Kapitel 5
Jonathan
Ich schluckte und versuchte Michael meine Hand zu entziehen. Doch es gelang mir nicht. Sein Griff war fest, tat mir jedoch nicht weh. Er war eben nicht Linus. Und wenn ich ehrlich war, genoss ich die Berührung. Mehr, als ich wahrscheinlich sollte.
»Jonathan! Was ist passiert?« Seine Stimme war mehr ein Knurren und seine Augen blieben starr auf die blauen Flecken gerichtet, die sich in den letzten Stunden gebildet hatten. Ein Seufzen kam mir über die Lippen. Wie sollte ich es ihm erklären, ohne dass er sich Sorgen machte?
»Es sieht schlimmer aus, als es ist.« Ich legte meine freie Hand über Michaels und strich mit den Fingern darüber. Ein Kribbeln erfasste mich. Ich sollte das nicht tun. Sollte mich nicht so wohl in seiner Gegenwart fühlen und die Zeit mit ihm genießen. Ich hätte gar nicht erst herkommen dürfen. »Linus und ich haben uns draußen noch weiter gestritten. Er schrie mich an und ich wollte nicht mit ihm nach Hause fahren. Dann packte er mich am Handgelenk und … als ich ihm sagte, dass er mir wehtut, ließ er sofort los. Mehr ist wirklich nicht passiert.«
Zärtlich strich Michael über die blauen Flecken, bevor er meine Hand freigab und in mir das Bedürfnis weckte, nach seiner zu greifen. Ich wollte, dass er mich weiter berührte und so zärtlich ansah. Wollte ihm nahe sein und durfte es doch nicht. Dass ich ihm eben nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte, würde ich für mich behalten. Michael würde sich nur aufregen und ich wollte den Mittag mit ihm, wenn möglich, noch einigermaßen genießen. Wie sollte ich Michael auch erklären, dass ich Angst vor Linus hatte? Dass ich über jeden Grund, nicht auf der Farm sein zu müssen, froh war? Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nicht weiter über Linus nachdenken. Das war ein Problem, mit dem ich mich wieder auseinandersetzen konnte, wenn ich zu Hause war.
Michael griff nach seinem Besteck und ich tat es ihm gleich. Ich schnitt mir ein kleines Stück ab und verbrannte mir natürlich prompt die Zunge. Der Fluch blieb mir Gott sei Dank im Hals stecken. Ich versuchte jedoch mit meiner kalten Cola zu retten, was noch zu retten war. Michael schüttelte lachend den Kopf über mich und widmete sich dann wieder seinem eigenen Essen. Eine Zeitlang schwiegen wir uns an. Jeder widmete sich seinem Teller und ich konzentrierte mich auf den Geschmack meiner Calzone. Zumindest versuchte ich es. Denn Michaels Anwesenheit machte es mir schwer, mich überhaupt auf etwas zu konzentrieren. Sein Lachen klang noch immer in meinen Ohren. Es war ein schöner Ton, nur kam er ihm viel zu selten über die Lippen. Außerdem berührte sein Bein die ganze Zeit über meines. Die Stelle schien förmlich zu glühen und danach zu schreien, mehr von dieser zufälligen Berührung zu bekommen. Wieso reagierte ich noch immer so intensiv auf meinen Exfreund? Sollte es nach all der Zeit nicht nachgelassen haben?
Michael legte sein Besteck hin, verschränkte seine Finger miteinander und sah mich eingehend an. Es dauerte eine Weile, bis er zu sprechen begann und mir seine Stimme eine Gänsehaut bescherte. »Mal im Ernst, Jonni. Wieso lässt du dir dieses Verhalten gefallen?«
Ich kaute bedächtig auf meinem Essen herum, bevor ich den Mumm hatte, ihm in die Augen zu sehen und zu antworten.
»Was genau meinst du?«
Natürlich wusste ich, worauf er anspielt. Aber ich stellte mich dumm. Wollte mir vor ihm nicht eingestehen, dass meine Beziehung alles andere als gut lief. Ich wollte auch eigentlich nicht über Linus sprechen und irgendwie aber doch. Aber wie sollte ich den Mittag noch genießen können, wenn ich es tat? Wieso war mir das nicht vergönnt?
»Jonathan.« Sanft sprach er meinen Namen aus und verursachte ein wohliges Kribbeln in meinem Innern. Die Schmetterlinge meldeten sich nur bei diesem einen Wort zurück. Verräterische kleine Biester. Ich suchte in seinen Augen nach etwas, das mich erahnen ließ, ob er mich dafür verurteilte, dass ich mit Linus zusammen war. Doch außer Wärme konnte ich nichts erkennen. Er klagte mich nicht still an, wie andere es wohl tun würden. »Verkauf mich bitte nicht für blöd. Du lässt dich von ihm vor einem vermeintlich Fremden runtermachen. Das ist doch nicht normal. Sollte es zumindest nicht sein. Außerdem ist das nicht gesund in einer funktionierenden Beziehung.«
Ich seufzte und schob meinen Teller von mir. Gerade ging selbst der Geruch gegen mich. An Essen war erst mal nicht mehr zu denken. »Es ist zur Zeit nur etwas schwierig, mehr nicht. Er war am Anfang nicht so. Nur die letzten Monate waren ziemlich nervenaufreibend und das macht sich eben bemerkbar, indem wir uns öfter streiten. Das legt sich wieder, wenn endlich alles zur Ruhe kommt.« Gut, Jonathan. Sag deinen üblichen Spruch auf, mit dem du vor dir selbst alles rechtfertigst. Hauptsache, du glaubst selbst noch an den Blödsinn.
