Vier

Die Aufgaben der Eltern

»Eine gesunde psychische Entwicklung wird nicht dadurch gefördert, dass wir Brüche vermeiden, sondern dadurch, dass wir für Wiedergutmachung sorgen.«

Kent Hoffman/Glen Cooper/Bert Powell1

Wahrscheinlich denkst du nach den ersten drei Teilen: »OMG, ich mache alles falsch!« Ja und nein. Ja, wir machen noch recht viel falsch in unserem Alltag, immer wieder. Obwohl »falsch« nicht das richtige Wort ist, denn viele Dinge passieren ganz unbewusst – bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir erkennen, dass scheinbar »normales« Erziehungsverhalten eben nicht so gewaltfrei ist, wie wir dachten. Und genau in diesem Moment wird sich etwas in deinem Alltag ändern. Denn mit der Lektüre der letzten Kapitel hat sich dein Blick dafür geweitet, was in unserer Gesellschaft seit Jahrhunderten passiert und an welchen Stellen wir diese Last weitertragen. Vielleicht hast du auch an der ein oder anderen Stelle den Schmerz der eigenen Erinnerung verspürt. Vielleicht hast du gemerkt, dass das, was du selbst erlebt hast, gar nicht in Ordnung war, obwohl du zuvor nie so darüber nachgedacht hast, beispielsweise über düstere Schlaflieder, die dir vorgesungen, oder gruselige Geschichten, die dir erzählt wurden. Und vielleicht hast du angefangen, zu erkennen, wo im Alltag Problemfelder liegen: in eurer Familie, aber auch in den Strukturen, die euch umgeben. Vielleicht hat sich dein Blick dafür geweitet, wie Kinder strukturell benachteiligt sind, beispielsweise durch die Bebauung und den Verkehr in großen Städten, oder dir sind in Kita und Schule Dinge aufgefallen, die auch nicht gerade gewaltfrei sind.

Ich schreibe bewusst: »wir machen noch viel falsch«, denn ich nehme mich davon nicht aus. Obwohl ich Pädagogik, Soziologie und Psychologie studiert habe, obwohl ich mich seit über einem Jahrzehnt mit Bindung und auch intensiv mit Kinderrechten beschäftige, bin ich ein Mensch, dem auch die persönliche und gesellschaftliche Vergangenheit anhängt. Es gibt Situationen, in denen ich direkt merke, dass ich gerade etwas falsch mache. Denn gibt es Situationen, bei denen ich erst später in der Reflexion merke, was schiefgelaufen ist. Und wahrscheinlich werden mir meine Kinder später auch einige Dinge vorhalten können. So wie mir geht es unglaublich vielen Eltern: Wir wollen etwas ändern, aber wir scheitern auch manchmal. Manche öfter, manche seltener. Je nachdem, welchen Rucksack wir tragen und ob es mit diesem Rucksack gerade einen steilen Berg hinaufgeht oder ob wir entspannt bergab laufen. Unsere persönlichen Belastungen wirken sich auf unser Vermögen, gewaltfrei zu handeln, aus. Einige dieser Lasten können wir leichter bearbeiten, andere schwerer. Daher wollen wir uns in diesem Teil des Buches dieser Bearbeitung zuwenden, ebenso wie der Frage, wie es denn dann überhaupt möglich ist, Kinder ohne all die uns bekannten Erziehungsmittel im Aufwachsen zu begleiten. Geht das denn überhaupt? Manchmal scheint es eine unmögliche Utopie zu sein. Oder anders formuliert: Was bleibt uns denn noch, wenn wir nicht auf das zurückgreifen können, was uns vertraut ist? Das ist doch die große Angst, die die meisten Eltern haben, wenn sie sich damit auseinandersetzen, dass Erziehungsmittel nicht gut sein sollen.

Die Antwort ist aber gar nicht so schwer: Wenn wir nicht mehr auf alte Erziehungsmethoden zurückgreifen wollen, dann bauen wir alles auf Beziehung auf. Und es funktioniert. Aber bevor wir uns dieser Möglichkeit zuwenden, wollen wir erst einmal eine Last, die sich vielleicht nach den ersten Kapiteln aufgebaut hat, wieder abbauen: die quälende Frage, ob wir denn nun alles falsch machen.

Eine neue Fehlertoleranz entwickeln

Um dieser Frage schon entlastend vorzugreifen: Nein, wir haben nicht alles falsch gemacht, aber Eltern machen immer auch Fehler auf die ein oder andere Weise. Und Kinder sind glücklicherweise neben aller Verletzlichkeit und aller Bedeutung eines psychisch gesunden Aufwachsens auch recht robust und vertragen viel mehr, als wir manchmal denken. Es geht gar nicht darum, dass Eltern alles richtig machen müssen. Auch die Forschung belegt, dass Fehler nicht nur normal sind, sondern in gewissem Rahmen sogar wichtig. Wir müssen dabei aber beachten, dass das, was einzelne Personen ertragen können, ohne einen Schaden davonzutragen, unterschiedlich sein kann: Resilienz ist abhängig von persönlichen Eigenschaften und Umweltfaktoren, die auch im Wandel sind, wodurch sich unsere Fähigkeit, mit belastenden Situationen umgehen zu können, im Laufe der Zeit verändert. Resilienz ist nichts, was man hat oder nicht hat, sondern etwas, das sich ändern kann. Deswegen ist es wichtig, mögliche Problemfelder weitestgehend zu beseitigen – an den Stellen, wo es möglich ist. Es kann nur gut für die ganze Gesellschaft sein, wenn Gewalt (in der Familie) weniger wird, während es durchaus negative Auswirkungen hat, Gewalt aufrechtzuerhalten oder sogar weiter zu begünstigen.

