Pause brauchen, um uns selbst zu beruhigen. Es ist auch okay, die eigenen Gefühle zu benennen: »Das hat mich jetzt sehr verletzt!« Auch hier geht es, wie so oft, um unser Handlungsziel: Sage ich etwas Verletzendes oder entferne ich mich vom Kind, um das Kind zu verletzen und dadurch zu erziehen, oder weil ich wirklich einen Moment der Ruhe brauche oder meine Gefühle mitteile, um die Situation zu beschreiben. Eine etwas andere Form des Zuwendungsentzugs ist Beziehungsentzug, der nicht absichtlich als Strafe geschieht, sondern als unbewusste Reaktion, oft aufgrund der eigenen negativen Kindheitserfahrungen: Wir gehen unserem Kind und seinen Bedürfnissen unbewusst aus dem Weg. Wir empfinden es als Last, mit dem Kind zu spielen, und schieben im Alltag verschiedene Dinge vor, um nicht mit dem Kind interagieren zu müssen: »Ich kann jetzt nicht mit dir spielen, ich muss noch die Wäsche machen«, »Jetzt passt es gerade wirklich nicht, ich muss unbedingt noch …«, »Komm, geh mal lieber alleine in dein Zimmer spielen«. Natürlich müssen wir als Eltern nicht beständig unsere Kinder bespielen, mit ihnen Bücher ansehen, Kinderfernsehsendungen gucken und Handyspiele gegen sie zocken, aber wir sollten ihnen Beachtung schenken. Das Kind fühlt sich gesehen und wertgeschätzt, und wir erfahren etwas über unser Kind. Wenn wir selbst erfahren haben, dass niemand auf uns eingegangen ist, wir nicht in einen echten, wertschätzenden Dialog kommen konnten und wenig Spielerfahrungen mit unseren Eltern gemacht haben, fällt es uns oft schwer, es anders zu machen. Es fällt uns schwer, uns auf ein gemeinsames Spiel einzulassen, in dem das Kind mitbestimmt, und es ist schwer, sich für die Fantasie des Kindes zu öffnen und die Situation auszuhalten. Manchmal wenden wir uns bewusst anderen Aufgaben zu oder suchen eine Ausflucht aus der Situation. Gerade in einem Alltag, in dem unsere Bedürfnisse nach sozialer Interaktion mit gleichaltrigen Menschen zu wenig berücksichtigt werden, kommen wir schnell in Versuchung, dem Kind zum Beispiel mittels Smartphone auszuweichen. Das Kind aber spürt diese Zurückweisung und auch, dass seine sozialen Interaktionen ins Leere laufen, während sich der eigentlich körperlich anwesende Elternteil emotional auf etwas anderes fokussiert. Das ist schmerzhaft und für die Entwicklung des Selbstwertes unvorteilhaft. Wenn wir merken, dass wir immer wieder versuchen, aus der Nähe auszubrechen, und Ablenkung aus der Interaktion mit dem Kind suchen, sollten wir uns diesem Problem zuwenden. Es ist nicht deine Schuld, wenn du so fühlst. Aber du musst diese Last nicht weiterreichen. Wir können unser Interesse am Kind und die Freude am gemeinsamen Umgang durch ganz bewusste Zuwendung, Spiele, die unseren Interessen entgegenkommen, oder gemeinsame Tätigkeiten im Haushalt aufbauen und so immer tiefer in den gemeinsamen Dialog und das Miteinander einsteigen, wenn wir den gemeinsamen Nenner finden. Und den gibt es eigentlich immer, und er kann von Familie zu Familie verschieden sein.
Natürlich ist es manchmal lustig, Kindern Unsinn zu erzählen. Und natürlich ist Humor etwas, das uns wirklich gut durch den Elternalltag tragen kann und sollte, denn damit sind die schwierigen Momente des Elternlebens oft viel leichter zu ertragen. Und wer kennt nicht die Ausrede: »Äh nein, das darfst du nicht essen, da ist Alkohol/Koffein drin!« Aber auch Lügen und Tricks sollten nicht dazu dienen, unsere Verantwortlichkeit zu übernehmen. Wenn ich etwas nicht will, muss ich ganz klar dahinterstehen.
In der Serie How I met your mother behauptet die erwachsene Hauptperson Ted, dass er eine Bacon-Allergie habe.6 Auf einem Ausflug erklärt sein Freund Marshall ihm, dass diese Allergie eine Lüge von Teds Mutter war, damit er sich als Kind gesund ernährt. Ted zählt daraufhin auf, wogegen er laut seiner Mutter allergisch ist: Bacon, Donuts, Halloweensüßigkeiten, nicht Danke zu sagen … Und er merkt bei dieser Aufzählung, dass »Allergie« als Erziehungsmethode genutzt wurde. Natürlich ist dies überspitzt dargestellt, aber dennoch verwenden viele Eltern solche Lügen, um der eigenen Verantwortung aus dem Weg zu gehen, ganz ähnlich wie die »höheren Instanzen« von Weihnachtsmann, Gott etc. zur Verhaltensbeeinflussung genutzt werden. Wenn wir unserem Kind etwas nicht zugestehen oder nicht erlauben wollen oder können, dann sollten wir dahinterstehen. Wenn wir nicht wollen, dass unser Kind etwas tut oder isst, dann müssen wir das benennen und auch die Reaktion des Kindes tragen und begleiten. Das ist unsere Verantwortung.
Das klingt nicht kompliziert, aber es ist auch nicht einfach. Wir schieben lieber etwas oder jemanden vor, um uns der Verantwortung zu entziehen und somit einem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Auf der anderen Seite sollte auch das Kind keine Ausrede für unser Handeln sein: »Wir müssen leeeiiider schon gehen, das Baby ist müde.« Es ist eine gute Übung für die Elternschaft, mit Klarheit voranzugehen, denn diese Klarheit und Selbstsicherheit brauchen wir in den späteren Jahren mit unseren Kindern. Wir müssen unsere eigenen Bedürfnisse benennen und für sie einstehen können – auch wenn es oft genau das ist, was wir in der eigenen Vergangenheit nicht lernen durften und was uns heute deswegen oft nicht leichtfällt.
Das Bild vom untergebenen Kind, das sich nach unseren Vorstellungen richten soll, weil wir Erwachsenen intelligenter, erfahrener, weitsichtiger sind, kommt oft in der Aussage »Weil ich das so will!« zum Ausdruck. »Warum darf ich da nicht hingehen?«, »Warum darf ich nicht damit spielen?« – »Weil ich das so will!«. Ich bestimme, und du hast dich unterzuordnen. Kleinen Kindern nehmen wir damit die Chance, Zusammenhänge zu verstehen, wenn wir ihnen nicht erklären, warum etwas so nicht getan werden soll. Das bedeutet nicht, dass es keine Situationen geben darf, in denen unsere Stimme zählt. Aber es ist gut, auch kleinen Kindern einen Grund zu nennen – und sei es: »Weil ich jetzt einfach damit überfordert bin!«, »Weil es mir persönlich gerade zu viel ist!« So bekommen Kinder einen Einblick in unsere Gefühlswelt, in unsere Bedürfnisse. Sie werden nicht verstehen, warum sie nie frisch bekleidet in eine Pfütze springen sollen, wenn wir ihnen nicht sagen, dass es uns einfach zu viel ist, sie immer wieder neu anziehen zu müssen. Wenn das unser Grund ist.