Michael zog skeptisch eine Augenbraue nach oben. »Bist du dir da sicher? Es schien mir im Büro heute Morgen nicht so, als würde ihm sonderlich viel an dir und deinem Befinden liegen.«
»Den Eindruck hatte ich bei dir damals auch nicht.« Ich biss mir auf die Zunge. Ich hatte mir diese Spitze einfach nicht verkneifen können. Allein schon, weil Michael glaubte, über meine Beziehung Bescheid zu wissen. Sicher, Linus war nicht perfekt, aber das war niemand von uns. Doch ich bereute die Worte, die ich eben gesagt hatte. Michael war nicht Linus. Und meine Aussage schien meinen Exfreund zu treffen, denn er senkte betroffen den Blick.
»Das war etwas anderes. Ich habe dich niemals fertiggemacht oder dir körperlich weh getan«, antwortete er leise und ich schluckte. Ich hatte ihm nicht wehtun wollen.
»Es tut mir leid.« Ich legte eine Hand auf seinen Unterarm und fing automatisch an, mit dem Daumen darüber zu streichen. Zu gerne würde ich die Haut unter dem Anzug berühren. »Du hast ja recht. Ich will nur nicht schon wieder eine Beziehung an die Wand fahren. Wie schon gesagt, es war nicht immer so. Ich habe ihn kennengelernt, kurz nachdem du … naja …«
»Nachdem ich dich habe sitzen lassen«, beendete er den Satz für mich, drehte sein Glas in der Hand und musterte mich eingehend.
Konnte es sein, dass ihn die Trennung genauso beschäftigte wie mich? Nein, sicher nicht. Sonst hätte er sich doch schon damals wieder bei mir gemeldet. Oder nicht? Außerdem hatte Michael damals beschlossen, gehen zu müssen, nicht umgekehrt. Mit jeder Minute, die verstrich und die wir zusammensaßen, drehte sich das Gedankenkarussell immer schneller.
»Erzähl mir, wie ihr euch kennengelernt habt.«
»Willst du dir das wirklich antun? Ich glaube nicht, dass das ein Thema zwischen uns sein sollte.«
Michael deutete mit einer Schulter ein leichtes Anheben an und grinste dann schelmisch. »Vielleicht nicht. Aber es interessiert mich wirklich. Ich meine, er wird ja wohl nicht einfach vom Himmel gefallen sein und ist dann geblieben.«
Ich lachte laut auf und schüttelte den Kopf. Manchmal brachte Michael Sprüche so trocken herüber, dass ich einfach nur darüber lachen konnte. Auch wenn ich lieber über etwas anderes reden wollte, gab ich nach. Wenn er unbedingt alles erfahren wollte, dann sollte es eben so sein. Vielleicht würde sich dann mein schlechtes Gewissen melden, weil ich die Zeit mit Michael genoss, anstatt nach Hause zu fahren und den Streit mit Linus zu klären. Und vielleicht erinnerte ich mich selbst auch wieder daran, wieso ich mich in Linus verliebt hatte.
»Ein paar Wochen nachdem du mich verlassen hattest, kam er zu mir. Nicht aus heiterem Himmel«, nahm ich Michael die nächsten Worte aus dem Mund und schmunzelte. Manchmal konnte er richtig albern sein. Er gestattete es sich nur viel zu selten. Dabei sah er so sexy aus, wenn er lachte. »Er war einer der Lieferanten aus der Umgebung, von denen ich meine Arbeitsmaterialien bezog. Linus bot an, mir zu helfen, da ich Tag und Nacht nur mit dem Aufbauen der Farm beschäftigt war. Ich lehnte ab. Immer wieder gab ich ihm eine Abfuhr, aber er blieb hartnäckig. Also stimmte ich irgendwann zu. Er nahm mir viele kleine Arbeiten ab, damit ich mich auf den Rest konzentrieren konnte. Es war wohl vorraussehbar, dass es bei so einer engen Zusammenarbeit nicht ausbleibt, dass man sich näher kommt. Du kannst dir sicher denken, wie es weiterging.«
Verlegen spielte ich mit meinem Glas und drehte es um die eigene Achse. Beobachtete die dunkle Flüssigkeit darin. Es war merkwürdig, mit Michael über meine Beziehung zu sprechen. Wieso interessierte es ihn überhaupt, wie wir uns kennengelernt hatten?
»Wann genau ist Linus zu dem Arschloch geworden, das ich heute kennenlernen durfte?« Eine direkte Frage, ohne zu beschönigen, was am Morgen passiert war. Ich sah ihm unsicher in die Augen, wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.
Ich schnaufte und dachte, dass es wohl das Beste wäre, ehrlich zu sein. Nicht nur gegenüber Michael, sondern auch mir selbst. »Ganz ehrlich? Ich kann es dir gar nicht genau sagen. Es hat sich langsam entwickelt. Schleichend. Mir ist schon länger aufgefallen, dass er abends oftmals gereizt war, habe es aber auf die Farm und die viele Arbeit geschoben. Als das mit Mr. Newman anfing und der Ärger losging, wurde es schlimmer. Mittlerweile haben wir uns ständig in den Haaren. Raufen uns aber auch wieder zusammen. So ist das eben, wenn man eine schwere Zeit durchmacht. Auch wenn es eine große Belastungsprobe für uns ist.« Ich lehnte mich nach vorne und sah Michael in diese faszinierenden blauen Augen. Sie waren so intensiv, spiegelten oft seine Launen und Gefühle wider. Auch jetzt wirkten sie eine Spur dunkler als sonst, als würde er angestrengt über etwas nachdenken. »Wieso bestehst du so darauf, dass mein Verlobter ein Arschloch ist?«
Michael tat es mir gleich und lehnte sich ebenfalls nach vorne. Unsere Gesichter waren sich so nah, dass sich unsere Nasen beinahe berührten. Ich müsste mich nur noch ein paar Zentimeter weiter nach vorne beugen und ich könnte ihn küssen. Meine Lippen fest auf seine drücken und mich in dem Kuss verlieren. Ich schloss kurz die Augen und atmete tief ein. Ein leichter Vanillegeruch stieg mir in die Nase. Erstaunt sah ich Michael an. Benutzte er wirklich noch immer das Parfüm, das ich ihm vor Jahren mal zu Weihnachten geschenkt hatte? Ich liebte den Duft an ihm. Wie oft hatte ich nachts neben ihm gelegen und seinen Duft inhaliert? Selbst nach der Trennung hatte ich mein Gesicht oft in sein Kissen vergraben und mich der Illusion hingegeben, er wäre noch bei mir.
Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als könne er meine Gedanken lesen. »Weil er nicht gut zu dir ist, Joni. Das konnte ich selbst in den paar Minuten sehen, die ihr in meinem Büro wart. Ihr seid nicht wie ein liebendes Paar miteinander umgegangen. Noch nicht einmal eure Blicke oder Gesten lassen darauf schließen, dass ihr den jeweils anderen liebt oder schätzt. Außerdem sagt mir das meine Menschenkenntnis.«
»Ich glaube, jetzt übertreibst du ein wenig.« Ich setzte mich wieder aufrecht und brachte so ein wenig Sicherheitsabstand zwischen uns. Mein Puls raste, mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Wieso konnte ich an nichts anderes denken als daran, Michael zu küssen? Sollte ich nicht lieber meine Beziehung verteidigen? »Linus und ich haben eine schwierige Phase, mehr nicht.«
»Du bist ein hoffnungsloser Fall, Jonni. Aber das habe ich schon immer an dir gemocht. Dein Glaube an das ewig Gute im Menschen. Ich hoffe nur, dass er das wert ist und du dich nicht ins Unglück stürzt.«
Ich wusste, wenn ich jetzt nicht gehen würde, würde ich etwas wirklich Dummes tun. Ich würde nicht nur mir schaden, sondern Michael unbeabsichtigt outen und das wollte ich nicht. Zumindest nicht so und unter diesen Umständen. Deshalb war es besser, wenn ich erst einmal Abstand suchte. Auch wenn der Drang, mich an ihn zu schmiegen, unglaublich groß war. Seine ehrliche Besorgnis um mich weckte in mir den Wunsch, ihn einfach alles für mich regeln zu lassen. Doch das konnte ich nicht tun.
»Ich …« Ich schluckte. Mein Mund war staubtrocken und die Worte wollten nur schwer über meine Lippen. »Ich sollte wieder nach Hause fahren.«
Michael sah ein wenig enttäuscht aus, blickte dann jedoch auf seine Armbanduhr und nickte. »Ich muss leider wieder zurück an die Arbeit. Ich melde mich, wenn es etwas Neues gibt. Oder wenn ich Sehnsucht nach dir haben sollte.« Mit einem Zwinkern nahm er dem letzten Satz die Ernsthaftigkeit. Zumindest glaubte ich, dass es sein Ziel war. Doch ich war mir nicht sicher, wie ich alles einzuschätzen hatte. War es wirklich nur so dahergesagt mit der Sehnsucht? Oder dachte er genauso oft an mich wie ich an ihn? Wenn er nur wüsste, was er damit in mir anstellte. So gern ich mit Linus zusammen war und so sehr ich ihn liebte, so sehr sehnte sich ein kleiner Teil meines Herzens nach der Unbeschwertheit in den Stunden mit Michael. Weg von der Kontrolle und den Streitereien. Weg von den Problemen, die mich beschäftigten.
»Wenn du magst, kannst du mich mal auf der Farm besuchen und dir ansehen, was sich alles getan hat.« Innerlich würde ich mir gerne eine Backpfeife geben. Was war denn los mit mir? Ich sollte damit aufhören, erst zu sprechen und dann zu denken. Am liebsten würde ich mir mit der Hand gegen die Stirn schlagen, aber dann würde Michael endgültig denken, ich wäre durchgedreht. Ein Besuch auf der Farm würde mich nur zusätzlich quälen. Und wenn Linus in der Nähe war, musste ich aufpassen, wie ich mich Michael gegenüber verhielt. Ich betete innerlich, dass mein Exfreund nicht auf das Angebot eingehen würde.
Ein sanftes Lächeln lag auf seinen Lippen. Ihm schien der Gedanke zu gefallen. »Vielleicht nehme ich die Einladung schon bald in Anspruch.«
Jonathan
Drei Tage war es jetzt her, dass ich mich mit Michael getroffen hatte. Drei Tage, in denen er mir im Kopf herumgespukt war. Doch er wollte einfach nicht aus meinen Gedanken verschwinden. Ich hob den Kopf und sah meinem schlafenden Verlobten ins Gesicht. Seit Stunden lag ich wach und dachte darüber nach, wann ich mich in Linus verliebt hatte. Wann war der Zeitpunkt gekommen, in dem ich gesagt hatte, dass das der Mann ist, mit dem ich zusammensein möchte? Und wann waren eben diese Gefühle so extrem abgeflaut? Ich kam auf keine Antwort und das wurmte mich. Wieso konnte ich mich noch nicht einmal an diesen Moment erinnern? Normalerweise wussten Paare das doch, oder nicht?