Wir müssen als Eltern also sehen: Wo kann ich etwas anpacken, wo kann ich persönlich beginnen? Und dabei ist es wichtig, dass wir uns selbst gegenüber gütig, wertschätzend und tolerant sind. Denn bevor wir an unseren Handlungen etwas ändern, müssen wir etwas an unserer Sicht auf Elternschaft ändern: Wir brauchen eine neue Fehlertoleranz für Eltern und alle Menschen, die mit Kindern umgehen. Nach all dem, wie Kindheit bisher gestaltet war, wie sie gelebt wurde und wie Kinder bis heute gesehen werden, ist es unmöglich, von Eltern einzufordern, perfekt gewaltfrei und absolut bindungs- und bedürfnisorientiert mit Kindern umgehen zu können. Das Verschweigen dieses Umstands, der Druck bei vermeintlichen Fehlern und die Tabuisierung eigener Schwächen ist so groß, dass Eltern immer weiter in den privaten Raum der Familie gedrängt werden. Wer heute in einer Facebookgruppe postet, dass er Probleme hat, die eigene Wut zu kontrollieren, wenn das Kind wütet und schreit, bekommt unter Umständen Antworten wie »Dann hättest du eben keine Kinder bekommen sollen!« oder »Dein Kind wäre in einer Pflegefamilie besser aufgehoben!«. Solche und ähnliche Reaktionen verstärken die Last der Eltern und erhöhen die Hemmschwelle, sich Hilfe zu holen. Und wie oft tun wir im öffentlichen Raum etwas – kaufen eine Brezel für das Kind beim Bäcker, eine Süßigkeit an der Nörgelkasse – nicht, weil wir das wirklich wollen und davon überzeugt sind, sondern um das kindliche Jammern zu beenden, weil die anderen uns schon schief anblicken?

Kim ist vier Monate alt und schreit sehr viel. Schon zwei Wochen nach der Geburt ging es los, und diese Zeit wurde für die Eltern zu einer großen Belastungsprobe. Die Geburt war anstrengend, auch die Schwangerschaft war nicht leicht, und Kims Mutter hatte durch den Tod ihres Vaters und die damit einhergehenden Erbschaftsprobleme viel Stress. Nun gibt sie sich die Schuld daran, dass dieser Stress, wie sie gelesen hat, zu Kims Schreien führt, und versucht zusammen mit Kims Vater, dieser Schuld durch sehr viel Liebe und Aufmerksamkeit entgegenzuwirken. Es ist ihr unangenehm, dass sie so früh schon »versagt« und Kim den Start so schwer gemacht hat. Sie traut sich auch kaum noch zu anderen, weil Kim so weint und weil sie sich schämt und die Ursache auf sich projiziert. Lange hat sie geglaubt, dass sie es einfach aushalten müsse und dass es irgendwann besser werden würde. Erst als sie zufällig bei einem Besuch bei einer Vertretung des Kinderarztes auf ihre Erschöpfung angesprochen wird und dabei das viele Schreien thematisiert, wird der Weg zu einer Diagnose geebnet. Die Ärztin findet heraus, dass Kim unter einem Reflux leidet, der Schmerzen bereitet. Die Scham vor ihrem von Stress begleiteten Schwangerschaftsverlauf und die selbst zusammengesuchten Falschinformationen hatten dazu geführt, dass die Eltern nicht früher den Ursachen des Schreiens nachgegangen waren.

Auch wenn das Problem scheinbar auf Seiten des Kindes liegt, kann die mangelnde Toleranz gegenüber Fehlern beziehungsweise einem »falschem Verhalten von Kindern« uns darin bremsen, Hilfe zu holen. Natürlich gibt es – gerade mit älteren Kindern – auch Situationen, in denen wir feststellen, dass sich beim Kind eine falsche Verhaltensweise eingeschliffen hat. Unabhängig von dem Urteil, ob diese nun durch Eltern oder Freunde hervorgerufen wurde, führt allein das Vorhandensein eines problematischen Verhaltens bei Eltern oft zu Scham, und sie haben das Gefühl, versagt zu haben. Auch das kann die Bereitschaft hemmen, Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Wir müssen uns darüber bewusst werden, dass jede Verurteilung anderer Eltern die Gewalt weiterträgt und am Leben erhält. Wer heute verurteilt wird, nur weil er nicht genau weiß, welche Beikost/Windel/Schlafsituation für das Baby die richtige ist, traut sich morgen vielleicht nicht mehr, nach Alternativen zu Auszeiten zu fragen oder einer Freundin zu sagen, dass er sein Kind geschlagen hat, und sich dabei helfen zu lassen, dass das nicht wieder passiert. Wir brauchen dringend eine größere Fehlertoleranz und eine Fehleroffenheit, von der aus es möglich wird, neu zu starten. Denn wir alle machen Fehler, jeden Tag. Viele davon verlaufen sich ohnehin im sonst liebevollen Alltag, andere können wir aufrichtig entschuldigen, und bei den dritten brauchen wir Hilfe – aber ohne Abwertung.

Fehler und Unsicherheit sind normal

Die Geschichte der Kindheit und Elternschaft vermittelt ein Bild, dass wir Eltern immer wissend und unfehlbar sein sollten. Natürlich waren Eltern das weder damals, noch sind sie es heute. Während aber früher mit harter Hand durchgegriffen wurde und sich Gehorsam und Autorität allein durch den Status »Elternteil« legitimierten, ist es heute anders: Wir sind nicht mehr überzeugt davon, richtig zu handeln, nur weil wir eben Eltern sind. Wir sind überzeugt davon, richtig zu handeln, wenn die Erziehungshandlungen durch Ratgeber legitimiert werden oder es sich wirklich gut anfühlt, was wir tun. Wir wissen um unsere Unsicherheit und Fehlbarkeit. Doch auch das sehen wir als Fehler an, anstatt den Fortschritt darin zu erkennen: Unsicherheit bedeutet, dass wir uns Gedanken machen und reflektieren. Wir gehen nicht davon aus, auf alles eine eindeutige Antwort haben zu müssen und immer richtigzuliegen. Anstatt dies positiv zu sehen, lassen wir uns verunsichern und haben Angst, falsch zu handeln, zu enttäuschen. Zu wissen, dass Fehler normal sind, bedeutet auch, dass wir von dem Gefühl entlastet werden, richtig handeln zu müssen, unter Erfolgsdruck zu stehen.

