Liebe ist der Ausgleich dafür, dass wir nur eine Person sein dürfen, sagte Mary. Ihre Pupillen waren weit und tief, ihr ganzes Leben, ihre ganze Geschichte, Merle und Clara, das kleine WG-Zimmer, das sie mit Chandra geteilt hatte, der Vorfall in der Seitengasse, die Paul-Monate, jede Tatsache, die sie jemals erfahren, jedes Wort, das sie je gelesen oder geschrieben hatte, jedes Ausatmen, jeder Lidschlag, jedes Gramm ihres Körpers, alles drängte vorwärts, drängte sie in die Gegenwart, auf dieses Stück Rasen in seinem Dachgarten, wo der pastellfarbene Sommersonnenuntergang den Himmel flutete und ihre Hand in Kurts schwitzender Hand lag – und das Normale (Hand in Hand) war auf einmal so bemerkenswert und beängstigend, ein völlig anderes, in dieser Berührung gefangenes Bewusstsein, eine Berührung, die ihr Bewusstsein barg, und ihr Gehirn war jeder Ozean und jedes Meer zusammengenommen, und alles war gestochen scharf, sie meinte, jeden Riss in jedem Ziegel an jedem Gebäude jenseits des Flusses zu sehen und jede Speiche an jedem einzelnen Rad zählen zu können, das über die Brücke rollte. Alle ihre Fasern und Zellen pulsierten gegen die Luft, und sie fühlte sich wahrhaftig.
Warte, sagte Kurt, dessen Augen genauso puppenartig groß waren wie ihre. Rühr dich nicht von der Stelle. Mary sah ihn sein Handy holen. Sag das noch einmal, genauso wie eben.
Sie schloss die Augen und öffnete den Mund, vergaß alles, was sie je gesagt hatte, vergaß alle Sprache, vergaß ihr Leben, und als sie den Mund aufmachte, ihre Lippen sich langsam voneinander lösten und ihre Stimmbänder Wörter aus ihrer Kehle schüttelten, spürte sie jeden glatten Zahn und Muskel in ihrem Mund in allen Details und mit größter Deutlichkeit und war voller Bewunderung dafür, wie perfekt ihr Mund gebaut war, alle Münder, all die feuchten Zungen, die hinter Lippen, neben Zähnen, zwischen Gaumen und Mundbetten in so vielen Schädeln lagen, und die Zunge war es auch, mit der all dies erst eine Stunde zuvor begonnen hatte, als sie in seiner Küche weißes Pulver von einer Glasplatte geleckt und den bitteren Geschmack mit Grapefruitschorle heruntergespült hatten, bevor sie sich in Kurts Dachgarten aufs Gras legten und, als die Droge wirkte, jeder grüne Halm an ihrem Rücken zum Leben erwachte und die Nerven unter ihrer Haut, um Herz und Magen, im Rückgrat und hinter den Augen vibrierten. Sie konnte das Feuer in allem fühlen, lebendiger denn je.
Die ganze Zeit, dachte sie, war dies alles schon hier, und wir haben es nicht gesehen. Wie konnten wir das übersehen? Wie konnten wir es vergessen?
Nachdem er ihren Satz (Liebe ist der Ausgleich dafür, dass wir nur eine Person sein dürfen) aufgenommen und ein paarmal hintereinander abgespielt hatte, lächelnd und manisch (Liebe ist der Ausgleich dafür, dass wir nur eine Person sein dürfen … Liebe ist der Ausgleich dafür, dass wir nur eine Person sein dürfen …), standen sie beide auf und verschränkten ihre Hände, unfähig, einander direkt anzuschauen, ohne zu überwältigen oder überwältigt zu werden. Sie gingen an den Rand des Daches und blickten auf die Skyline, stundenlang, wie ihnen schien, dabei waren es nur ein paar Minuten.