Als ich vor drei Tagen nach Hause gekommen war, war Linus nicht daheim gewesen. Auf mein Nachfragen, wo er sich herumgetrieben hatte, hatten wir uns nur wieder gestritten. Eine Antwort war er mir schuldig geblieben. So sehr ich mich bemühte, meine Beziehung zu retten, es schien mir nicht zu gelingen. Meine Nerven lagen blank, was sich daran gezeigt hatte, dass ich gestern weinend in den Armen meines Verlobten zusammengesunken war. Mir setzte die allgemeine Situation schon zu. Die Streitereien und mein Gefühlschaos gaben mir den Rest. Gestern hatte sich alles entladen und ich hatte mich in meiner Verzweiflung an Linus geklammert.
Irgendwas schien mein Zusammenbruch bei ihm bewirkt zu haben. Ich hatte mit Vorwürfen gerechnet, sobald ich mich wieder beruhigt hatte. Mit weiteren Beleidigungen, weil ich mich dazu hinreißen lassen habe, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Doch nichts dergleichen war geschehen. Als ich mich beruhigt hatte, hatte Linus mich mit nach oben ins Schlafzimmer genommen. Zwar hatten wir nicht miteinander geschlafen, doch er war unglaublich zärtlich zu mir gewesen. Lange war das nicht mehr so gewesen. Er hatte mich geküsst und gestreichelt, als wäre es das erste Mal gewesen, dass er mich erkunden würde. Es war unglaublich schön gewesen, ihn mal wieder von seiner zärtlichen und sanften Seite zu erleben. Aber ich hatte mich trotz Allem nicht richtig fallen lassen können. Dafür ging mir Michael zu sehr im Kopf herum. Zudem war es mir irgendwie falsch erschienen, mit Linus intim zu sein, und ich war froh darüber gewesen, dass wir keinen Sex gehabt hatten. Das war falsch, das war mir mehr als bewusst. Denn es sollte andersherum sein. Doch eine kleine Stimme in meinem Kopf sagte mir, dass es nicht richtig war, was ich mit Linus tat. Es war zum Verzweifeln. Kein Wunder, dass meine Nerven blank lagen.
Da ich noch etwas Zeit hatte, bis ich aufstehen musste, aber an Schlaf nicht zu denken brauchte, hauchte ich Linus einen Kuss auf die Wange und ging ins Bad, um zu duschen. Die letzten Tage schlief ich sowieso schlecht, wieso, war mir auch durchaus bewusst. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Immer wieder um dasselbe Thema. Michael und Linus. Ich hatte absolut keine Ahnung, wo mich dieses Chaos hinführen würde. Und vor allem, wie es enden würde. Ein wenig Angst hatte ich schon vor dieser Ungewissheit, doch es war auch irgendwie … aufregend. War es das richtige Wort, um meine Situation zu beschreiben? Ich wusste es nicht. Verzwickt würde es vielleicht besser treffen. Wer hätte auch ahnen können, dass Michael und ich uns noch mal begegneten und dass es dann auch noch mit Sex im Büro enden würde?
Bereit, einen neuen Tag zu starten, ging ich so leise wie möglich nach unten, um mir einen großen Kaffee zu machen. Ich würde den Tag ganz langsam starten und mir bei der morgendlichen Routine Zeit lassen. Im Wohnzimmer fand ich meine Hunde aneinander gekuschelt und noch schlafend vor. So ein Hundeleben war schon was Feines. Den ganzen Tag nichts tun, außer sein Revier zu markieren und zu verteidigen, zu schlafen, fressen und sich Streicheleinheiten einzufordern. Mit einem Kaffee in der Hand trat ich auf die Veranda. Kühle Morgenluft schlug mir entgegen und weckte auch die letzten Lebensgeister in mir. Kaum zu glauben, dass es schon Sommer war. Doch die blühenden Kornblumen überzeugten mich jedes Mal davon, dass die heiße Jahreszeit da war und man sich bald schon wieder auf den Winter einrichten konnte.
Ich ließ den Blick über das Grundstück schweifen und fühlte Stolz. Ja, ich war stolz darauf, was ich mir hier aufgebaut hatte. Die Farm gehörte mir und ich lebte mein Leben, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Ich war mein eigener Chef, konnte mir die Arbeit einteilen, wie ich wollte, und hatte jeden Morgen einen unglaublich wundervollen Ausblick. Und wenn ich mal nicht mit jemandem zusammenarbeiten wollte, konnte ich mich dagegen entscheiden. Es war ein schönes Gefühl. So ähnlich wie Freiheit.
Ich ließ mich auf den Stufen der Veranda nieder und streckte die Beine aus. Die Mütze zog ich mir etwas tiefer ins Gesicht und trank in kleinen Schlucken von meinem Kaffee. Die Farm aufzugeben würde nicht in die Tüte kommen. Nur weil Mr. Newman dachte, mein Eigentum zu beschädigen und mich somit in Unkosten zu stürzen. Und wenn ich meinen letzten Cent für Michael ausgeben musste, aber das war es mir wert. Mein Heim würde ich nicht kampflos aufgeben.
Leises Klackern von Krallen auf Holz ließ mich aufhorchen. In letzter Zeit waren Pete und Lucky noch öfter an meiner Seite als sonst. Ganz sicher spürten sie, dass ich unruhig und aufgewühlt war. Mit einem großen, schweren Seufzer ließ sich Lucky neben mir auf die Veranda plumpsen. Pete stupste mit seiner kalten nassen Nase gegen meine Wange und grub dann den Kopf an meine Brust. Streicheleinheiten wurden eingefordert. Und ich kam dem nur zu gerne nach. Ich kraulte seinen Kopf. Er gähnte und drückte seinen Dickschädel nur noch fester gegen mich.
