Als ich aufwachte, hatte ich nichts. Eine stille Wohnung. Keine Schmerzen, kein Bedürfnis. Nichts, wogegen oder wofür ich kämpfen musste. Ich schlief ein, und als ich wieder aufwachte, konnte ich nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, wie viel von mir ich der Abwesenheit überlassen hatte.
Ich hatte ein ganzes Bett und Zuhause für mich, Tage und Wochen und ein Leben für mich, und sollte ich sterben, würde man mich nur aufgrund des Geruchs finden. So etwas passierte hier, dass einer allein starb, seine Tür eingeschlagen und die Wohnung nicht gästetauglich vorgefunden wurde. New Yorker nutzten diese Angst als Methode, um Bindungen miteinander einzugehen, aber wenn man mit dieser Sorge allein war, wenn es niemanden gab, dem man sie anvertrauen konnte, und niemanden, der einem sagte, Nein, das passiert nicht, dir doch nicht – tja, dann. In einem leeren Zimmer kann dieser Gedanke merkwürdige Formen annehmen. Also erlaubte ich mir nicht, mir weitere Sorgen darum zu machen, aber manchmal habe ich das Gefühl, es macht sich Sorgen um mich.
Eine Stimme in einer anderen Wohnung verschwand in den Wänden zwischen uns, undeutlich wie ein Song im Radio bei schlechtem Empfang. Von meinem Bett aus lauschte ich angestrengt, und schließlich stand ich auf und ging ins Wohnzimmer, um der Stimme näher zu sein. Ich hockte mich an die Wand, verstand aber noch immer nichts. Hätte es diesem Fremden etwas bedeutet, zu wissen, dass ich es versuchte?
In meinem Wohnzimmer stand ein Sofa. Ich erinnerte mich daran, hier gewesen zu sein, als die zwei Männer es lieferten, auspackten, aufbauten und alle Papp- und Plastikteile wieder mitnahmen, doch die Anwesenheit des Sofas verwirrte mich nach wie vor. Ich hatte mir bisher nicht erlaubt, darauf zu sitzen, weil es mir so vorkam, als gehörte es mir nicht. Ich fühlte mich wie eine Fremde, die als Fremde im Körper einer Fremden in der Wohnung einer weiteren Fremden lebte. Vielleicht hatte eine der Fremden, die ich einmal gewesen war, es gekauft. Es war hellblau, das einzige Möbelstück, das einzige irgendwas im Wohnzimmer. Manchmal, wenn ich von den GX-Schichten nach Hause kam, überraschte es mich, ein stummer Eindringling.
Ich ging in die Küche und trank Wasser direkt aus dem Hahn. Auf dem Weg dorthin, im Flur, lag das zerknitterte Kleid des Vorabends und ließ mich an eine Schlangenhaut denken, die mich mal in einem Wald fasziniert hatte.
Ich fragte mich, wie die Gala wohl jenseits des Sacks über meinem Kopf ausgesehen hatte.
Aus irgendeinem Grund kam mir Clara in den Sinn. Mir war klar, dass ich sie anrufen oder Nachbarn von ihr kontaktieren sollte, die nach ihr sehen könnten, nahm es mir seit Monaten vor und hatte es doch nie getan. Ich starrte in eine staubige Ecke. Irgendwann merkte ich, wie das Licht nachmittäglich wurde, und ich hatte bisher noch keinen Beweis dafür geliefert, dass ich heute am Leben gewesen war. Etwas Potenzielles in mir wurde plötzlich kinetisch, und mich überkam das Gefühl, alles aufholen zu müssen, was ich bisher nicht getan hatte. Ich holte ein paar alte Zeitungen und Essig und putzte die Fenster, bis ich mich fragte, warum ich das nackt tat, also lief ich ins Schlafzimmer, um mir ein Hemd anzuziehen, zog dann aber nur das Laken vom Bett und wickelte mich darin ein, und als Nächstes fiel mir auf, dass ich mir die Zähne noch nicht geputzt hatte, also steuerte ich das Bad an, um das zu tun, wurde aber unterwegs vom Sofa abgelenkt, auf dem ich aus irgendeinem Grund nun immer noch nicht gesessen hatte, also setzte mich darauf, sah das Wählscheibentelefon, das ich seit Monaten nicht benutzt hatte, griff, ohne nachzudenken, nach dem Hörer und wählte Tante Claras Nummer, und während es klingelte, wurde ich mir meiner Beine und Arme in dem verwickelten Laken bewusst, spürte, wie sie gegen das Sofa drückten und das Sofa zurückdrückte, mit einer seltsamen, ihm innewohnenden Kraft.