Die Haut rund um meinen Kopf lächelt einfach immer weiter, sagte sie, woraufhin er so sehr lachte, dass sie Angst bekam, er würde nie mehr aufhören damit, und als er es doch tat, umarmte sie ihn vor lauter Erleichterung, wie ein Elternteil ein entführt geglaubtes Kind, und so hielten sie einander eine Zeit lang schweigend, fühlten die Knochen und Sehnen im Rücken des anderen und dachten an nichts als ihre aneinandergepressten Körper, Leben an Leben, ganz einfach. Die Sonne sank tiefer, und unter ihnen, ein paar Blocks entfernt, waren die zwischen Laternenpfählen aufgespannten Lichter eines kleinen Jahrmarkts angegangen, und die Geräusche des Rummels und der Geruch von Schmalzgebäck drifteten in der heißen Luft zu ihnen herauf, füllten ihre Nasen, Münder, Ohren und Nebenhöhlen und erinnerten Kurt an lang vergangene Sommer, an das Kind, das er nicht mehr war.
Lass uns runtergehen, sagte Kurt, wieder ein Junge, und uns das von Nahem ansehen. Die Droge hatte einen Teil seiner Ängste weggebrannt, wie Drogen das eben tun, und obwohl er eine heftige Abneigung gegen Menschenmengen hatte und Angst davor, in der Öffentlichkeit mit irgendwem fotografiert zu werden, meinte er, seine Sonnenbrille, seine Baseballkappe, Mary und diese unermessliche Ehrfurcht würden ihn schon beschützen.
Einen Block vom Loft entfernt bemerkten sie einen Mann und eine Frau, die unter einem Baugerüst standen und sich stritten. Sie wirkten, als hätten sie sich mit ihrem Unmut über den anderen arrangiert, als ginge das schon so lange so, dass sie sich darauf verpflichtet, sich darin eingerichtet, einen Vertrag geschlossen hatten. Die ganze Energie des Mannes schien sich in seinem Kopf gesammelt zu haben, und die Frau brüllte, beugte sich zu ihm vor, die Hände ausgestreckt, flehentlich, mit den Handflächen nach oben. Dann barg sie ihr Gesicht darin und fing an zu zittern. Er ging auf sie zu und legte ihr eine Hand auf den Arm, doch sie schüttelte sie ab. Sie nahm die Hände vom Gesicht, das nun rot und tränenverschmiert war, und schleuderte ihm ein paar harte Wortbrocken entgegen, die Kurt und Mary kaum als Englisch ausmachen konnten.
Was sagen Sie da?, fragte Kurt, ohne eine Antwort zu erwarten, aber Mary nahm die Frage ernst und fing in einem Zustand der Erleuchtung an, den Streit zu übersetzen.
Warum bist du nicht ich? Warum lebst du nicht so, wie ich es tun würde? Ich dachte, sich lieben bedeutet, zwei Menschen sein zu dürfen. Wie konntest du etwas tun, was ich nicht tun würde? Das ist unmöglich und absurd. Ich kann nicht nur eine Person sein. Ich muss auch du sein. Lass mich du sein. – Und sie sagt: Hör auf, du liegst völlig falsch. Ich bin du, nicht anders herum. Du darfst nicht ich sein. Ich darf du sein. Ich bin du. Es gibt kein du, nur das andere mich.
Während sie sprach, starrte Kurt sie an, als hielte er sie für eine Art Genie oder Heilige, brachte kein Wort heraus, sondern stand nur da. Doch schließlich sagte er – Ja, das ist es! Das ist es! Und noch lauter: JA!
Das streitende Paar sah zu ihnen herüber, und Kurt rief noch einmal JA, und sein Ja hallte von den hohen Gebäuden wider, hinterließ überall Fragmente von sich, bis Kurt hinzufügte, He! Wir haben gerade alle eure Probleme gelöst!