Das »Weil ich das so will!« nutzt sich zudem mit dem Alter der Kinder ab – je weiter sie sich räumlich von uns und von der Schutzbedürftigkeit entfernen, desto weniger hat dieses Scheinargument Gewicht. Größere Kinder und Jugendliche reagieren auf ein »Weil ich das so will!« verständlicherweise mit Abwehr und Neugier. Denn sie bekommen keine Erklärung und wollen ihre eigenen Erfahrungen machen. Und dann probieren sie eben ohne Rückendeckung der Eltern aus, was ihnen pauschal und ohne Erklärung verwehrt wird. Gerade dann, wenn Eltern Dinge verbieten, ohne selbst genau darüber Bescheid zu wissen:
»Ich möchte gerne dieses Online-Koop-Survial-Spiel spielen!«
»Nein, das möchte ich nicht.«
»Aber warum? Alle spielen das!«
»Nein, ich hab gesagt, dass du das nicht spielen darfst, und danach richte dich!«
»Aber warum darf ich das nicht?«
»Weil ich das sage!«
Vielleicht haben wir irgendwo gehört, dass Spiele wie Fortnite nicht gut sein sollen, aber so richtig wissen wir nicht, worum es geht. Wir schieben eine gehörte Theorie vor eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Vielleicht, weil es kompliziert ist, weil wir uns damit nicht auskennen oder weil wir einfach gerade keine Zeit oder keinen Nerv haben. Aber auch hier entfernen wir uns aus der elterlichen Verantwortung. Wenn das ein Thema unseres Kindes ist, müssen wir uns damit beschäftigen. Hilfreicher ist ein Austausch mit echtem Interesse, und wir können auch zugeben, wenn wir etwas nicht genau wissen: »Ich habe davon nichts Gutes gelesen, aber lass es uns mal zusammen ansehen, und dann besprechen wir es.« Und wenn wir dann immer noch unsere Meinung haben, dann ist es ein Nein aus guten Gründen. Und das ist auch okay, denn es passiert aus einer überlegten, schützenden Beziehungshandlung, nicht aus einer Machthandlung heraus. Aber vielleicht ist es auch ein Ja.
Betrachten wir Kinder als unvollkommen, unselbständig und als zu erziehende Wesen, so wie es aus der Geschichte der Kindheit und Pädagogik abgeleitet wird, gehen wir davon aus, dass Kinder selbst nicht wissen, was sie brauchen. Im Gegenzug gehen wir Erwachsene davon aus, alles ganz genau zu wissen: »Du bist zu warm angezogen!«, »So lange darfst du nicht rausgehen, weil du sonst morgen müde bist!«, »Wenn du jetzt etwas isst, hast du nachher keinen Hunger!«. Wir greifen ein, wir greifen vor. Weil wir glauben, dass Kinder bestimmte Entscheidungen nicht für sich treffen können. Tatsächlich fehlt ihnen ein gewisses Erfahrungswissen. Doch sie haben durchaus eine Eigenwahrnehmung, zum Beispiel in Bezug auf Schmerz (»Das Haarebürsten tut doch nicht weh!«), Wärme und Kälte (»Du frierst doch, wenn du jetzt keine Jacke anziehst!«) oder auch Hunger, Durst und Sättigung oder das Ausscheidungsbedürfnis (»Geh lieber auf Toilette, du musst doch bestimmt!«). Wenn wir unseren Kindern die Kompetenz für eine eigene Wahrnehmung absprechen, untergraben wir ihr Gefühl für ihre Wahrnehmung. »Dir ist warm, aber ich sage dir, dass du frierst, also zieh die Jacke an!« Und wir schaden unseren Kindern auch auf körperlicher Ebene, wenn wir sie beständig dazu auffordern, noch schnell vor dem Rausgehen auf Toilette zu gehen: So erlernt das Kind ein falsches Blasendranggefühl und entwickelt kein gutes Bewusstsein dafür, wann es wirklich muss. Natürlich ist es anstrengend, wenn das gerade fertig angezogene Kind sagt, dass es nun doch noch einmal auf Toilette muss. Aber es dauert nur eine kurze Zeit, bis das Kind dies besser einschätzen kann. Es ist nicht weniger anstrengend, über Jahre hinweg ein Kind zu haben, das sein Ausscheidungsbedürfnis nicht richtig einschätzen kann.
Da wir uns der Würde von Kindern oft nicht bewusst sind und sie weniger respektieren als die erwachsener Menschen, sind Beschämungen und Entwürdigungen an vielen Stellen anzutreffen: Wenn Kinder vor anderen darauf hingewiesen werden, dass ein Junge oder ein Mädchen dieses oder jenes nicht tragen würde. Wenn Erwachsene in der Öffentlichkeit am Po eines Kindes riechen und weil die Windel voll ist eine abfällige Bemerkung darüber machen. Wenn ein Kind ein Oberteil mit einer es beleidigenden Aussage angezogen bekommt, die es noch nicht lesen kann. Wenn wir abfällig über fehlende Kompetenzen des Kindes in seinem Beisein sprechen … All dies sind Formen psychischer Gewalt, die sich auf das Selbstbild des Kindes auswirken. Eigentlich werden sie verwendet, um das Kind zu disziplinieren oder um unserer eigenen Verärgerung Raum zu geben – auf Kosten der Würde des Kindes.
Gerade im Kontext von Social Media sollten wir unser Augenmerk noch bewusster auf die Demütigung von Kindern richten. Hier werden Videos und Memes von Kindern gern zur Erheiterung von Erwachsenen genutzt. »Witzige« Babyvideos zeigen, wie Kinder mit ihrem Töpfchen umfallen, sich erschrecken oder wie Babys von ihren Eltern dazu aufgefordert werden, in eine Zitrone zu beißen. Diese und ähnliche Videos werden auf Facebook, Twitter und YouTube verbreitet, Erwachsene lachen darüber, obwohl es oft demütigende Situationen sind, die die Persönlichkeitsrechte der Kinder übergehen.7
Demütigungen quälen Kinder nicht nur in Erwachsenen-Kind-Beziehungen, sondern setzen sich auch zwischen Kindern fort. Es ist auch ein häufiges Mittel, das bei Mobbing eingesetzt wird – Kinder werden in ihrer Würde verletzt und ausgegrenzt. Auch hier kommt den erwachsenen Personen eine Schutzfunktion zu, da gemobbte Kinder sich oft nicht allein aus der Situation befreien können.