Es ist nichts Schlechtes, nicht sofort eine Antwort zu haben. Wir müssen nicht sofort reagieren, nicht sofort alles besser wissen. Wir können in Situationen, in denen wir unsicher sind, erst einmal nachdenken, Informationen einholen und dann handeln. Aus einem so erarbeiteten Handlungskonzept gewinnen wir Selbstbewusstsein und Stärke, die uns in der nächsten Situation tragen. Und auch Kinder lernen von unserer Fehlbarkeit: Sie erfahren, dass Fehler normal sind und wie mit ihnen umgegangen werden kann, dass sie nicht vertuscht oder durch Gewalt unterdrückt werden müssen, sondern dass Fehler es ermöglichen, sich selbst zu überdenken und im konstruktiven Miteinander neue Handlungsmöglichkeiten zu erproben. Kurz: Sie lernen Flexibilität und Kreativität.

Auch aus Bindungssicht müssen Eltern nicht perfekt und unfehlbar sein. Aber es ist wichtig, dass wir insgesamt über die Zeit hinweg und in der Mehrheit der Situationen unseren Kindern vermitteln, dass sie von uns geliebt und respektiert werden und wir sie als ihre vertrauensvollen Bezugspersonen schützen und unterstützen. Dafür gibt es keine Maßeinheiten. Und es ist gut, dass es diese nicht gibt, denn Bindung ist kein Wettstreit und keine Leistung. Wir sollten nicht darauf fokussiert sein, heute noch schnell das Pensum für den Tag zu erfüllen, sondern einfach im Blick haben, ob sich unsere Kinder wohl und sicher fühlen.

Reflexion: Keine Angst vor Fehlern!

Fehler zu machen und sich einzugestehen ist nicht einfach. Besonders nicht, wenn wir durch die Last der eigenen Vergangenheit ein geringes Selbstwertgefühl haben und/oder das »Recht des Stärkeren« verinnerlicht haben und keine Schwäche zeigen wollen. Auch dann, wenn wir nie einen guten Umgang mit Konflikten und echte Diskursfähigkeit lernen konnten, fällt uns ein aufrichtiges »Es tut mir leid« zu sagen oder zu denken schwer. Wenn auch du Probleme mit dem Umgang mit Fehlern haben solltest, nutze diese Gelegenheit, um aufzuschreiben, wovor du Angst hast, wenn du Fehler eingestehst. Das Ziel ist natürlich, Fehler in Zukunft zu vermeiden, aber auf dem Weg dorthin ist es zunächst wichtig, anzuerkennen, dass wir sie machen, warum wir sie machen und warum uns der Umgang damit so schwerfällt.

Du musst nicht sofort reagieren!

Unsere Erfahrungen mit Macht, Autorität und Gewalt haben uns gelehrt, dass wir als Eltern Antworten wissen, weil wir eben Eltern sind. Und unser Bild vom Kind vermittelt uns, dass wir in Konflikt- oder Problemsituationen immer richtig und schnell reagieren müssen: sofort eingreifen, wenn etwas schiefläuft! Bloß keine Zeit verstreichen lassen, in der das Kind sich tyrannisch ausleben könnte. Das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Ein solcher Gedanke verursacht Stress, denn wir wissen eben nicht immer gleich, was wir tun sollen, und wenn wir übereilt reagieren, greifen wir vielleicht auf falsch erlernte Muster zurück. Stress lässt uns härter durchgreifen, als wir eigentlich wollen, ebenso ein gekränktes Ehrgefühl, das dadurch entsteht, dass wir denken, das Kind würde uns persönlich angreifen und mit seinem kindlichen Verhalten infrage stellen. Und warum denken wir eigentlich, wir müssten ständig etwas tun? Welch angenehme Vorstellung ist es, bei einem Wutanfall mit einem Kind »einfach« erst einmal durchzuatmen. Im Streit mit dem Teenager ruhig zu bleiben und zu sagen: »Ich denk da jetzt erst mal drüber nach.« Die Wahrheit ist nämlich: Wir müssen überhaupt nicht sofort irgendetwas tun (außer natürlich in Gefahrensituationen). Wir können uns erst einmal Zeit für uns nehmen. Auch neurologisch ist es sinnvoll, dass wir uns Zeit nehmen, besonders in Stresssituationen: Die Neurowissenschaftlerin Jill Bolte Taylor erklärt, dass, nachdem ein emotionales System bei uns getriggert wurde, es circa 90 Sekunden braucht, in denen die chemische Reaktion auf diesen Trigger unseren Körper durchläuft. Nach diesen 90 Sekunden können wir wieder rational mit der Situation umgehen. Sind wir dennoch weiter wütend, dann nicht mehr aufgrund unseres stressauslösenden Hormoncocktails.2

Das Kind wird nicht gleich zum Tyrannen, bloß weil wir erst mal tief durchatmen. Es wird durch eine Pause keine Verhaltensstörung erwerben. Im Gegenteil: Wenn wir uns nicht gezwungen sehen, sofort zu handeln, wird das Kind nicht sofort in eine Gegenwehr gehen müssen. Wir dürfen uns erlauben, uns Zeit zu nehmen! Und dann im nächsten Moment bewusst und überlegt zu reagieren. Oder bei größeren Kindern zu sagen: »So, ich habe jetzt darüber nachgedacht, lass uns mal darüber reden.«

Zudem sind viele Situationen, Einstellungen und Handlungen von Kindern nicht durch eine konkrete Situation und Handlung zu verändern. Wir können das von uns gewünschte Verhalten unseres Kindes nicht durch Streit erzwingen: Kein Kleinkind wird, nur weil es ausgeschimpft worden ist, aufhören, sich auf den Fußboden zu werfen und wütend zu sein. Und kein*e Jugendliche*r wird für immer das Zimmer aufräumen, nachdem wir einmal Hausarrest gegeben haben. Veränderungen brauchen Zeit, und unser elterliches Verhalten ist kein einmaliger Eimerguss, sondern ein steter Tropfen. Und es ist kein Zeichen elterlichen Versagens, eine Situation nicht sofort klären zu können.