Als die Sonne höher am Horizont stand, trank ich meinen mittlerweile eiskalten Kaffee aus, verzog angewidert das Gesicht und erhob mich dann. Die Hunde protestierten lautstark, folgten mir dann jedoch zum Gewächshaus. Tiefes, grollendes Knurren ließ mich erschrocken herumfahren. Was war passiert? Hatten meine Hunde etwas entdeckt? Ich ging auf sie zu, als sie anfingen, wie wild zu bellen, um nachzusehen, was geschehen war. Leider konnte ich nur noch eine Silhouette erkennen, die sich schnell von uns entfernte. Konnte das Mr. Newman gewesen sein? Hatte er wieder einen neuen Übergriff geplant? Mein Herz klopfte wie verrückt, drohte mir aus der Brust zu springen. Hätte Mr. Newman mich angegriffen, wenn ich allein unterwegs gewesen wäre? Mir blieb die Luft weg, während meine Hunde versuchten, auf sich aufmerksam zu machen.
Ich riss mich zusammen. Wer auch immer das eben gewesen war, war vorerst verschwunden. So schnell würde er sicher nicht wiederkommen. Ich ging in die Hocke und drückte beiden Hunden einen Kuss auf den Kopf. »Ihr seid tolle Aufpasshunde.«
Bis zum Frühstück würde ich mir die Zeit damit vertreiben, meinen morgendlichen Rundgang, um das Grundstück zu machen. Seit den Vorfällen durch Mr. Newman, litt ich schon unter Paranoia. Danach würde ich mich in aller Ruhe im Gewächshaus zu schaffen machen. Die monotone Arbeit würde mir sicher helfen, meinen Puls und Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen und tief durchzuatmen.
Was Michael wohl gerade tat? Würde er meiner Einladung, mich auf der Farm zu besuchen, wirklich folgen? Oder war es nur ein leeres Versprechen gewesen? Ich hoffte, dass dem nicht so war, und er kommen würde. Ich wollte Michael zeigen, was ich alles geschafft hatte in den letzten Jahren. Wollte ihm meinen ganzen Stolz zeigen. Mein Zuhause, das unser Zuhause hätte werden können und sollen. Ein Klappern riss mich aus meinen Gedanken und ich sah von meiner Arbeit auf. Ein Schmunzeln stahl sich auf meine Lippen. Lucky kratzte leicht an der Glasscheibe und forderte Aufmerksamkeit. Ich klopfte mir die Hände ab und öffnete die Tür.
»Hast du etwa Hunger?«
Das Brummeln und aufgeregte Um-mich-herum-Laufen waren mir Bestätigung genug. Dann würde ich eben später weiterarbeiten. Das war für mich ebenso die perfekte Möglichkeit, um nachzusehen, ob Linus ebenfalls wach war. Vielleicht konnten wir dann schon gemeinsam frühstücken. Jetzt, wo es etwas friedlicher war zwischen uns, würde der Morgen hoffentlich genauso weitergehen.
Ich war gerade dabei, den Tisch einzudecken, während die Hunde sich über ihr Fressen hermachten, als ich Schritte hörte. Linus war also wach. Wäre er jetzt nicht heruntergekommen, hätte ich ihm einen Kaffee ans Bett gebracht und ihn geweckt. Ganz so wie am Anfang unserer Beziehung, bevor die Routine uns eingeholt hatte. Solch kleine Dinge sollte ich vielleicht wieder einführen, wenn ich meine Beziehung noch retten wollte.
»Guten Morgen.« Ich stellte einen vollen Kaffeebecher für Linus auf den Tisch und schenkte mir auch noch mal ein.
»Morgen.« Ein kurzer Kuss auf die Wange, ein leichtes Streicheln über meinen Rücken. Es war genauso wie vor dem Theater mit Mr. Newman. Doch irgendetwas war trotzdem anders. »Geht es dir wieder besser?«
Linus setzte sich und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
»Ja. Entschuldige, dass ich gestern so … so …«
»Dass du so emotional warst«, beendete er den Satz für mich und nahm einen großen Schluck von seinem Kaffee. Ich nickte und biss auf der Innenseite meiner Wangen herum. »Es ist eben passiert. Du weißt, dass ich persönlich nichts mit dem emotionalen Kram anfangen kann.«
Ich ließ die Schultern hängen und starrte in meine Tasse. Wie konnte es sein, dass er mich gestern noch getröstet und so zärtlich behandelt hatte? Und heute Morgen auf einmal wieder so distanziert war? Was ging nur in ihm vor? Warum sprach er nicht einfach mit mir darüber? Fiel es ihm so schwer, mir zu vertrauen?
»Stehen heute irgendwelche Termine an?«, versuchte ich, das Thema zu wechseln, und biss lustlos in mein Brot. Es schmeckte wie Pappe. Der Appetit war mir vergangen, aber wenn ich den Tag über noch arbeiten wollte, musste ich etwas im Magen haben, bevor ich umkippte.
»Nicht dass ich wüsste. Aber ich habe mir gestern erlaubt, einen Brief an deinen Anwalt aufzusetzen, in dem ich ihn auffordere, den Fall fallen zu lassen. Du musst nur noch unterschreiben.«
Gerade noch hatte ich in mein Brot beißen wollen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. War das gerade sein Ernst?
»Du hast was
Wut flammte in mir auf. Wieso tat er das? Und dann auch noch hinter meinem Rücken?
»Du hast schon richtig gehört. Sobald du unterschrieben hast, muss ich ihn nur noch zur Post bringen. Dann haben wir unsere Ruhe und können uns selbst um unser Problem kümmern. So, wie ich es von Anfang an vorgehabt hatte.«
Wütend schlug ich mit der flachen Hand auf den Tisch. Das Geschirr klapperte, Kaffee schwappte über und Linus sah mich an, als wäre ich übergeschnappt.