Es gibt nur wenige Räume, in denen sich Kinder frei und ohne Aufsicht bewegen, experimentieren und verhalten können. Beständig sind sie im Blickfeld der Erwachsenen und dadurch oft in ihren Handlungen eingeschränkt, oder sie werden in diesem Blickfeld pädagogisiert: »Mach doch lieber dieses!«, »Spiel doch lieber das!«, »Nein, Kämpfen spielen wir hier aber nicht!« – eine freie Entwicklung nach ihren Wünschen, Ideen und Vorstellungen ist hierbei kaum möglich. Aber Kinder brauchen genau das: Zeiten und Räume, in denen sie ihren Ideen und Vorstellungen nachgehen können. In diesen Freiräumen lernen sie auch den Umgang mit Frustration, aber nur wenn Eltern nicht beständig eingreifen und vorab intervenieren. Die Vorenthaltung von frustrierenden Erlebnissen ist eine weitere Entwicklungseinschränkung zum Nachteil der Kinder.
Setzen wir uns einen Nachmittag auf einen beliebigen Spielplatz, sehen wir deutlich, welche Probleme sich durch beständige Überwachung ergeben können. Der Spielplatz ist schon lange kein Raum des freien Spiels für Kinder mehr. Wenn wir hier sitzen, können wir beobachten, wie ständig in das Spiel der Kinder eingegriffen wird: »Die Rutsche ist aber zum Rutschen und nicht zum Hochlaufen!«, »Jetzt gib dem anderen Kind mal die Schippe ab!«, »Komm, ich helf dir mal, da raufzuklettern, wenn du noch nicht rankommst«. Eltern greifen fortwährend ein und nehmen Kindern so die Chance, Konflikte selbständig zu regeln, sich körperlich auszuprobieren und auch damit umzugehen, wenn sie an ein Spielgerät vielleicht nicht hinanreichen.
Selbst in Kindergärten sind diese Möglichkeiten durch Bildungsangebote immer weniger geworden: Hier wird geforscht, es werden Projekte durchgeführt, und die Tagesstruktur ist genau getaktet. Was Kinder aber brauchen, sind freie Momente und Pausen von der Pädagogik, die die Möglichkeit zum freien Spiel, zum Mut und Selbsttun eröffnen. Durch die ständige Pädagogisierung und ein durchstrukturiertes Programm erfahren die Kinder nicht nur Überwachung, sondern auch eine Informationsüberflutung, eine Überreizung mit Angeboten, Ansprachen, Aufgaben und Forderungen. Wer ständig im Rampenlicht steht, ständig gesagt bekommt, was getan werden darf und was nicht, ist irgendwann erschöpft davon, überreizt von der Anpassung und dem Sichverstellen. Gerade wenn Kinder am Nachmittag vom Kindergarten abgeholt werden, ist diese aufgebrauchte Kooperationsfähigkeit bei vielen Kindern zu beobachten: Auf einmal, wieder in den Armen der primären Bezugspersonen, geht nichts mehr: kein Anziehen, kein Laufen. Erst einmal wird Luft abgelassen, werden Sicherheit und Bindung eingefordert. »Ich kann nicht laufen, trag mich!« oder »Ich hab Hunger!« können Sätze sein, hinter denen das Bedürfnis nach Beziehung und Zuwendung steht, nach Loslassen und endlich nicht mehr Kooperierenmüssen. Und auch der Wunsch danach, endlich wieder ganz gesehen zu werden, nachdem viel Zeit in einem Raum der Anpassung und Pädagogik verbracht werden musste. Die oft schlechte Laune beim Abholen aus Kindergarten oder Schule können wir als ein Ausatmen betrachten. Auch wenn wir die Kooperation der Kinder als selbstverständlich annehmen und einfordern, ist sie das nicht. Beständige Kooperation ist anstrengend, nicht nur für kleine Kinder.
Werden die Kinder größer und können – auch sozial anerkannt – sich aus dem Wirkungskreis der Eltern selbständig fortbewegen, nutzen viele Eltern sogenannte Tracking-Apps. Und auch wenn dahinter die Sorge der Eltern über das Wohlergehen steht, sind solche Apps dennoch einschränkend, überwachend und disziplinierend. Das eigentliche Problem, das dahintersteht, ist das mangelnde Vertrauen der Eltern in die Kompetenz, Selbständigkeit und das Verantwortungsgefühl der größeren Kinder und Jugendlichen. Dies rührt entweder daher, dass dieses Vertrauen nie ausgebaut wurde oder dass die Eltern den Absprung von der Kinderphase zur Jugendlichenphase nicht schaffen und nicht loslassen können. Dieses Problem basiert meistens nicht in erster Linie auf den Handlungen der Kinder, sondern auf den Gedanken und Einstellungen der Eltern. Wenn ich als Elternteil meinem älteren Kind nicht vertraue, sollte ich nicht zuerst meinem Kind die Schuld dafür geben, sondern überlegen, warum genau ich das nicht tue und welchen Anteil ich persönlich daran habe. Kompetenz, Selbständigkeit und Verantwortungsgefühl können Kinder nicht ausbauen, wenn sie beständig überwacht werden und sich auch (notgedrungen) der Überwachung ausliefern müssen. Ohne echtes Vertrauen lernen weder die Kinder nachhaltig einen kreativen Umgang mit Problemsituationen, noch bilden die Eltern irgendwann echtes Vertrauen aus, das sich auf die Kompetenz der Kinder bezieht und nicht auf das schnöde Einhalten der elterlichen Regeln. Kindern zu vertrauen bedeutet, sich darauf zu verlassen, dass sie in schwierigen Situationen die passenden Entscheidungen treffen. Diese Fähigkeit können sie ausbilden, wenn wir sie mit Lösungsstrategien experimentieren lassen. Als Eltern stehen wir bei älteren Kindern vor allem als Back-up zur Verfügung, wenn die eigenen Lösungen nicht funktionieren. Als sichere Notfalllösung. Aber wir müssen in Problemsituationen nicht immer die erste Wahl sein.