Reflexion: Handreichung zur Ruhe

Du musst nicht sofort reagieren – das ist leichter gesagt als getan. Je nach Temperament und Triggern kann uns das ganz schön schwerfallen. Doch es hilft bereits, zu wissen, dass wir nicht sofort reagieren müssen. Die Frage ist aber oft: Wie schaffen wir es, in der konkreten Situation erst einmal die Wut verrauchen zu lassen? Reich dir selbst die Hand für solche Situationen: Umrande mit einem Stift deine Hand auf einem Blatt Papier. In die Mitte der Hand schreibst du »Ruhe«. In jeden deiner Finger kannst du schreiben, was dir ganz persönlich dabei hilft, diese Ruhe zu erlangen oder zu behalten. Wir alle sind unterschiedlich, daher gibt es nicht die Methode. Was hilft dir? Ein Glas Wasser trinken gehen? Tief durchatmen? Dich einfach kurz auf den Boden setzen? Die Augen schließen, atmen und sich einen Drehschalter vor Augen führen, der von »aufgeregt« auf »ruhig« umgelegt wird?

Sich entschuldigen

Wir können Fehler nicht einfach wegwischen, und auch vieles von dem, was wir selbst erlebt haben, ist nicht durch liebe Worte oder eine Entschuldigung ausradierbar. Und dennoch ist diese Entschuldigung in vielen Fällen wichtig für beide Seiten. Entschuldigungen gehören zur zwischenmenschlichen Verantwortung. In ihrem Buch Stärke statt Macht erklären Haim Omer und Arist von Schippe hierfür so passend: »Die Bereitschaft der Eltern, Fehler zuzugeben und zu beheben, trägt wesentlich zur Verbesserung der Familienatmosphäre und zur Vertiefung der Beziehung zum Kind bei.«3 Fehler sind ein Teil des Menschlichen, und auch echte Entschuldigungen sind ein Teil davon. Natürlich sollten wir Entschuldigungen nicht nutzen, um unser Verhalten im Nachhinein zu relativieren. Zu denken: »Ist ja nicht so schlimm, wenn ich das Kind jetzt anschreie, ich kann mich später ja entschuldigen«, ist nicht das Ziel davon, Entschuldigungen im Familienalltag zu implementieren. So verkommt eine Entschuldigung zu einer hohlen Phrase – wie auch bei Kindern, bei denen wir mit Druck Entschuldigungen einfordern und sie diese dann einfach nur aussprechen, aber nicht meinen. Unsere Kinder nehmen eine echte Entschuldigung nicht nur über unsere Worte wahr, sondern auch über unsere Gestik und Mimik. Eine echte Entschuldigung meint, dass wir wirklich reflektiert und verstanden haben, dass wir falsch gehandelt haben, und sie eröffnet den Raum, um über die erlebten Gefühle zu sprechen. So kann das Kind sich mitteilen und wird letztlich doch noch verstanden. Wir nehmen uns dabei Zeit für das Kind, erklären uns und hören vor allem der Verletzung des Kindes zu. Es steht uns nicht zu, die Annahme einer Entschuldigung zu verlangen oder ein »Jetzt sei nicht mehr böse« einzufordern. Das Kind bestimmt, wodurch und wie lange es sich verletzt fühlt. Wenn wir uns aber immer wieder darum bemühen, uns für einen Fehler zu entschuldigen, erlebt das Kind, dass wir verschiedene Eigenschaften in einer Person vereinbaren können und dass Menschsein auch bedeutet, Unterschiedlichkeit in sich zu tragen. Es lernt die schon erwähnte Ambiguitätstoleranz. Diese kann es letztlich auch auf sich übertragen und ein gesundes Selbstbild ausbilden in dem Wissen, dass Menschen »gut« und »böse« in sich vereinen können.4

Wenn Kinder über lange Zeit negative Erfahrungen gemacht haben und ungünstigen Entwicklungsbedingungen mit Gewalt und Druck ausgesetzt waren, reichen Entschuldigungen nicht aus. In den sensiblen Phasen der frühen Kindheit, in denen das kindliche Gehirn aufgrund von Synapsenauf- und -abbau besonders empfindlich für Erfahrungen ist, wird auch die psychische Entwicklung und spätere psychische Gesundheit beeinflusst. Hier wird beispielsweise das Stressbewältigungssystem eingestellt, weshalb Kinder, die in der frühen Kindheit durch familiäre oder institutionelle Betreuungspersonen viel Druck erfahren haben, nachhaltig in ihrer Stressbewältigung gestört werden können. Nicht alle negativen Erfahrungen können später wieder ausgeglichen werden, und je älter das Kind ist – und damit aus dem Wirkungsraum der primären Bezugspersonen gerät –, desto schwieriger wird es. Manchmal braucht es dann therapeutische Aufarbeitung, um diese Verluste in gewissem Rahmen auszugleichen.5

Wer als Elternteil merkt, dass er immer wieder die gleichen Fehler macht, und sich danach entschuldigt, aber nicht herausfindet, wie es langfristig anders geht, braucht therapeutische Hilfe, um alte, verinnerlichte Muster loszulassen. Je früher, desto besser. Und wie schon oben angemerkt: Dafür muss sich keiner schämen. Über Reflexion und Verarbeitung eigener negativer Kindheitserfahrungen ist es durchaus möglich, trotzdem ein sicheres inneres Bindungsmodell zu entwickeln.6