»Nichts wirst du tun! Die letzten Monate hattest du so viel Zeit, das zu regeln und zu unseren Gunsten zu klären. Und was ist passiert? Nichts! Ich werde Mr. Bancroft den Fall nicht entziehen! Du hättest mit mir darüber sprechen müssen, Linus! Es geht nicht, dass du so etwas über meinen Kopf hinweg entscheidest.« Aufgebracht erhob ich mich von meinem Stuhl und lief in der Küche auf und ab.
»Verdammt, Jon, setz dich wieder!« Die unterdrückte Wut in seiner Stimme ließ mich innehalten. Ich sah ihn an und bemerkte den mahlenden Kiefer und die zusammengezogenen Augenbrauen. »Ich werden den Brief mor–«
»Du wirst den Brief nirgends hinbringen! Du wirst ihn durch den Schredder jagen und nicht mehr daran denken. Mensch Linus, wie oft sollen wir noch darüber streiten?«
Linus stand auf und baute sich vor mir auf. Ich schluckte. Sein Blick jagte mir eiskalte Schauer über den Rücken. »Wir könnten es so viel einfacher haben, wenn du endlich zugeben würdest, dass ich recht habe.«
Ich seufzte. Dieses Mal würde ich nicht nachgeben. Zu wichtig war mir, dass ich die Farm noch retten konnte. Solange noch etwas da war, was es zu retten wert war. »Nein. So leid es mir tut, aber wir werden uns bei dem Thema wohl nie einig. Ich werde bei Mr. Bancroft bleiben.«
»Gut.« Mehr sagte er nicht, was mich mehr verwirrte, als ein Wutausbruch es getan hätte. Ich traute mich jedoch auch nicht, nachzuhaken. Wollte den Streit nicht noch schlimmer machen, als er sowieso schon war. Am Ende würde es wieder in einem großen Geschrei enden. Oder Schlimmerem . Ich schüttelte die Gedanken ab. Lieber wollte ich diese knappe Antwort hinnehmen und akzeptieren. Sicher würde Linus bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit auf das Thema zurückkommen.
»Ich bin draußen, falls du mich suchst.«
Nicht, dass ich glaubte, er würde jetzt noch mit mir sprechen. Aber ich hatte das Gefühl, als müsse ich irgendwas sagen. Und wenn es nur etwas Belangloses war. Lucky und Pete folgten mir diesmal nicht nach draußen, sondern blieben im Wohnzimmer liegen und dösten vor sich hin. Mal sehen, wie lange es diesmal dauerte, bis Linus sie aus dem Haus warf. Über den Umgang mit den Hunden musste ich noch einmal ein Wort mit Linus reden. Die Hunde gehörten einfach zu mir. Sie waren meine Babys und würden es auch immer bleiben. Wenn wir noch weiter zusammenbleiben wollten, musste auch Linus an sich arbeiten. Das Problem war nur, dass ich mir momentan nicht sicher war, was und wen ich überhaupt wollte.
Michael
Hoffentlich nahm Jonathan mir meinen spontanen Besuch nicht krumm. Aber nach drei Tagen Funkstille hatte die Neugier schlussendlich gesiegt. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, was er aus der Farm gemacht hatte. Was er sich aufgebaut hatte. Als ich den Wagen die Einfahrt entlang lenkte, konnte ich Jonathan schon von Weitem sehen, wie er Kisten in seinen Pick–up lud. Mein Blick glitt kurz über den Rest, der sich vor mir auftat und ich konnte jetzt schon sagen, dass sich viel getan hatte, seit ich von hier fortgegangen war.
Ich parkte den Wagen und genoss noch einen Moment den Anblick von Jonathans köstlicher Rückansicht. Sein Arsch sah in den verschlissenen Jeans einfach zum Anbeißen aus. Ich leckte mir die Lippen. Wenn ich mich darauf konzentrierte, konnte ich ihn noch immer riechen. Ihn schmecken und seine Haut unter meinen Fingerspitzen fühlen. Sehnsucht ergriff mich. Ich wollte ihn unbedingt noch einmal in meinem Bett haben. Drauf geschissen, wie die Umstände waren. Wenn Jonathan sich in meine Arme flüchtete, war das doch nicht meine Schuld, oder?
Was hatte er nur an sich, dass er so eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf mich ausübte? In meinen Lenden fing es an, zu ziehen. Jetzt einen Steifen zu bekommen, war vielleicht keine ganz so gute Idee. Ich sollte dringend an etwas anderes denken. Aber außer einem erregten und stöhnenden Jonathan, war da nichts in meinem Kopf.
Etwas umständlich stieg ich aus und wurde sofort bellend und knurrend von zwei Hunden begrüßt. Lucky und Pete. Verdammt, waren die beiden groß und vor allem alt geworden! Als ich das letzte Mal hier gewesen war, war Lucky gerade mal ein Jahr alt gewesen. Vorsichtig hielt ich jedem von ihnen die Hand hin, damit sie daran schnuppern konnten. Pete leckte mir über die Handfläche, während Lucky zu jammern anfing und herumtänzelte.