Auch Vergleiche in sozialen Kontexten spielen mit Ängsten von Kindern, in einer sozialen Gruppe weniger wert zu sein oder nicht dazuzugehören. Werden wir Menschen aus einer Gruppe ausgeschlossen, fühlen wir uns in Bezug auf Kontrolle, Selbstwert, Zugehörigkeit und dem Bedürfnis nach einem sinnvollen Dasein bedroht. Der Ausschluss aus einer Gruppe, Ablehnung und Zurückweisung aktivieren dieselben neuronalen Netzwerke wie körperliche Schmerzen. Die Schmerzschwelle sinkt, und wir werden empfindsamer. Stellen wir uns folgende Situation vor:
Zwei Geschwisterkinder sollen sich anziehen. Das jüngere Kind bekommt die Jacke nicht zu, das Elternteil sagt: »Jetzt beeil dich endlich. Warum kannst du das noch nicht? In deinem Alter konnte sich dein Bruder schon längst die Jacke zumachen!« Natürlich befördert dies nicht das Können des Kindes. Aus Hast klemmt es sich den Finger im Reißverschluss ein. Vielleicht wäre es sonst darüber hinweggegangen. Jetzt aber weint es laut auf. »Und jetzt heulst du auch noch herum, als sei sonst was passiert. Stell dich nicht so an!«
Kinder sind einzigartig und wollen als individuelle Personen wahrgenommen und wertgeschätzt werden. Aus einem unhinterfragten Wettbewerbsdenken heraus nutzen Eltern Vergleiche mit anderen Kindern oft als Ansporn: Wenn das Kind sieht, dass ein anderes etwas schon kann, dann will es das bestimmt auch. Kleine Kinder denken aber noch nicht in solchen Kategorien, und wir sollten viel mehr auf Kooperation statt Wettbewerb setzen. Dies nicht nur im Alltag, sondern auch in angeleiteten Spielen, in denen oft Wettbewerb statt Kooperation im Fokus steht. Vergleiche dienen daher nicht einer Schulung, sondern einer Beschämung des Kindes; es fühlt sich weniger wert. In der oben genannten Situation hätte das Kind gefragt werden können, ob es Hilfe braucht, oder das größere Kind hätte zur Unterstützung angeregt werden können: »Vielleicht kann dein Bruder dir noch mal zeigen, wie es geht.«
Gerade bei mehreren Kindern in einer Familie kann es sein, dass einzelne Kinder bevorzugt behandelt werden. Von Eltern ist oft zu hören: »Natürlich liebe ich alle meine Kinder gleich stark!« Aber wenn wir ehrlich sind, ist das nicht immer der Fall. Manche Kinder stehen uns wegen ihres Temperaments oder ihrer Interessen näher, manchmal fühlen wir uns vielleicht über eine Zeit von einem Kind emotional etwas distanziert. Auch bei Familien mit Stiefkindern können zwiespältige Gefühle vorkommen. Das ist normal. Wichtig ist aber, einen Blick dafür zu haben, ob wir generell ein Kind über längere Zeit bevorzugen beziehungsweise ein anderes vernachlässigen. Die fehlende Balance in der Zuwendung wird schon von kleinen Kindern als Ungerechtigkeit empfunden und kann sich ebenfalls auf ihr Selbstwertgefühl auswirken: Sie erfahren, dass andere mehr wertgeschätzt werden, und können sich aufgrund ihrer Temperamentseigenschaften diskriminiert fühlen. Obwohl sie das natürlich so noch nicht in Worte fassen können, übertragen sie es auf sich selbst, was mitunter zu einer Veränderung des Verhaltens führt. Kinder, die sich nicht gesehen fühlen, zeigen dann manchmal ein auffälliges Verhalten, um Aufmerksamkeit zu erlangen.
Nach der Geburt ihres kleinen Bruders ist Florentine lauter und aufbrausender als zuvor. Wenn sie etwas nicht bekommt, schreit sie laut auf, wirft auch mal Dinge herunter, und bei den Mahlzeiten des Babys drängt sie sich dazwischen. Ihre Eltern Birte und Sven sind ratlos. Sven hat extra Elternzeit genommen, um sich Florentine zu widmen, aber trotz seiner Aufmerksamkeit ist Florentine wie ausgewechselt. Aus Florentines Sicht hingegen hat sich alles verändert, und sie fühlt weniger Zuwendung und Aufmerksamkeit von der Person, mit der sie bisher am meisten Zeit verbracht hat und die bislang die meiste Zeit mit ihr zusammen war: ihrer Mutter. Da Sven eigentlich einen Vollzeitjob hat und Birte nur halbtags gearbeitet hat und die letzten Wochen vor der Geburt in Mutterschutz war, ist Birte in der Hierarchie an Bezugspersonen ganz oben bei Florentine. Der plötzliche Wechsel der Bezugspersonen und die vermehrte Sorge von Birte um das kleine Geschwisterkind lassen in ihr ein Gefühl der Vernachlässigung aufkommen, obwohl ihr Vater sich um sie kümmert. Hier wird nun eine andere Aufteilung benötigt, sodass Florentine auch Zeiten ganz allein mit ihrer Mutter hat, um an die frühere Situation anzuknüpfen und langsam in das veränderte Familienleben überzugehen. Sven kann dafür intensiv die Beziehung zum Baby aufbauen in dieser Zeit.
Bei emotionaler Vernachlässigung entstehen schnell negative Zuwendungskreisläufe: Das Kind ist auffällig, wird ausgeschimpft und zieht aus dieser negativen Aufmerksamkeit wenigstens das Gefühl, gesehen zu werden; es zeigt dieses Verhalten daher weiter, wodurch sich die Bezugsperson immer stärker gestört fühlt. Auf der anderen Seite kann das Kind, das immer bevorzugt wird, auch ein falsches Bild von sich selbst und durch das unbewusste Vorbildverhalten der Eltern sogar eine Abneigung gegenüber dem anderen Kind entwickeln. Wir können vielleicht nichts an unseren Gefühlen ändern, aber wir können an unserem Verhalten gegenüber dem benachteiligten Kind arbeiten und uns Problemsituationen bewusst machen und andere Handlungsmöglichkeiten in Betracht ziehen.
Das »Abhärten« als Erziehungsmittel ist tief in uns verankert und begegnet uns immer wieder. Kinder sollen abgehärtet werden, damit sie mit den Herausforderungen des Lebens später besser zurechtkommen. Sie sollen körperlich abgehärtet werden, um den Herausforderungen der Umwelt zu trotzen. Wie wir aber aus der Resilienzforschung wissen, hilft in Bezug auf den Umgang mit belastenden Lebensumständen nicht, wenn Kinder schon früh Schwierigkeiten allein meistern müssen und schutzlos Problemen ausgeliefert werden.
Als mein erstes Kind in einen Schwimmkurs kam, gab es dort eine große Variation in der Altersspanne: im Kurs waren Kinder im Alter von vier bis zum Alter von sieben Jahren. Sie verfügten dementsprechend neben ihrer unterschiedlichen Motivation auch über unterschiedliche körperliche Kräfte und Fähigkeiten. Eines der jüngeren Kinder weinte jedes Mal bereits in der Umkleidekabine: Es wollte nicht schwimmen lernen. Die Mutter war unnachgiebig und erklärte dem Kind jedes Mal, es müsse schwimmen lernen, sonst würde es untergehen, alle Kinder müssten schwimmen können, und außerdem hätte sie nun den teuren Schwimmkurs bezahlt. Natürlich war es auch für den Schwimmlehrer nicht möglich, gut mit dem Kind zu arbeiten, und er weigerte sich, das Kind zu drängen, auch wenn die Mutter darauf beharrte. Die anderen Eltern forderten den Lehrer dazu auf, das Kind des Kurses zu verweisen, weil der Unterricht so nicht richtig stattfinden konnte. Die Mutter war, trotz des Angebots, den ganzen Kurs erstattet zu bekommen, sehr verärgert und erklärte schließlich, sie würde sich eine andere Schwimmschule suchen, denn das Kind müsse ja irgendwo schwimmen lernen. Es ist nicht klar, was genau die Mutter leitete: Angst vor dem Ertrinken? Ein Wettbewerbsgedanke? Das Kind aber wurde in seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen nicht gesehen. Die Angst, die es vor dem Wasser hatte, vielleicht auch über die Angst der Mutter vermittelt, konnte es nicht bei der Bezugsperson auflösen. Es wurde immer wieder schutzlos in eine ängstigende Situation gebracht, in der glücklicherweise der Schwimmlehrer als vorübergehender Schutz eintrat.