Auch Eltern haben Grenzen

Wir alle haben Grenzen. Sie ergeben sich auf natürliche Weise aus unseren Bedürfnissen und Fähigkeiten. Im Alltag gibt es daher eine Vielzahl an Grenzen, auf die unsere Kinder stoßen: »Ich kann dir das nicht kaufen, weil ich kein Geld habe« gehört ebenso zu den natürlichen Grenzen wie »Ich kann mit dir heute nicht mehr auf den Spielplatz gehen, weil ich einfach zu erschöpft bin«. Es ist okay, diese Grenzen zu haben und sie nach außen zu vertreten. Grenzen aufzuzeigen ist keine Gewalt. Wenn wir aber Grenzen nur aus dem Gedanken heraus setzen, dass wir damit das Kind erziehen müssten, und nicht aufgrund unserer tatsächlichen Grenzen, bewegen wir uns in den falschen Bereich hinein. Dann setzen wir ein Machtgefälle ein, um den kindlichen Willen zu unterwerfen, und entziehen uns der Aufgabe, unser Kind wirklich auf die Welt vorzubereiten und Formen der Auseinandersetzung zu lernen. Natürlich brauchen Kinder die Erfahrung, dass Menschen, Dinge und soziale Systeme Grenzen haben. Das ist wichtig, und das dürfen wir nicht nur, sondern sollen wir unseren Kindern auch vermitteln. Hier können und sollten wir auch ganz bestimmt sein: Da ist eine Grenze von mir erreicht! Wir müssen nicht lächeln, wenn das Kind uns so an den Haaren zieht, dass es schmerzt, und wir es darum bitten, sofort aufzuhören. Auch hier treffen wir oft auf die Last der eigenen Vergangenheit, wenn wir nicht lernen durften, eigene Grenzen zu setzen und zu wahren. Wessen Grenzen als Kind immer übergangen wurden, der versucht auch als Erwachsener noch in freundlichem und vielleicht unterwürfigem Ton, darum zu bitten, dass sie doch bitte jetzt eingehalten werden. Das muss nicht sein: Du kannst dich selbst dazu ermächtigen, heute und jetzt deine eigenen Grenzen zu wahren. Denn du bist es wert, und es ist richtig, dich klar zu positionieren.

Reflexion: Selbstbestimmt Nein sagen

»Nein« zu sagen fällt vielen Eltern heutzutage schwer, wenn sie ihre Kinder anders erziehen wollen, als sie selbst erzogen wurden. Ein »Nein« aber ist wertvoll – für unsere Kinder und auch für uns selbst, denn durch die Möglichkeit eines Nein wird erst der Raum für das Ja eröffnet. Dein Nein ist richtig und in Ordnung.

Nimm dir drei Situationen vor, in denen du zukünftig ein klares, selbstbestimmtes Nein vorbringen möchtest, in denen es dir bislang schwergefallen ist.

Natürlich haben wir Eltern mehr Macht

Wenn wir uns fragen, ob wir Macht oder Gewalt ausüben, werden die meisten Leser*innen dieses Buches das wohl erst einmal verneinen. Auch, weil wir uns selbst manchmal in schwierigen Situationen so hilflos fühlen. Aber Tatsache ist, dass wir als Eltern in einer machtvolleren Position sind. Wir bestimmen die Tagesstruktur beispielsweise durch geregelte Essenszeiten, wir haben den Zugang zu Ressourcen wie Geld, wir verfügen über ein längeres Erfahrungswissen, auch im Hinblick auf soziale Regeln, die wir weitervermitteln. Und dies ist für unsere Kinder auch wichtig, denn sie brauchen von uns Schutz. Der schon genannte »Kreis der Sicherheit« betont die Funktion der Eltern als größer, weiser, stärker und gütig. Kinder brauchen uns als starke, sichere Bezugspersonen. Ob wir auch weiser und gütig sind, hat viel mit unserem Verhältnis zur Macht zu tun: Wie gehen wir mit unserer Macht um?

Viele von uns haben verinnerlicht, dass sich friedvolles Miteinander, Respekt, Toleranz und Akzeptanz gegenüber einer klaren, starken und Sicherheit ausstrahlenden Position ausschließen. Aber das stimmt nicht: Wir können genau das sein: »größer, weiser, stärker und gütig«, wie es im Kreis der Sicherheit heißt, oder »eine neue Autorität«, wie Haim Omer es nennt – und trotzdem unsere Macht nicht missbrauchen, sondern gewaltfrei mit unseren Kindern umgehen.

In den Situationen, in denen wir uns machtlos fühlen, laufen wir am stärksten Gefahr, unsere Macht auszuüben und unsere Vorstellungen, Denkweisen, Bedürfnisse und Wünsche über die des Kindes zu stellen. Oft gehen wir auch per se davon aus, als Erwachsene Dinge aufgrund unseres Erfahrungsvorsprunges besser beurteilen zu können, und diese Denkweise bestimmt unser Handeln. Aber nicht nur das: Auch unsere Kinder übernehmen nach und nach das Denken, dass wir besser wissen würden, was für sie in Ordnung sei.

Alina hat bereits eine Tochter im Teenageralter, als sie zum zweiten Mal schwanger wird und wieder eine Tochter zur Welt bringt. Sie erzieht diese kleinere Tochter, Camilla, zunächst sehr ähnlich wie ihr erstes Kind. Über Instagram kommt sie aber mit Bedürfnisorientierung und »unerzogen« in Kontakt und entschließt sich, nachdem sie zunächst unsicher war und nur »mitgelesen« hat, dieses Konzept auszuprobieren, weil es sich irgendwie richtig anhört. Camilla ist zu diesem Zeitpunkt schon vier Jahre alt, und Alina beschreibt sie als ziemlich willensstark und gibt an, immer wieder Konflikte in Bezug auf Ernährung, Schlafen und Spielen mit ihr zu haben. Als sie anfängt, Camilla mehr selbst bestimmen zu lassen, ist sie allerdings verunsichert: Es funktioniert einfach nicht. Camilla will sich ihr Essen nicht selbst auftun (es gab zuvor immer Konflikte, wenn sie zu viel auf dem Teller hatte und nicht aufessen wollte), und auch das selbstbestimmte Einschlafen klappt nicht wie erhofft. Alina glaubt, das ganze Konzept würde nicht stimmen beziehungsweise bei ihnen nicht passen. Tatsächlich aber hat Camilla über die Jahre verinnerlicht, dass Alina als Erwachsene besser weiß, was sie wie tun soll, wie viel sie, Camilla, zu essen hat, und ist nun verunsichert.