»Sie erinnern sich noch an dich«, stellte Jonathan hinter mir fest. Ein breites Lächeln lag auf seinen Lippen, als er auf mich zukam und Lucky den Kopf streichelte. »Du bist meiner Einladung tatsächlich gefolgt.«
»So eine Gelegenheit lasse ich mir doch nicht entgehen.« Die abgeleckte Hand wischte ich an meiner Stoffhose ab und wandte mich meinem Exfreund zu. Meine beginnende Erektion hatte sich in Luft aufgelöst. »Hier hat sich viel verändert.«
»Ja, es ist einiges passiert.« Er trat dichter an mich heran und zeigte auf eine Stelle neben mir. Ich drehte den Kopf, fühlte seine Wärme und konnte nur schwer dem Drang widerstehen, mich an ihn zu lehnen. Nur mit großer Willenskraft schaffte ich es, meinen Blick auf die ehemals renovierungsbedürftige Scheune zu richten. Doch Jonathans Nähe und sein Geruch machten es mir schwer, mich zu konzentrieren. »Die Scheune ist wirklich nur noch eine Scheune und wird schon lange nicht mehr als Wohnraum missbraucht. Der Umbau am und im Haus hat zwar lange gedauert, aber am Ende hat sich die ganze Arbeit gelohnt.«
Gemeinsam drehten wir uns herum. Ich konnte eine Gestalt am Fenster im oberen Stockwerk ausmachen. Linus beobachtete uns also. Auch Jonathan hatte ihn bemerkt, reagierte jedoch in keiner Weise darauf. Ich beschloss erst einmal, nichts dazu zu sagen.
»Ist das ein Hühnerstall?« Den kannte ich noch nicht.
»Richtig.« Er lachte und ging mit mir in Richtung Gewächshaus. »Irgendwo muss ich die ganzen Hühner ja unterbringen. Ich kann dich gerne gleich einmal mit hineinnehmen. Aber vorerst muss ich noch ein paar Kisten verräumen.«
Das Ausmaß von dem, was er sich hier aufgebaut hatte, war groß. Ich hatte ja mit vielem gerechnet, aber nicht damit, wenn ich ehrlich war. Und ich war stolz auf Jonathan, dass er es geschafft hatte, sich seinen Traum zu erfüllen. Auch wenn dieser Traum bedroht wurde. Er machte auf mich nicht den Eindruck, als würde er sich leicht in die Knie zwingen lassen, wenn es um sein Heiligtum ging. Und das war die Farm nun einmal. Sein Zuhause. Sein Rückzugsort. Sein Heiligtum.
»Ich helfe dir beim Tragen«, bot ich mich an und nahm eine der herumstehenden Kisten. »Und du belieferst tatsächlich ein Restaurant in der Stadt?«
»Es lohnt sich, einen festen Abnehmer zu haben. So weiß ich, dass zumindest von dieser Seite finanzielle Sicherheit herrscht, solange ich ihn beliefere.«
»Ich weiß, dass du gerne mit den Händen arbeitest, aber denkst du, du kannst die körperliche Arbeit noch lange machen?« Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, machte ich mir Sorgen um seine Gesundheit. Die körperliche Arbeit würde sich im Alter rächen. Außerdem wusste ich noch zu gut, wie oft Jonathan die Schultern geschmerzt hatten, wenn er abends müde ins Bett gefallen und vorher den ganzen Tag draußen gewesen war.
»Ich mache es, solange es geht. Dann kann ich immer noch weitersehen. Irgendeine Lösung wird sich finden.«
Die letzte Kiste wurde auf der Ladefläche verstaut und Jonathan grinste mich verschmitzt an. Ich kannte dieses Glitzern in seinen Augen. Ihm saß mal wieder der Schalk im Nacken.
»Lust auf eine Runde im Hühnerstall?«
Er wackelte anzüglich mit den Brauen, was mich in Gelächter ausbrechen ließ. Ich liebte diese Zweideutigkeiten. »Ein andermal. Wenn wir weniger Zuschauer haben. Ich steh nicht so auf Überraschungsbesuche beim Sex.« Statt empört über diese Aussage zu sein, schien Jonathan Spaß an unserem Spielchen zu haben.
»Aber dass die Hühner zuschauen, ist dir egal?« Er trat näher an mich heran. Ich war froh, dass ich nicht zu sehr den Kopf heben musste, um ihm ins Gesicht zu sehen.
»Ich würde es vorziehen, ohne die Hühner zu ficken.« Meine Stimme wurde einen Ton tiefer. Erregung packte mich. Ich wollte Jonathan mit jeder Faser meines Körpers. »Nachher pickt mir noch eins in den Schwanz und dann haben wir den Salat.«
Jonathans Hand strich den Kragen meines Hemds nach. Wenn er wüsste, wie sehr er mein Blut damit in Wallung brachte. Ich war mir sicher, dass er meinen rasenden Puls spüren konnte. Die Hitze, die in mir aufstieg musste mir aus allen Poren strahlen. Mein Atem beschleunigte sich und mein Mund wurde staubtrocken.
»Kann er uns sehen?« Beinahe versagte mir meine Stimme. Das Schlucken fiel mir schwer, während ich gebannt auf eine Antwort von Jonathan wartete.
»Nein. Um uns hier sehen zu können, muss er direkt zu uns kommen oder an deinem Auto stehen bleiben.«
»Gut.« Unsere Gesichter waren sich so nah, dass ich seinen Atem auf der Haut spüren, die dunklen Sprenkel in seiner Iris erkennen konnte.
Er war es, der die letzte Distanz überbrückte und seine Lippen auf meine presste. Arme schlossen sich um meine Taille und drückten mich fester an ihn, während ich meine Hände in seinen Nacken legte und ihn näher zu mir heranzog. Jonathan öffnete die Lippen und stupste mit seiner Zungenspitze gegen meine Lippen. Mehr als bereitwillig öffnete ich sie und ließ meine Zunge hervorschnellen. Jonathan schmeckte nach Kaffee, roch nach Limette und Schweiß. Ich glaubte, noch nie etwas Besseres geschmeckt oder gerochen zu haben.
»Was machst du nur mit mir«, wollte er zwischen zwei Küssen wissen, konnte sich jedoch nicht von mir lösen und senkte sofort wieder seine Lippen auf meine.