Die Frau schüttelte den Kopf und murmelte irgendetwas, und der Mann rief, He! Verpiss dich! Er legte den Arm um die Frau, und sie stapften einen dunkleren Teil der Straße hinunter, in ihrem Missfallen gegenüber diesem Fremden vereint. Später machten sie sich über seine Baseballkappe lustig.
Kurt und Mary schauten den beiden nach, sahen Schatten auf ihren Rücken spielen und merkten, dass ihr Ärger ihnen nichts anhaben konnte. Sie gingen weiter, angezogen vom Glanz des Jahrmarkts, und schlängelten sich dort zwischen den Menschen hindurch, Frauen mit Kopftüchern ums Haar, Männer, die Schmalzgebäck aßen, Kindern, die unter neongelben und knallpinken Stofftieren verschwanden, flauschigen Hunden oder Kugelfischen mit Fell und Plastikglupschaugen, größer als die Kinderköpfe selbst, diesen Hauptgewinnen, dieser künstlichen Freude.
Irgendwo spielte eine Mariachi-Band, durch die Entfernung verzerrte, in der Hitze zerfließende Hörner- und Gitarrenklänge, und während Kurt lauschte, merkte er, dass er seit vielleicht zwei vollen Minuten mitten in der Öffentlichkeit war, ohne dass ihn jemand bemerkt hatte, ohne dass ihn jemand gefragt hatte, ob er ein Foto mit ihm machen oder ein Autogramm von ihm haben dürfe, ohne dass ihn jemand gebeten hatte, sich anzuhören, was immer er oder sie ihm sagen wollte, ohne dass ihn jemand angefasst, ihm ein Foto von sich oder eine Visitenkarte gegeben oder eine unglaublich traurige Lebensgeschichte erzählt hatte – alle hatten ihn einfach in Ruhe gelassen, ihn nicht an sich selbst erinnert, ihn als Teil einer Menge akzeptiert, als Mensch, und seine Augen hinter der Sonnenbrille strahlten vor Freude, unbeobachtet, ein Geschenk, das diese Leute ihm gemacht hatten, ohne es zu wissen, und er weinte.
Er stand noch eine Weile reglos da, bis er merkte, dass Mary seine Hand losgelassen hatte. Als er sich umdrehte, sah er sie ein paar Meter weiter in die Ferne schauen, von irgendetwas gebannt, allein mit ihren Gedanken. Kurt wünschte, er könnte in ihrem Kopf sein – und das hieß nicht, dass er wissen wollte, was sie dachte, und auch nicht, dass er es Mary gern gefragt hätte, nein, mehr als alles andere sehnte er sich schmerzlich und vergebens danach, ihre Gedanken und Gefühle unmittelbar mitzuerleben. Er wollte diesen Moment genauso empfinden, wie sie ihn empfand, wollte ihr Leben nicht durch die Linse seines Lebens betrachten, sondern ganz und gar in ihr aufgehen. Das musste Liebe sein, dachte er, jetzt hatte er einen Zustand reiner Liebe erreicht. Mit blendender Gewissheit fühlte er, dass das, was er in diesem Augenblick für Mary empfand, wirklich von Dauer war, aber was er da fühlte, war nicht seine dauerhafte Liebe zu ihr – niemand weiß, welche Liebe ein Leben lang anhalten kann –, sondern die Dauerhaftigkeit der Liebe selbst, unabhängig vom Menschen. Aber er zweifelte auch und glaubte, das Gefühl schützen zu müssen – wie konnte er sicherstellen, dass es ihn nicht verlassen würde, in dieser Welt, in der alles endete; Nächte endeten, Menschen waren da, dann fort, Eiscreme schmolz, Drogen legten ihren endlichen Weg durch einen Körper zurück. Er wünschte sich sehnlichst, sich dieses Gefühl wenigstens für die kurze Frist seines Lebens bewahren zu können – war das so unbescheiden? Wäre es nicht möglich, dieses Gefühl irgendwie davon zu überzeugen, bis zu seinem Tod unerschütterlich bei ihm zu bleiben?