Der Übergang, die Bedürfnisse von Kindern zu respektieren und die Individualität des Kindes im Alltag zu berücksichtigen, ist nicht einfach, wenn man vorher ganz anders erzogen hat: sowohl auf Seiten der Eltern als auch auf Seiten des Kindes. Ein abrupter Wechsel im Sinne von »ab heute leben wir eben bedürfnisorientiert« funktioniert nicht, da Kinder oft erst wieder an ihr eigenes Gefühl herangeführt werden müssen. Dieser Prozess ist oft auch bei Kindern festzustellen, die die Lernform wechseln und von einer Schule, die klassischen Frontalunterricht anbietet, zum freien Lernen mit eigenen Zielvereinbarungen an freien Schulen übergehen. Auch hier brauchen die Kinder oft eine Zeit der Umgewöhnung, um zu lernen, mit der neuen Freiheit umzugehen und diese zu akzeptieren. Auch in der Zeit des Distanzlernens zu Hause während der Corona-Pandemie haben viele Eltern berichtet, dass ihre Kinder zunächst nicht zum Lernen zu motivieren waren, da die bisherige Struktur und die sich von der Eltern-Kind-Beziehung unterscheidende Lehrer*innen-Kind-Beziehung weggefallen sind. Die Kinder haben scheinbar einfach keine Lust gehabt. Andere Eltern haben dies als Autoritätsproblem identifiziert und als Machtkampf ausgefochten. Tatsächlich aber war es eine recht normale Reaktion auf die Umstellung und plötzliche Veränderung, und es ist unpassend, von Kindern zu erwarten, sie würden zu Hause schulisches Lernen ohne Probleme nachahmen können.

Es ist nicht möglich, das Machtgefälle zwischen Eltern und Kindern vollständig aufzuheben. Wenn sich Eltern der Verantwortung entziehen und Kindern gänzlich die Führung überlassen oder alles gleichwertig aushandeln wollen, kann das je nach Alter des Kindes zur Überforderung führen.

Doreen hatte eine eigene schwierige Kindheit und möchte mit ihrer mittlerweile dreijährigen Tochter Elsa »alles anders machen«. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, absolut gewaltfrei zu erziehen, auf Elsas Bedürfnisse zu achten und so einen bedürfnisorientierten Alltag zu gestalten. Allerdings ergeben sich immer wieder große Konflikte in verschiedenen Bereichen. Doreen beschreibt Elsa als lustlos und/oder wechselhaft. Wenn sie beispielsweise nach der Kita fragt, was Elsa machen möchte, gibt diese oft keine genaue Antwort. Sind sie dann beispielsweise auf dem Spielplatz, möchte sie doch lieber woandershin. Ähnlich ist es beim Essen, wo Doreen hin- und hergerissen ist zwischen ihrem Bedürfnis, Elsas Wünschen zu entsprechen und gleichzeitig nicht so viele Lebensmittel zu verschwenden, da Elsa gekochte Speisen oft ablehnt und doch etwas anderes haben möchte. Manchmal bereitet Doreen abends drei verschiedene Mahlzeiten für Elsa zu. Doreen erlebt sich als inkompetent, und auch ihr Partner Philipp, der allerdings wenig anwesend ist, findet, dass es so nicht weitergehen kann. Doreen erkennt zunächst nicht, dass sie in ihrem Wunsch, es ganz anders machen zu wollen, in das gegenteilige Extrem gerutscht ist und Elsa mit zu vielen Auswahlmöglichkeiten zu wenig Halt und Sicherheit bietet. Die Beteiligung an Entscheidungen ist gut und wichtig für Elsas Entwicklung, aber in ihrem Alter sollte sie in einem begrenzten Rahmen wirksam sein können. So könnte sie bei einem Abendessen zwar wählen, was sie als Belag auf ihr Brot nimmt, oder auch nur Belag oder Gemüse essen, aber Doreen muss ihr nicht auch noch Nudeln kochen, wenn sie das Brot nicht haben möchte.

Kinder brauchen uns Erwachsene als schützende und versorgende Personen. Das ist einer der Grundpfeiler der Bindungstheorie. Die Frage aber ist, wie genau wir diese machtvolle Position einsetzen. Wir müssen, wie wir sehen werden, unsere Macht nicht mit Druckmitteln umsetzen, sondern können sie auf eine gewaltfreie, natürliche Autorität zurückführen. In einer Auseinandersetzung zwischen »Ich will das« und »Mein Kind will etwas anderes« sollte das Lösungsziel nicht sein, dass wir Erwachsene gewinnen und damit unsere Machtposition untermauern, sondern wir sollten auf gegenseitiges Verständnis und kreative Lösungen setzen. Die Position von »größer, weiser, stärker und gütig« meint genau dies.

Sechs L für eine friedvolle Elternschaft

Gewaltfreie und friedvolle Elternschaft ist möglich, ohne dass wir uns und unsere Grenzen selbst vergessen oder übertreten. Im Gegenteil: Das sichere, selbstbestimmte Einhalten der eigenen und sozialen Grenzen ist sogar zwingend notwendig, um gewaltfrei mit Kindern zu leben und ihnen anhand dieser Grenzen den Entwicklungsrahmen zu bieten, in dem sie sich entfalten können, gemäß Immanuel Kants Ansatz »Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt«. Stoßen Kinder an diese Grenzen, können wir sie ihnen gewaltfrei aufzeigen: Sie müssen nicht bestraft und unterdrückt werden, um Grenzen zu akzeptieren, sondern lernen die Bedeutung der Wahrung von Grenzen durch Empathie. Im Alltag können wir auf sechs Lerninhalte zurückgreifen, die uns dies ermöglichen:

Stress begünstigt negative Erziehungsmethoden. Sind wir gestresst, schreien wir mehr, übergehen eher andere, nehmen fremde Bedürfnisse weniger wahr. Es ist deswegen wichtig, die individuellen Stresspunkte zu kennen: In welchen Situationen fühle ich mich angespannt und gestresst? Was versursacht Stress bei mir, und wie kann ich bestimmten Stresssituationen durch bessere Organisation, Verteilung von Aufgaben auf andere Personen oder das Annehmen von Hilfe aus dem Weg gehen?