Claras Telefon klingelte und klingelte, niemand nahm ab, aber ich war entschlossen, sie zu erreichen, wenn nicht per Telefon, dann per Flugzeug, per Auto, per pedes, per Blickkontakt, persönlich. So machte man das. Man schaute den Menschen in die Augen, die einen hierhergebracht, auf diesen Planeten gebracht, großgezogen hatten. War diesen Menschen nicht vielleicht klar, warum man hier war? Hatten sie nicht vielleicht eine Meinung dazu? Irgendwelche Ideen? Ich war es leid, dass mein Leben mir immer aus der Hand genommen wurde. Ich musste es selbst in die Hand nehmen.
Ich fand das GX-Handy unter dem Kleid, es war tot, wie man so sagt, also lud ich es auf, wartete auf seine Wiederauferstehung, seine Nachrichten – keine –, aber schon bald merkte ich, wie einfach es war, Namen und Nummern und Adressen von Leuten zu finden. Binnen Minuten hatte ich die Telefonnummern der Häuser links und rechts von Claras Haus. Bei meinem ersten Anruf ging ein kleiner Junge ans Telefon, und ich fragte ihn, ob seine Mutter da sei (nein) oder sein Vater (nein) oder sonst jemand (niemand). Ich fragte ihn, wie alt er sei, und er sagte, Vier. Ich bin groß. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, also sagte ich Tschüss und er auch. Danach weinte ich eine Weile und wischte mir die Augen mit dem Laken trocken.
Unter der zweiten Nummer, die ich wählte, meldete sich eine mittelalte weibliche Stimme, und ich sagte ihr, wer ich sei, Mrs. Parsons’ Nichte, und schon an der Art, wie sie sagte, Ach so, Mrs. Parsons, hörte ich, erleichtert, dass Clara nicht tot war.
Könnten Sie mal nach ihr schauen? Ich mache mir bloß Sorgen, weil sie nie ans Telefon geht.
Na ja, also, das könnte ich wohl, aber vor morgen wird das wahrscheinlich nichts.
Das ist in Ordnung, sagte ich, auch wenn ich nicht verstand, was so anstrengend daran war, zur Nachbartür zu gehen, aber ich wollte keinen Aufstand machen.
Sie können sicher auch einfach beim Empfang anrufen, dann erreichen Sie sie etwas schneller.
Beim Empfang?
Ja, vom Green Meadow?
Wie bitte?
Ach so, ich dachte, das wüssten Sie. Dass sie vor ein paar Monaten in ein Pflegeheim auf der anderen Seite der Stadt gebracht werden musste?
Ich habe nicht – ich war nicht –
Na schön, ich kann Ihnen ja erzählen, was passiert ist, also, sie hatte ihre Mülltonne schon länger nicht mehr rausgestellt, der Müll türmte sich in der Garage, und wir kriegten sozusagen Wind davon, also bin ich zu ihr rüber, und es war eindeutig, dass sie ihren Haushalt nicht mehr so im Griff hatte wie sonst. In der Küche hatte sich sogar ein Waschbärbaby eingenistet, und sie schien es nicht mal zu bemerken. Ich fragte sie, ob ich jemanden für sie anrufen könne, und sie sagte, ich solle Tom anrufen, und das hat mir fast das Herz gebrochen, Mary. Wirklich. Wenn ich von Ihnen gewusst hätte, dann hätte ich Sie angerufen, aber sie erinnerte sich an keine weiteren Verwandten. Ich dachte, sie hätte eine Schwester, die noch lebte, also habe ich ein wenig in ihren Unterlagen herumgesucht, aber ich konnte keine Telefonnummern oder dergleichen finden. Ich wusste also nicht, wen ich anrufen sollte, meine ich. Es tut mir leid, meine Liebe, das ist jetzt sicher viel für Sie.
Ich fühlte mich wie der kleine Junge, dieser Vierjährige. Ich sagte danke oder so, und sie redete weiter, jetzt von einem Sozialarbeiter und von Claras Rente. Ich legte auf, und dieses Mal weinte ich nicht. Ich spürte etwas in mir ganz still sitzen, etwas, was sich kein bisschen mehr bewegte.
Der Handybildschirm leuchtete auf – eine E-Mail von Chandra war eingegangen, die erste überhaupt in dieser Woche. Kein Text, nur ein Anhang: ein unscharfes Foto von Kurt und mir in dem Seidenkleid mit der Haube. Es kam mir so fremd vor wie ein Foto von einer längst verstorbenen, mir völlig unbekannten Frau. Ich hätte erstaunt sein können, dass sie mich erkannt hatte oder dass sie mir ein gutes Dutzend weitere Bilder von meinem anonymisierten neben Kurts extrem öffentlichem Körper schickte. Aber es erschütterte mich nicht. Ich hatte nichts mehr in mir.