Mary blickte in die Menge, anscheinend auf der Suche nach etwas (nach ihm, dachte er), und als Kurt zu ihr kam, lächelte sie, aber nur leicht, und er vergrub das Gesicht in ihrer Halsbeuge, sog ihren vollkommenen unverfälschten Geruch ein, legte ihr die Arme um die Taille, und sie flüsterte, Ich brauche Wasser. Ich kann hier nirgends Wasser finden, und ein Gefühl von Dringlichkeit erfasste ihn – was immer sie brauchte, brauchte er um ihretwillen noch verzweifelter.
Die Menschenmenge wirkte plötzlich böse, verärgert, pervertiert. Alle standen Schlange für irgendetwas Grässliches oder sprachen mit wütenden Kindern, kleinen Diktatoren mit riesengroßen Augen und Schokolade oder Dreck um den fürchterlichen Mund, auf dem Rücken Tierleichen in schrillen Farben. Die Standbesitzer schrien – alle schrien sich gegenseitig Bestellungen zu oder warben für ihre billigen Spiele oder irgendeinen dürftigen verkäuflichen Mist. Es roch durchdringend nach verbrennendem Fleisch. Hier grub jemand seine scharfen Zähne in ein rotes Waffeleis, dort stöhnte jemand oder war schweißüberströmt, und niemandem schien es gut zu gehen.
Wir müssen hier weg, sagte Kurt, nahm ihre Hand und lief mit ihr durch die furchtbare Menge, diesen letzten Ort auf Erden, an dem sie sein wollten. Sie rannten in eine Saftbar und standen vor einem großen Kühlschrank voller Flaschen – grünen, gelben, milchweißen und roten Säften –, und Kurt war wie gelähmt von den Farben, dem Geheimnis all dieser Flüssigkeiten, die bloße Vorstellung, so eine Flüssigkeit just in diesem Moment, diesem sensationell komplizierten und über die Maßen detailreichen Moment, in sich hineinzuschütten, war ganz unmöglich, und er merkte gar nicht, dass Mary mit dem Jungen hinter dem Tresen sprach.
Ich hätte gern ein Wasser.
Klaro. Welche Sorte?
Welche Sorte Wasser?
Wir haben Kokosnusswasser, Aloewasser, Ingwerwasser, Gemüsewasser, Kräuterwasser, mit gelbem Wassermelonensaft angereichertes Wasser, Kurkumawasser und voll entsalztes Apfelmost-Essig-Agavenwasser.
Sie fühlte sich trostlos und trocken.
Ach ja – und Honig-Zitronen-Wasser. Und Ahornwasser.
Könnte ich nicht – Haben Sie kein Wasser?
Wir haben verschiedene Wasser.
Normales Wasser?
Wir bieten mikronährstoffreiche Hydrierung.
Warum können Sie mir nicht antworten?
Der Junge hinter dem Tresen sah Mary an, lächelte, begriff, dass sie high war, und erkannte Kurt, der nach wie vor von all den Flaschen mit bunten Flüssigkeiten gefesselt war. Ein bis dahin unbemerkter Mann, der eine weiße, mit Rote-Bete-Saft beschmierte Schürze trug, schaltete den metallenen Entsafter ein, diese Todesmaschine, und blickte, während er Karotten und Selleriestangen in den Behälter hineinzwängte, finster vor sich hin, und sein Haar mochte aus Würmern bestehen oder auch nicht, und der Junge an der Kasse sah jetzt komplett geistesgestört aus und schien eine menschliche Karotte zu sein, ein Gemüsekannibale. Kurt und Mary flohen, suchten sich eine weniger volle Straße, um nicht noch einmal auf dem Jahrmarkt zu landen, und legten den ganzen Weg bis nach Hause im Laufschritt zurück, Hand in Hand. Sie hasteten an Kurts Portier Jorge vorbei, ohne auch nur hallo zu sagen, fieberhaft und entschlossen, in der perfekt geeichten Behaglichkeit von Kurts Loft allein zu sein.