Darüber hinaus ist es wichtig, die eigene »Haifischmusik« zu kennen. Der Begriff »Haifischmusik« stammt aus dem schon erwähnten »Kreis der Sicherheit« und verbildlicht wunderbar diese Angst, die manchmal in uns auftaucht: Wenn wir ein und dieselbe Filmsequenz einmal mit normaler Musik unterlegen und einmal mit dem gefährlich erscheinenden Soundtrack von Der weiße Hai, dann sehen wir diese Sequenz in einem ganz anderen Licht. In der Begleitung unserer Kinder geht es darum, herauszufinden, wann und in welchen Situationen unser Gehirn eine solche Haifischmusik spielt und wir auf einmal eigentlich normale Situationen als gefährlich einstufen: gefährlich für das Kind (»Oh nein, es sollte lieber nicht klettern, es fällt bestimmt gleich!«), gefährlich in Bezug auf unsere Beziehung (»Diese Nähe ist mir zu anstrengend, ich will lieber meine Ruhe haben«) oder auch gefährlich für uns (»Das Kind macht das nur, um mir zu schaden«). Wir alle haben unterschiedliche Problemsituationen, die sich aus unseren Geschichten ergeben, und wir müssen uns individuell auf die Suche danach machen. Hilfreich ist es, ein Tagebuch zu führen, aus dessen Einträgen wir ersehen können, welche Situationen uns immer wieder Schwierigkeiten bereiten.

Oft nehmen wir an, dass wir mit unseren erzieherischen Handlungen das Denken und Fühlen der Kinder einfach ändern könnten: Ich sage oder mache etwas, und auf einmal ist das Kind einsichtig und handelt anders. Das funktioniert natürlich nicht. In einigen Fällen können wir das Denken von Schulkindern durch Argumentationen verändern. Bei Kindern in der sogenannten Autonomiephase oder jünger ist das nicht möglich. Wir müssen deswegen allein die Verantwortung für uns selbst und unser Denken und Fühlen übernehmen: Ich kann ändern, wie ich über mein Kind denke (siehe nächstes Kapitel). Ich kann meine Gefühle beeinflussen, wenn ich weiß, was mich aufregt oder triggert und wie ich gut durch eine solche Welle der Wut, Enttäuschung, Angst oder gefühlten Machtlosigkeit kommen kann.

Du bist die erwachsene Person in dieser Beziehung und trägst die Verantwortung dafür, die Beziehung zu deinem Kind zu gestalten und auf Respekt und Sicherheit zu bauen. Wenn du in den vergangenen Kapiteln gesehen hast, dass du mit Druck oder unterschiedlichen Formen von Gewalt als Erziehungsmittel arbeitest, hast du es in der Hand, dies zu ändern: Zu jedem Zeitpunkt in eurer gemeinsamen Familiengeschichte kannst du das Ruder herumreißen und eure Beziehung neu gestalten. Manche Wunden sind schwer aufzuarbeiten, aber du kannst neue verhindern und alte zu heilen versuchen.

Nicht nur unsere Handlungen nehmen einen Einfluss darauf, wie sich unsere Kinder fühlen, sondern auch unsere Worte. Denn das an das Kind gerichtete Wort ist auch eine Handlung: Es kann ein Befehl, eine Beschämung, ein Druckmittel sein. Wie wir mit unseren Kindern reden, macht wesentlich aus, wie sich das Kind sieht und fühlt. In unseren Aussagen spiegeln sich viele verschiedene Botschaften wider. Gerade dann, wenn wir in Konfliktsituationen mit unseren Kindern sind, ist die Art unserer Kommunikation wichtig. Die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg7 kann hier eine gute Unterstützung sein, denn sie ermöglicht uns, unsere respektvolle Denkweise in Sprache zu übersetzen: Zunächst betrachten wir die Situation ganz ohne Bewertung, dann ermitteln wir das in uns hervorgerufene Gefühl und überlegen dann als dritten Schritt, welches Bedürfnis damit in Verbindung steht. Wenn wir wissen, was wir in dieser Situation wirklich brauchen, können wir eine Bitte formulieren. Auch hier gilt: Gewaltfreie Kommunikation ist keine Methode, sondern eine Haltung. Es hilft uns nicht, bestimmte Sätze oder ein Kommunikationsmuster abzuspulen, wenn wir die dahinterstehende Haltung der Gewaltfreiheit nicht verinnerlicht haben. Die Basis unserer Kommunikation ist das Mitgefühl und die Selbstreflexion: In Konfliktsituationen können wir die Situation zunächst beobachten, ohne sie zu bewerten, denn wir müssen nicht – wie wir schon gesehen haben – sofort reagieren. Dann können wir wahrnehmen, was die Situation in uns auslöst, um schließlich zu überlegen, welches Bedürfnis damit in Verbindung steht. Auf dieser Basis ist weiteres Handeln möglich, weil wir sehen, was wir selbst und unser Gegenüber braucht.

In vielen von uns ist verankert, dass Disziplin, Strenge und Regelmäßigkeit wichtig sind. Und tatsächlich können Rituale im Alltag mit Kindern eine gute Unterstützung sein. Aber ebenso wichtig ist auch Flexibilität, denn Kinder und ihre Bedürfnisse ändern sich über die Zeit, und manchmal sogar wochenweise: Was heute funktioniert, klappt morgen vielleicht nicht mehr. Es ist in Ordnung, verschiedene Rituale wie die Kleiderstraße oder Musik beim Zähneputzen auszuprobieren. Es ist kein Zeichen von Inkonsequenz oder falschen Erziehungsprinzipien, wenn wir unsere Methoden und Handlungen an unsere jeweiligen Familiensituationen anpassen. Es zeichnet dich sogar aus, wenn du eure Situation so im Blick hast, dass du darauf abgestimmt handeln kannst und flexibel reagierst.