Als Schutzfaktoren haben sich neben persönlichen, kindbezogenen Faktoren unter anderem stabile Beziehungspersonen erwiesen, die Vertrauen und Autonomie fördern, ein demokratischer Erziehungsstil, enge Geschwisterbindungen sowie ein unterstützendes familiäres Netzwerk.8 »Abhärtung« ist einer der dunklen Schatten aus unserer Vergangenheit, der sich immer wieder ausbreitet, wenn uns Gedanken wie »Da muss das Kind durch!«, »Später nimmt auch niemand Rücksicht!«, »Kindheit ist die Schule für das Leben!« durch den Kopf gehen. Es ist wichtig, dass Kinder lernen, soziale Konflikte untereinander auszutragen und Lösungen gemeinsam zu finden. Manchmal gelangen Kinder aber an einen Punkt, an dem sie keine Kompromisse finden können, in dem sie aus Mangel an Alternativen übergriffig werden, weil vielleicht Machtpositionen ungleich verteilt sind (viel älteres Kind versus wesentlich jüngeres Kind, mehrere Kinder versus ein Kind). Hier braucht es nicht zwangsweise eine Klärung durch eine erwachsene Person, aber eine Moderation: jemanden, der den Stand des Konfliktes kurz von beiden Seiten ohne Wertung beleuchtet und Handlungsmöglichkeiten benennt. Gegenüber körperlichen Übergriffen müssen erwachsene Personen das Kind grundsätzlich aktiv schützen. Das betrifft nicht nur das Schlagen von Kindern, sondern beispielsweise auch Situationen, wenn Kinder erzählen, dass sie sich bei Körpererkundungsspielen unwohl fühlen oder von anderen Kindern im Kindergarten oder in Freundeskreisen zu Handlungen oder Berührungen/Zustimmungen aufgefordert werden, die sie nicht wünschen. Die gegenseitige Erkundung des Körpers unter Kindern ist normal und wichtiger Teil der Entwicklung, allerdings immer unter dem Aspekt der Selbstbestimmung. Kinder, die hier Übergriffe erleben, müssen geschützt werden und vermittelt bekommen, dass niemand das Recht hat, über ihren Körper zu bestimmen. Auch übergriffige Kinder benötigen eine Aufklärung über die Bedeutung der Selbstbestimmung und Wahrnehmung von Signalen.
Generell werden Kinder oft aufgrund ihres Alters diskriminiert, wie wir schon beim Thema »Adultismus« gesehen haben. Darüber hinaus kann es aber auch zu anderen Diskriminierungserfahrungen innerhalb von Familien kommen, häufig durch Angehörige, beispielsweise wenn ein Kind durch einen Elternteil eine andere Hautfarbe hat, ein Kind mit einer Behinderung geboren wurde oder sie im Laufe der Zeit erworben hat etc.
Isabel ist seit acht Jahren mit ihrem Partner Zahir zusammen, der als Kind mit seiner Familie aus Afrika nach Deutschland gekommen ist. Ihre gemeinsame Tochter Jamila ist fünf Jahre alt. Gemeinsam leben sie in einer Großstadt und sind dort alltäglichem Rassismus ausgesetzt. Bestürzend ist für Isabel insbesondere, dass sie in ihrer eigenen Familie Rassismus gegenüber Zahir und Jamila wahrnimmt, obwohl die Familie gut in das Familienleben integriert ist. Isabels Mutter sagt beispielsweise zu Jamila Sätze wie »Meine kleine Kraushaarpuppe« und hat auch schon einmal thematisiert, dass Isabel bald besser auf sie aufpassen müsse, weil »exotische Mädchen« ja sehr beliebt wären bei Jungs. Wenn Isabel mit ihren Eltern darüber spricht, sehen sie kein Problem darin. Isabel aber wünscht sich einen anderen Umgang mit ihrer Tochter.
Wie schon beschrieben, haben wir viele Formen von Diskriminierung in unseren Alltag übernommen, die wir nicht sehen, weil sie so tief durch Geschichten, Märchen und Vorbilder in uns verankert sind. Manchmal werden wir erst durch eigene Erfahrungen darauf aufmerksam, wie Isabel durch ihre Tochter spürt. Es ist wichtig, dass wir unsere eigenen Kinder vor Diskriminierung durch andere, auch durch Familienmitglieder, schützen. Diskriminierung wirkt sich auf das Selbstbild und den Selbstwert aus und kann zahlreiche Probleme nach sich ziehen. Gerade im Schutzraum der Familie sollten Kinder davor absolut sicher sein, damit sie Resilienz für negative Erfahrungen im Alltag aufbauen können, von denen leider viele Kinder immer wieder betroffen sind. In Bezug auf andere Kinder ist es wichtig, dass wir unsere eigenen Denkweisen immer wieder hinterfragen, denn auch als Eltern werden wir damit konfrontiert, wenn unsere Kinder Freund*innen mit nach Hause bringen.
Angst als Erziehungsmethode ist oft auch mit Strafe verbunden, wie wir beispielsweise im Krampus-Beispiel sehen: Du hast dies oder das getan, deswegen wirst du bestraft. Das Konzept der Bestrafung wird heutzutage oft gleichbedeutend mit einer »logischen Konsequenz« verwendet, wobei es sich aus der Sicht des Kindes meist doch um eine Bestrafung handelt. Der Gedanke des Strafens hängt auch mit dem Gesetz des Stärkeren zusammen: Wenn du nicht richtig handelst, bist du unterlegen und musst die Konsequenzen tragen.
Christian und Franziska haben mit ihrem vierjährigen Sohn Noel das immer gleiche Problem: Er räumt nicht (richtig) auf. Vor dem Abendessen soll er sein Kinderzimmer aufräumen, damit Noel anschließend ohne Ablenkung und in Ruhe ins Bett gebracht werden kann. Allerdings räumt Noel oft nur einen kleinen Teil auf oder erklärt, er könne das einfach nicht. Franziska sieht das als Bequemlichkeit an, schließlich wisse er sehr genau, wo seine Spielsachen eigentlich stehen. Mehrfach hat sie nun schon Sachen von Noel in Müllbeutel getan und in den Keller geräumt, wenn er wieder nicht richtig aufgeräumt hat. Das hat bisher aber nicht geholfen. Christian ist von dem abendlichen Chaos ebenfalls genervt und fordert von Franziska, dass sie nicht nur drohen soll, sondern auch wirklich einmal Sachen wegschmeißen muss, damit Noel endlich lernt, dass es so nicht geht. Franziska ist genervt davon, dass Noel einfach nicht auf diese Drohung anspringt und endlich richtig aufräumt, möchte aber eigentlich die Spielsachen nicht wirklich wegwerfen. Sie fühlt sich gefangen zwischen dem erfolglosen Versuch, Noel an das Aufräumen zu gewöhnen, und der Forderung ihres Partners, endlich mal konsequent zu sein.