Warum sind wir überhaupt losgegangen?, fragte Kurt im Fahrstuhl, noch außer Atem. Er drückte sie an seine Brust, und sie klammerte sich an ihn, und einen Moment lang empfanden sie genügend Glück und Frieden, um sich nicht zu fragen, wie sie dieses Gefühl für immer aufrechterhalten, wie sie das System austricksen könnten.
Den Rest des Tages verbrachten sie mit den geheimnisvoll magischen Dingen, die Menschen auf Drogen so tun – verhakten ohne Scham ihre Blicke ineinander, äußerten Binsenwahrheiten, die alle Probleme der Welt auf einen einzelnen Satz oder ein einzelnes Wort reduzierten, weinten über Banalitäten, die plötzlich tiefe Bedeutung bekamen – Wasser, das aus einem Hahn fiel, ein über den Küchentresen rollender Stift, ein Kissen auf dem Boden.
Das Ende des Rauschs kam langsam, und wenn Mary zwischendurch aus ihrem Halbschlaftraum oder der Halbwachtrance herausdriftete, konnte sie nicht unterscheiden, was die Droge ihr vortäuschte und was ihre eigene Wahrnehmung war. Vage registrierte sie, dass mit ihrem Körper irgendetwas passierte. Ein Druck lastete auf ihren Füßen, dann den Beinen, dann zwischen ihren Beinen, auf ihrem Bauch. Sie fühlte sich fast gelähmt, schaffte es aber, die Hand auszustrecken und zu fühlen, dass Kurt auf seiner Seite des Bettes schlief, und sie versuchte, die Beine zu bewegen, konnte es aber nicht, und sie streckte die Arme aus und spürte Kurts Schultern über sich, aber gleichzeitig konnte sie die Arme gar nicht ausstrecken, streckte sie nicht aus, und ihr Körper drehte sich in sich selbst, und ihr war heiß und kalt zugleich, und sie fühlte sich sicher, aber auf sehr kleinem Raum eingesperrt, und sie wusste nicht, ob sie niedergedrückt oder ruhig gehalten wurde oder gar nichts mehr war.
Sie sah zum Fenster, und da war Kurt und betrachtete die Skyline, und sie sah zur Schlafzimmertür, und da war er auch, lehnte im Gegenlicht am Türpfosten, und sie spürte seine Beine an ihren und seine um ihren Körper geschlungenen Arme und etwas in ihrem Körper, und sie fragte sich, ob das, was sie in ihrem Körper fühlte, nur mehr von ihrem eigenen Körper war, und auch, ob sie irgendwie aus der Zeit gefallen sein könnte, aber zugleich schien sie in der Zeit festzustecken, unfähig, sich von dem Gefühl zu lösen, dass all die Stunden, die sie mit Kurt verbracht hatte, sie umzingelten und belagerten.
All ihre Erinnerungen an ihn blitzten vorüber – von jenem ersten Treffen in der versteckten Bar über all die stillen Nachmittage in seinem Loft bis hin zu ihren gemeinsamen Abendessen, den Stunden im Schneideraum, den schwarzen Autos, in denen er sie an manchen Abenden weggeschickt hatte, den schwarzen Autos, in denen sie an anderen Abenden gemeinsam gefahren waren. Sie dachte daran, wie Kurt mit ihr zusammen gelacht oder sich ernst mit ihr unterhalten oder sie angelächelt oder geweint hatte, und erinnerte sich an das zarte Erschrecken in seinem Gesicht, als die Wut-Freundin zum ersten Mal aufgetaucht war, dann an seine mit jedem weiteren Besuch von Ashley immer gespielter wirkende Panik. Sie dachte an den Abend, als er ihr von seiner Mutter erzählt hatte, von ihrem Leben und Sterben und all den Dingen danach, und obwohl Mary immer noch hauptsächlich dankbar war, dass er sie nie nach ihrer Vergangenheit befragt hatte, grollte sie ihm insgeheim auch deswegen, denn seine fehlende Neugier zeigte doch wohl, dass sie ihm nicht das Geringste bedeutete. – Und war das nicht in Ordnung? Da er ihr Arbeitgeber war? Und dies alles ein sonderbares Experiment oder eine Therapie oder ein Spiel?