Eine der wohl provokantesten Thesen für uns ist, dass kindlicher Widerstand gut ist. Es ist gut, wenn Kinder sich einbringen wollen, wenn sie ihre Bedürfnisse äußern. Je nach Temperament tun sie das auf ganz unterschiedliche Weise. Wir müssen lernen, dass kindlicher Widerstand kein Zeichen eines Fehlers auf Seiten der Eltern ist, sondern dass das Autonomiestreben von Kindern absolut normal und richtig ist. Und mehr noch: Wir können und sollten unsere Kinder im Widerstand stärken und gerade mit unseren größeren Kindern ganz bewusst Diskussionen führen. Wir dürfen dabei unsere Meinungen ändern, wenn Kinder gute Argumente vorbringen, und können sie so in ihrer Diskursfähigkeit stärken. Sie sollten in Familienkonferenzen und Alltagsgesprächen beteiligt sein und eine aktive Position übernehmen können. Und wir dürfen ihnen auch sagen: Wenn dich etwas daran stört, was ich mache oder sage, dann kannst du mir das sagen. Ja, wir dürfen unsere Kinder zum Widerstand ermächtigen.

Ist das überhaupt noch Erziehung?

Wie im ersten Teil beschrieben, gibt es eine ganze Reihe von Personen und pädagogischen Richtungen, die sich per se gegen Erziehung wenden und erklären, warum Erziehung falsch sei, um mit Kindern das Leben zu gestalten. Auch in diesem Buch geht es darum, dass es für Kinder nachteilig ist, wenn wir sie aufgrund ihres jungen Alters diskriminieren und unsere Macht zur Unterdrückung und Formung einsetzen. Immer wieder wird erklärt, dass wir statt Erziehung die Beziehung in den Blick nehmen müssen. Und das ist richtig. Die Vorstellung davon, dass wir zu einem Zusammenleben mit Kindern gelangen, das nicht auf Formung und Anpassung basiert, sondern auf Anerkennung, Rücksicht und Respekt, ist wunderbar. Und dies sollte unser Leitstern sein, nach dem wir unser Handeln ausrichten.

Dennoch ist es auch ein utopischer Gedanke, von heute auf morgen Erziehung hinter uns zu lassen und »nichterziehend« zu leben. Denn wir leben in einer Gesellschaft mit anderen Menschen, und diese Gesellschaft ist durch ihre Geschichte mit diversen Problemen behaftet – sie diskriminiert auf vielfältige Weise andere Menschen, nimmt wenig Rücksicht auf Natur und Gesundheit, und wir geraten – wenn wir gar nicht erziehen wollen – an vielen Stellen in eine Zwickmühle. Beispielsweise dann, wenn das Kleinkind ein Spielzeug haben möchte, das gegen unsere Wertvorstellungen verstößt, oder es unbedingt ein Quetschie haben will, weil die anderen Kinder im Kindergarten das auch immer trinken. Oder wenn das Kind sich einer politischen Gruppierung anschließen möchte, hinter der wir nicht stehen oder die wir sogar vehement ablehnen. Dann treffen unsere Werte auf die kindlichen Wünsche. Nicht selten siegt der Adultismus, wir stellen unser Wissen über das des Kindes, und es ist für uns natürlich logisch, so zu handeln.

Wir treffen wahrscheinlich die richtigen Entscheidungen, wenn wir Konsum einschränken, politisch korrekt handeln etc., aber dennoch treffen wir Erwachsene die Entscheidungen durch unsere elterliche Macht. An vielen Stellen ist die »Generation Greta« vielleicht einsichtiger, als wir es von ihr erwarten, an anderen Stellen können wir wahrscheinlich durch Diskussionen unsere größeren Kinder von bestimmten Dingen überzeugen – aber eben nicht an allen. Doch sollten wir auf Umwelt, Rassismus und Diskriminierung pfeifen, damit unser Kind sich Wünsche erfüllen kann? Wohl kaum. Wir sind daher nicht frei von Erziehung. Noch nicht. Denn die in unserer Gesellschaft aufgebaute Schieflage erfordert an einigen Stellen Erziehung, um sich wieder in eine andere Richtung zu bewegen, und zwar in Richtung Freiheit.

Durch unser Handeln heute können wir die Welt verändern, wir können viele Baustellen der Gesellschaft in Angriff nehmen, sodass unsere Kinder, wenn sie vielleicht einmal Eltern werden, sich gegen weniger Dinge auflehnen müssen. Wir alle können an den wunden Punkten arbeiten, wenn wir uns ihnen ganz persönlich stellen, und damit gesamtgesellschaftlich etwas bewegen. Und vielleicht schaffen wir sogar die große Wende, sodass in späteren Generationen Erziehung auf die Weise, wie wir sie kennen, nicht mehr notwendig ist und sich die Menschen ganz auf das friedvolle Miteinander konzentrieren können. Momentan müssen wir erst einmal daran arbeiten und an manchen Stellen eben auch erziehen, wenn wir dem Kind sagen, dass Sprüche wie »Das ist voll behindert« oder »Das ist voll schwul« bei uns nicht gesagt werden, weil sie andere Menschen diskriminieren. Aber wir können mit den uns möglichen Schritten in Richtung Erziehungsfreiheit vorangehen – indem wir uns selbst reflektieren und unsere Kinder in ihrem Wesen so annehmen, wie sie sind.

Reflexion: Unsere Werte

Wir können für uns festlegen, dass in unserer Familie Beziehung vor Erziehung steht und wir ein respektvolles, friedfertiges Miteinander anstreben. Um sich das immer wieder vor Augen zu führen, ist es gut, gemeinsame Werte auszuformulieren und zu verschriftlichen. Sie können auch aufgeschrieben und in einem Bilderrahmen an die Wand gehängt werden. Mit größeren Kindern (ab Vorschulalter) empfiehlt es sich, so eine Wertedefinition und ihre gelegentliche Anpassung oder Überarbeitung im Rahmen einer Familienkonferenz festzulegen, in der gemeinsam darüber gesprochen wird, was wem im Zusammenleben wichtig ist. So wird das Miteinander nicht nur schriftlich festgehalten, sondern auch aktiv gelebt. Für die Wertedefinition könnt ihr euch an den Worten unter der Aufgabe »Reflexion: Zeitreise« orientieren (Seite 49 f.).