Dass das Kinderzimmer am Abend aufgeräumt werden soll, damit Noel nach dem Essen entspannt zu Bett gebracht werden kann, ist durchaus eine gute Idee. Dass es ordentlich ist, ist allerdings ein Bedürfnis der Eltern, die in dieser Situation auch die Verantwortung für die Erfüllung ihres Bedürfnisses übernehmen sollten. Kinder haben in diesem Alter ein anderes Verständnis von Ordnung als Erwachsene, und Aufräumen ist schwer, weshalb sie dabei zumindest Begleitung brauchen, um eine sinnvolle Abfolge einzuhalten und nicht von ihren Spielsachen abgelenkt zu werden.
Von Noel einzufordern, er möge sich wie ein Erwachsener verhalten, ist nicht sinnvoll oder altersentsprechend. Ihn für dieses Unvermögen auch noch zu bestrafen, ist noch unsinniger. Franziska merkt, dass ihre Erziehungsmethode nicht funktioniert, weigert sich aber, davon abzurücken, und soll nach Christians Vorstellung sogar noch härtere Methoden der Strafe anwenden, die natürlich ebenfalls nicht den gewünschten Erfolg bringen werden. Beide Eltern nennen ihre Reaktion »logische Konsequenz«, wobei es sich weder um die unabdingbare Folge einer bestimmten Ursache handelt noch sinnvoll ist in Anbetracht von Noels Kompetenzen. Logische Konsequenzen sind ausschließlich Situationen, in denen es keine andere Alternative gibt: »Wenn du nicht aufräumst, bleibt es unordentlich«, »Wenn du die Zähne nie putzt, steigt die Wahrscheinlichkeit, an Karies zu erkranken«. Oft werden als Konsequenzen auch Strafen benannt, die noch weniger in Zusammenhang mit der Handlung des Kindes stehen: »Wenn du nicht aufräumst, darfst du nicht fernsehen.« Für Kinder ist an solchen Handlungen nichts logisch oder sinnvoll. Sie lernen lediglich Anpassung oder werden verunsichert, weil sie überhaupt nicht passend reagieren können. Ihr Blick richtet sich zunehmend auf sich selbst und ihr eigenes Handeln, um einer Bestrafung zu entgehen, verliert dabei aber die Umwelt und das Soziale aus dem Blick. Mögliche Folgen sind Verhaltensveränderungen, beispielsweise eine Hemmung von Noel, überhaupt entspannt spielen zu können. Ältere Kinder lernen dadurch, zur Vermeidung der Strafe ein bestimmtes Verhalten zu zeigen. Strafen nehmen Kindern aber die Möglichkeit, durch aktive Auseinandersetzung mit einem Thema nachhaltige Problemlösungsstrategien zu entwickeln und ein eigenes moralisches Urteil zu bilden. In Noels Fall ist es sinnvoller, wenn die Eltern entweder als Vorbild fungieren (»Ich räume auf, du kannst mir etwas helfen, damit es schneller geht«) oder mit ihm zusammen aufräumen und ihm dabei zeigen, wie es geht: »Komm, zuerst heben wir alle Bausteine auf und legen sie in diese Kiste mit dem Bausteinsymbol, damit wir wieder laufen können im Zimmer. Danach räumen wir alle Figuren auf und stellen sie nebeneinander in das Regal.« Noel lernt, dass alle Dinge einen festen Platz haben, wo sich dieser befindet und wie ein sinnvolles System zum Aufräumen geschaffen wird, was später auf andere Situationen übertragen werden kann. Er lernt, selbst wirksam zu sein. Bestrafungen hingegen wirken sich negativ auf das Selbstbild und Selbstvertrauen aus.9 Zudem bergen sie die Gefahr in sich, sie immer weiter steigern zu müssen. Je älter Kinder werden, desto härter müsste das Strafmaß werden: vom Fernsehverbot zu Hausarrest und Medienverbot bis hin zu …? Und was machen wir mit Teenagern, die sich nicht mehr durch herkömmliche Strafen beeindrucken lassen? Werden Strafen als Erziehungsmethode verwendet, geraten Eltern spätestens in dieser Zeit in Not und haben Beratungsbedarf, wobei es schwer (aber nicht unmöglich) ist, die Eltern-Kind-Beziehung noch einmal auf neue Beine zu stellen. Kinder hingegen bauen durch Bestrafung Wut in sich auf, übernehmen das Konzept, dass »Macht vor Recht geht«10, und verlieren die sichere, vertrauensvolle Verbindung zu ihren Eltern.
Viele Eltern nutzen in solchen Situationen Kompromisse: »Räum jetzt alle Bausteine auf, dann mach ich später den Rest.« Wenn wir uns dies genauer ansehen, ist es aber eigentlich kein Kompromiss, sondern auch wieder nur eine Forderung der Eltern. Ein echter Kompromiss wäre es, wenn das Kind wirklich gleichberechtigt an der Lösungsfindung beteiligt wäre: »Was schlägst du vor, was wir tun können?« Vielleicht schlägt das Kind zunächst keine wirklich sinnvolle Lösung vor, dann können wir erklären, dass diese Lösung für uns nicht stimmig ist und wir noch weitersuchen müssen. Auf diese Weise ist ein wirklicher Kompromiss möglich. Nicht sinnvoll ist es auch, das Aufräumen dann heimlich und allein zu übernehmen, wenn das Kind schläft oder in der Kita oder Schule ist, um dem Problem aus dem Weg zu gehen. Auch hier gilt: Wir müssen uns den Herausforderungen auf der Beziehungsebene stellen und mit ihnen umgehen. Und Kinder dürfen auch sehen und erleben, dass sich Care-Arbeit nicht von allein und unsichtbar erledigt.
Wer dem Thema Strafe/Konsequenz/logische Konsequenz abgeschworen hat und dennoch das Verhalten des Kindes beeinflussen möchte, nutzt im scheinbaren Gegensatz zur Bestrafung die Belohnung: Gutes, erwünschtes Verhalten wird belohnt, anderes einfach nicht beachtet. Während von der Bestrafung auch in der pädagogischen Praxis häufig abgeraten wird, wird die Belohnung oft propagiert, und wir finden sogenannte Token-Systeme (Belohnungspläne) zur Verhaltensbeeinflussung in vielen Ratgebern: Bei dieser Methode, die aus der Verhaltenstherapie kommt und wie die Bestrafung auf Konditionierung beruht, wird ein erwünschtes Verhalten durch die Verwendung von Anreizen aufgebaut. Während das System in bestimmten therapeutischen Kontexten durchaus sinnvoll sein kann, ist es in den meisten Familien ohne therapeutischen Bedarf nicht notwendig. Beim Trockenwerden bekommt das Kind im Token-System alle soundso viel Tage einen Aufkleber, wenn es nicht in die Windel gemacht hat, in der Schule gibt es Sternchen. Und auch außerhalb dieser bewusst eingesetzten Belohnungssysteme ist die Belohnung ein häufiges Mittel zur bewussten Veränderung von Verhalten. Doch wie andere Methoden zur Verhaltensbeeinflussung kann auch die Belohnung ihre Tücken und Folgeprobleme aufweisen.