Doch als die Wirkung der Droge nachließ, ein Vorgang wie die jahreszeitlich bedingte Schneeschmelze, empfand sie schlichte Traurigkeit. Sie hatte ihre Familie verloren, ein vermeidbarer Verlust, und sich anerzogen, sie noch nicht einmal zu vermissen. Aber wären nicht sie dafür verantwortlich gewesen, sie nicht zu verlieren? Oder wurden Kinder irgendwann Eltern ihrer Eltern, wie sie einmal jemanden hatte sagen hören, und wenn, war das bei ihr dann schon passiert? In welchem Alter überholte man sie? Hatte sie ihre Chance verpasst? Und was passierte Elternkindern ohne ihre Kindereltern? Was konnte sie jetzt tun?
Als ein neuer Tag anbrach, blickte Mary in Kurts schlafendes Gesicht und wunderte sich, dass er schlafen konnte, während sie so wach war, jetzt wieder klar sehend und bei klarem Verstand, und sie wusste, aufgrund ihrer Liebe zu ihm müsste sie ihn auf der Stelle dafür hassen, dass er sie nie gefragt hatte, was ihr widerfahren war. Aber hätte sie ihm denn von der Hütte erzählt, von Merle, seinem Manifest, ihrem kleinen einsamen Anfang? Aber genau das tat man doch, wenn man liebte, oder? Einander sein Leben erzählen, um es noch einmal zu hören, noch einmal zu verstehen, was die eigene Geschichte mit einem gemacht hatte, was sie noch immer mit einem machte?
Obwohl der Verlust seiner Mutter ihm den größten Schmerz seines Lebens zugefügt hatte, erzählte er gut zwanzig Jahre später fast gerne davon, denn ihr Tod war das Menschlichste, was ihm je widerfahren war, ja manchmal schien es, als wäre es sein letztes, wahrhaft menschliches Erlebnis gewesen, bevor sein Leben surreal wurde und er begann, dieses surreale Leben als gegeben hinzunehmen, quasi neben sich zu stehen und zu beobachten, wie er immer bekannter wurde – doch wenn er die Geschichte seiner Mutter erzählte, wenn er sich daran erinnerte, wie sie ihn in jenen letzten Tagen angeschaut hatte, als sie beide wussten, dass sie ihren Körper verlassen, er aber in seinem bleiben würde, dann wurde Kurt ein ganzer Mensch, ein Mensch auf der Erde, und erst wenn er aufhörte, diese Geschichte zu erzählen, rückte er wieder von sich ab, entfernte sich von sich selbst, beobachtete sich praktisch live.
Als Mary an diesem Morgen im Bad stand, dachte sie daran, wie Kurts Gesicht immer, wenn er über seine Mutter gesprochen hatte, weicher geworden war, als wäre ein System von Spannseilen, das ihn von innen zügelte, erschlafft.
Wenn du alles als gegeben annimmst, bist du blind, aber wenn du nichts als gegeben annimmst, bist du gelähmt, sagte sie laut und beobachtete dabei ihren Mund im Spiegel.
Und während sie das sagte, fiel die Lähmung teilweise von ihr ab. Sie hatte immer noch das unbestimmte Gefühl, dass in der Nacht etwas mit ihrem Körper passiert war, doch als sie ihn nach einem Beweis dafür absuchte, einem blauen Fleck, einer wunden Stelle, fand sie nur eine Wundheit tief in ihrem Kopf.