Wanja ist 4,5 Jahre alt und braucht nachts noch eine Windel. Seine Eltern wünschen sich, dass das endlich ein Ende hat, weil die meisten anderen Kinder aus dem Freundeskreis keine Windel mehr brauchen. Auch dass die Windel manchmal nachts ausläuft, macht das Problem für die Eltern noch drängender. Von Freunden haben sie gehört, dass es bei ihnen mit einem Aufkleber-Trick geklappt hat: Jeden Morgen, wenn das Kind nicht in die Windel gemacht hat, kann es einen Aufkleber auf ein kleines Aufkleberposter kleben. Sie probieren es aus, aber die Nächte mit vollen und leeren Windeln wechseln sich weiter unregelmäßig ab. Wanja ist traurig, wenn er morgens keinen Sticker aufkleben kann. Nach mehreren erfolglosen Tagen brechen die Eltern das Experiment ab, weil sie merken, dass es Wanja immer schlechter damit geht, erfolglos zu bleiben. Die Kinderärztin überprüft zunächst, ob es organische Ursachen für das nächtliche Einpullern gibt, bevor sie erklärt, dass das nächtliche Urinieren an bestimmte Hormone gekoppelt ist und es bei manchen Kindern länger dauert, bis sie nachts bei Harndrang von ihrem Gehirn geweckt werden. Das Belohnungssystem konnte bei Wanja daher nicht als Ansporn helfen, sondern hat ihn verunsichert und beschämt.
Belohnung funktioniert oft als Erziehungsmaßnahme, weil Belohnungen angenehm sind. Allerdings bringen sie die Gefahr der Gewöhnung mit sich, und es kann sich eine Abhängigkeit davon entwickeln: Das Kind handelt nicht mehr aus Altruismus, weil es als Teil der Familie agiert und darin einen wertvollen Platz einnimmt, sondern um Belohnung zu erlangen.
Die Abhängigkeit von Lob wird oft noch dadurch verstärkt, dass Eltern ein scheinbares Lob einsetzen, um echte Aufmerksamkeit zu ersetzen. Das kleine Kind macht etwas und wünscht eigentlich unsere Aufmerksamkeit: »Papa, schau mal hier!« Anstatt aber wirklich aufmerksam zu sein und zu beschreiben, was das Kind gerade tut, wird oft ein »Oh, das machst du toll!« vorgeschoben, um das Kind zu beruhigen. Ein Kommunikationsmissverständnis: Das Kind wünscht nämlich Aufmerksamkeit und Zuwendung, kein Lob. Wird es in solchen Situationen immer wieder »nur« gelobt, anstatt echte Aufmerksamkeit zu bekommen, bildet es ein Bild von sich aus, bei dem es Aufmerksamkeit nur durch lobenswerte Tätigkeiten erlangt. In der Folge wird es Aufmerksamkeit durch genau dieses Verhalten suchen: Es kommt beständig zu den Eltern und fragt, ob es dieses oder jenes toll gemacht/gemalt/gebastelt hat. Die Eltern sind irgendwann genervt von dem von ihnen anerzogenen Verhalten und weisen das Kind zurück, das nun nicht mehr weiß, wie es Aufmerksamkeit und Zuwendung erlangen soll.
Natürlich können wir unsere Kinder im Alltag loben, wenn wir echt Anteil nehmen, uns mit ihnen freuen oder begeistert sind. In diesem Moment teilen wir mit ihnen ein Gefühl. Wenn wir aber Lob nutzen wollen, um ihr Verhalten zu beeinflussen, nutzen wir es als Machtinstrument zur Verhaltensänderung – die Intention macht also einen erheblichen Unterschied.
Der Schatten unserer eigenen Vergangenheit kann auch in eine andere Richtung zeigen: Dann nämlich, wenn wir versuchen, allen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Wir haben bereits bei Sonja und Ben (siehe »Wie Kinder an unsere Vergangenheit rühren«, Seite 72) gesehen, dass auch Stille und Rückzug eine Reaktion auf die eigenen Verletzungen sein können. Wir können unseren Kindern Gewalt antun in dem Versuch, sie mit Liebe, Achtsamkeit und Rücksichtnahme zu überschütten. Denn auch dann enthalten wir ihnen echte Beziehungen und wichtige Lernprozesse vor. Elternschaft bedeutet nicht, unseren Kindern alles aus dem Weg zu räumen, sie nie scheitern zu lassen oder dass es keine Konflikte geben darf. Wichtig ist der Umgang mit Konflikten. Wenn wir unseren Kindern alles aus dem Weg räumen, auch die Beziehungserfahrungen, die sie durch Konflikte erlernen, wenn wir ihnen vorenthalten, dass sie in einem gesunden, familiären Umfeld Frustration auszuhalten lernen können, nehmen wir ihnen viel. Und wir vermitteln ihnen auch etwas Falsches: dass Liebe bedeutet, nur Dinge zu erhalten. Dass Liebe ausschließlich bedeutet, versorgt zu werden, und dass andere ihre Bedürfnisse übergehen müssen, damit Liebe möglich ist. Die Erwartungshaltung unserer Kinder steigt ins Unermessliche, wenn sie keine natürlichen Grenzen aufgezeigt bekommen, keine Grenzen spüren dürfen. Sie lernen nicht, dass Konflikte Teil von Beziehungen sind und wie damit umzugehen ist, und wir enthalten ihnen wichtige Beziehungsaspekte vor, die sie für ihre Entwicklung brauchen.
Lisa hat mit ihrem Sohn Raffael (2) Probleme: Raffael schlägt sie, wenn er unzufrieden ist, zieht an ihren Haaren und tut ihr weh. Er hört »immer erst, wenn sie ganz laut wird und ihn zurechtweist«, und sie würde sich wünschen, dass es anders klappt. Dass Kinder mit zwei Jahren hauen, beißen und spucken, ist recht weit verbreitet. Dennoch ist es natürlich das Recht der Eltern, die eigenen Grenzen zu wahren. Es hilft Kindern, wenn wir ihnen Alternativen aufzeigen und beispielsweise anbieten, dass sie auf unsere Handinnenflächen hauen dürfen, wenn das für uns in Ordnung ist. Bei Lisa zeigt sich allerdings das Problem, dass sie Raffaels Wut nicht annimmt und ihm keinen Kanal dafür anbietet, sondern ihn immer sofort besänftigen will. Oft lächelt sie zunächst und sagt liebevoll, dass das aber nicht in Ordnung ist oder dass Raffael seiner Mami doch nicht weh tun will. Wenn Raffael aber ein »Doch!« hervorbringt und weiter zuschlägt, reagiert sie noch eine Weile besänftigend, bis sie irgendwann rabiat einschreitet, schimpft und ihn festhält. Hilfreicher ist in solchen Situationen, schon vorher die eigenen Grenzen mit einem »Stopp!« klar zu vertreten und dem Kind dennoch den Raum zu geben, das aktuelle Gefühl auszuleben.
Viele Eltern, die bedürfnisorientiert erziehen wollen, halten aber auch eine beständige Konfliktvermeidung und Zuwendung nicht aus, und so kommt es in einigen Situationen oder bei ganz bestimmten Verhaltensweisen zu einem Durchbruch des Gegenteils: Eigentlich sind sie immer liebevoll, respektvoll und vorausschauend, um Problemen aus dem Weg zu gehen, aber wenn es ihnen zu herausfordernd wird, schlagen sie in das Gegenteil um. Das ist für Kinder natürlich besonders schwierig, weil sie nicht vorhersagen können, wie sich die Mutter oder der Vater verhält, was zu Verunsicherungen führt. Manchmal kommt diese widersprüchliche Haltung auch nur in bestimmten Situationen zum Ausdruck: Immer wird das Kind zuvorkommend behandelt, außer wenn es um das Insbettgehen geht, wo ein strenger Ton herrscht und das Kind gehorchen soll. Den ganzen Tag über ist es den Eltern gelungen, alle Probleme zu umschiffen und immer das Kind in den Vordergrund zu rücken, aber am Abend sind die Kräfte erschöpft. Gerade kleine Kinder können mit einem solchen Wechsel des Erziehungsstils nicht umgehen, sind verunsichert und reagieren verständlicherweise mit Unmut und dem Versuch, durch Weinen und Protest wieder Nähe und Beziehung herzustellen.
In Bezug auf die Funktion des Kindes als Substitut eigener Erziehungserlebnisse ist zudem fraglich, ob wir mit »Alles nur für dich!« tatsächlich alles auf unser Kind ausrichten oder nicht vielmehr auf uns selbst. Natürlich tut es in gewisser Weise gut, wenn wir die Dinge, die wir selbst vermisst haben in unserer Kindheit, mit unseren Kindern nachholen können. Aber wir sollten sie nicht über unsere Kinder nachholen. Kinder haben nicht den Zweck, unsere psychischen Wunden zu heilen. Durch sie mögen wir im Laufe der Zeit die ein oder andere Verletzung aufdecken, aber die Heilung müssen wir selbst als Erwachsene in Angriff nehmen. Es ist nicht die Aufgabe unserer Kinder, dies zu tun. Als Erwachsene sind wir verantwortlich für unsere Kinder und gleichsam für unser inneres Kind und uns selbst.
Die meisten Eltern lieben ihre Kinder. Und für die meisten Eltern sind ihre Kinder ganz besonders. In der Nähe zu ihnen sehen wir, was anderen Menschen manchmal verborgen bleibt: wie unglaublich humorvoll oder scharfsinnig dieses Kind ist, wie besonders empathisch. Und vielleicht sehen wir auch, wie wertvoll diese Eigenschaften sind und dass eine Gesellschaft aus solchen Unterschieden besteht und durch sie bereichert wird. Problematisch wird es nur da, wo das »Besonderssein« zum Merkmal wird, zur Hervorhebung. Wo das Kind dann auch wieder als Wesen zurücktreten muss und in eine Schublade gesteckt wird.
Im Babykurs ist Amon immer etwas weiter als die anderen Babys seiner Gruppe. Er kann früher rollen, robben, krabbeln. Seine Mutter nimmt dies sehr freudig auf und spornt ihn oft weiter an, stellt seine schnellere Entwicklung besonders in den Vordergrund und erklärt, dass sie glaubt, dass er sicherlich hochbegabt sei. Wir wissen nicht, wie sich Amon weiter entwickeln wird. Es gibt eine große Varianz in Bezug auf die Ausbildung von Fähigkeiten in der Babyzeit und einige Kinder krabbeln mit fünf, andere beispielsweise mit zehn Monaten. Manchmal sind Kinder auch in der motorischen Entwicklung anfangs sehr schnell, was sich später wieder verläuft. Ein zu frühes Augenmerk der Eltern auf »Besonderheit« kann dazu führen, dass das Kind nicht mehr in seiner Ganzheit betrachtet wird und dem Anspruch der Eltern folgen muss. Natürlich gibt es hochbegabte Kinder, für die besondere Angebote hilfreich sind, aber im Babyalter lässt sich dies so noch nicht diagnostizieren.
Schubladendenken gibt es nicht nur für negative Eigenschaften, sondern auch im Sinne des Besonderen. Die Besonderheit hat heute einen wichtigen Stellenwert, wie Dr. Sabine Seichter umschreibt: »Kindliches Aufwachsen findet heute im harmonischen Dreiklang von Wettbewerbsorientierung, Leistungssteigerung und Perfektionierung unter der Maxime, stets anders zu sein als andere, statt. Der neue ›mittlere Mensch‹ besteht nicht wie ehedem im Mittelmaß, sondern in der Besonderheit. Das besondere Kind ist jetzt das Phantombild des ›normalen‹ Kindes. Wenn jedoch das Besondere zum ›Normalen‹ wird, dann ist Heterogenität die neue Homogenität!«11 Kinder sind nicht einfach Menschen mit verschiedenen Temperamenten, Eigenschaften und Fähigkeiten, sondern »jedes Kind ist hochbegabt«, wie Gerald Hüther eins seiner Bücher nannte. Selbst wenn wir positiv klassifizieren, klassifizieren wir und heben Kinder voneinander ab – ähnlich wie bei Strafe und Belohnung –, anstatt das Denken zu verbreiten, dass Kind- und Menschsein bedeutet, sich in einem breiten Spektrum zu befinden. Auch durch eine positive Klassifizierung von Menschen werden wir die Diskriminierung in unserer Gesellschaft nicht beenden können, im Gegenteil. Denn sie beinhaltet zugleich auch immer den Gegensatz. Natürlich gibt es immer Kinder, die sich außerhalb des Durchschnitts bewegen. Und natürlich ist mitunter wichtig, dass Kinder und deren Eltern über eine Diagnosestellung entsprechende Unterstützung bekommen. Aber außerhalb dessen sind eher im privaten Umfeld getroffene Diagnosen und Beurteilungen vielen Kindern keine Hilfe.
Die Last, besonders sein zu müssen, ist für Kinder schwer zu tragen. Und es ist schwer, eine einmal als Besonderheit hervorgehobene Eigenschaft wieder abzulegen, wenn Eltern ihre Sicht des Kindes darauf aufbauen. Das Schöne an Kindern ist doch: Sie müssen gar nicht besonders sein, sie dürfen einfach sein. Weil dieses »einfach sein« Kindheit ausmacht.
Reflexion: Ein ehrlicher Blick auf eigene Erziehungsmethoden
Wahrscheinlich findet sich auch in eurem Alltag an der ein oder anderen Stelle eine dieser Methoden aus dem Erziehungsalltag, die hier aufgezählt sind. Das ist normal. Viel problematischer ist es, wenn wir uns von Fehlern freisprechen und behaupten, wir würden keine machen. Es ist gut, wenn wir persönlich einschätzen können, wie sich unsere Handlungen und Gedanken im Alltag wiederfinden. Trage in die Skalen von »gar nicht« bis »sehr« ein, wo du dich siehst. Bewerte dich nicht, sondern sieh es als Ist-Stand, den du verändern kannst – und wirst, weil du dir jetzt darüber klar geworden bist.
Ich verwende:
Angst als Erziehungsmittel
Liebesentzug
Lügen, flunkern, tricksen
Macht
Bestimmung
Beschämung, Entwürdigung
Überwachung
Vergleiche mit anderen
Bevorzugung
Abhärtung
Diskriminierung
Logische Konsequenzen
Belohnung
Elterliches Selbstvergessen
Klassifizierung, Besonderheit