Ich war es, der den Kuss kurz unterbrach und sein Gesicht in meine Hände nahm. »Dasselbe könnte ich dich fragen …« Meine Hand krallte sich in Jonathans Haare, während sich meine Lippen langsam auf die Stelle unterhalb des Ohres legten. Hier war Jonathan schon immer sehr empfindlich gewesen, das wusste ich noch zu gut. Ich stöhnte an seiner Haut und drückte ihn fester an mich. »Gott, Jonathan, ich will dich.«
»Nicht hier …«, murmelte er.
Atemlos versuchte ich, wieder einen kühlen Kopf zu bekommen. Ich konnte Jonathan ansehen, wie es in seinem Kopf anfing zu arbeiten.
»Komm heute Abend bei mir vorbei«, schlug ich vor. Als ich sah, wie er zögerte, küsste ich ihn sanft auf die wundgeküssten Lippen. »Kein Aber. Kein Zögern. Heute Abend zählen nur wir beide.«
»Was soll ich Linus sagen? Über deinen Besuch und wo ich hinfahre?«
»Dass du einen Termin mit deinem Anwalt und einem seiner Partner hast. Oder ein Treffen mit einem alten Bekannten. Und warum ich hier war?« Ich lächelte schief. »Ich war bei Mr. Newman und habe ihm das Einschreiben persönlich vorbeigebracht. Er wirkte ziemlich verängstigt, der Gute. Vielleicht hat der Spuk bald ein Ende, weil er sieht, dass es jetzt eng für ihn wird.«
Jonathan nickte, trat einen Schritt zurück und mich fröstelte es an den Stellen, an denen er mich zuvor noch berührt hatte.
»Wenn du nicht kommst, hole ich dich hier ab.«
»Ich werde da sein. Versprochen.«
Hoffentlich würde er sein Versprechen halten, denn als ich wieder im Büro war, konnte ich mich auf nichts konzentrieren. Dabei hatte ich noch genug zu tun. Doch statt mich um die angefallene Arbeit zu kümmern, griff ich nach meinem Smartphone und schrieb Jonathan, dass ich pünktlich Feierabend machen würde. Er könne also schon um kurz nach achtzehn Uhr bei mir sein. Er antwortete mir nur mit einem die Zunge herausstreckenden Smiley. Es erinnerte mich an seine zweideutige Bemerkung mit dem Hühnerstall. Vielleicht würde ich irgendwann auf den Vorschlag zurückkommen.
»Mr. Bancroft?«
»Was ist Crystal?« Etwas verwirrt sah ich von meinem Computerbildschirm auf und meiner Assistentin ins Gesicht. Ich konnte mich nicht erinnern, sie um etwas gebeten zu haben.
»Ich wollte Ihnen nur Bescheid geben, dass ich jetzt Feierabend machen werde. Und dass ich die Akte zum Fall Brewster gegen Newman gefunden habe.«
Ein Blick auf die Uhr bestätigte mir, dass es auch für mich Zeit war zu gehen. Hatte ich wirklich so viele Stunden mit Nichtstun verbracht? Erschreckend. Das war normalerweise nicht meine Art. »Wo war die Akte denn?« Ich versuchte, nicht allzu genervt zu klingen, und schaltete den Computer aus. Morgen würde ich hoffentlich alles Liegengebliebene aufholen können.
»Ich hatte sie aus Versehen zu den Fallakten von Mr. Stark gelegt.«
Ich zwang mich dazu, dreimal tief durchzuatmen und bis zehn zu zählen, bevor ich auf Crystals Bemerkung einging. Gleich wäre ich daheim und konnte die restliche Zeit bis Jonathans Ankunft in Ruhe genießen. »Ihr Glück, dass noch nicht viel aufgenommen wurde. Aber Crystal, sollte das noch einmal passieren, werde ich Ihnen eine Abmahnung schreiben müssen.«
Sie blies die Wangen auf, was für mich bedeutete, besser schnell die Flucht zu ergreifen. Eine Tirade darüber, wie schlecht es ihr ging und wie gemein doch alle zu ihr waren, wollte ich mir jetzt nicht anhören. Nicht bei dieser schrillen Tonlage.
»Schönen Feierabend, Crystal.«
Eilig schnappte ich mir meine Aktentasche und machte mich schnellstmöglich auf den Heimweg.
In meinem Appartement angekommen, lehnte ich mich erleichtert von innen gegen die Wohnungstür. Gott sei Dank war ich zu Hause. Jetzt hieß es, schnell raus aus den Klamotten und duschen, bevor Jonathan hier eintraf. Die heiße Dusche tat mir gut, auch wenn ich Mühe hatte, mir nicht ständig vorzustellen, dass es Jonathan war, der mich einseifte. Irgendwann würde ich hoffentlich in den Genuss kommen, mit Jonathan gemeinsam meine Dusche einzuweihen. Generell wollte ich mit ihm alles hier einweihen. Sicher, ich hatte oft anonymen, schnellen Sex gehabt, doch nie bei mir zu Hause. Immer war es in irgendwelchen Darkrooms oder den Wohnungen des anderen gewesen. Zweimal hatte ich mich auf eine Fickbeziehung eingelassen und beide Male war es schief gegangen. Doch seit ich wieder auf Jonathan getroffen war, hatte ich nicht mehr an irgendwelche Abenteuer gedacht. Er beherrschte meine Gedanken so sehr, dass da für niemand anderen Platz war. Selbst wenn ich es gewollt hätte.
Frisch rasiert, in Jeans und T–Shirt wartete ich auf Jonathan. Unruhig lief ich in meinem Appartement auf und ab. Ich hatte ihm die Adresse geschickt und die Nachricht hatte er sogar schon gelesen. Aber was, wenn er doch nicht kam? Oder etwas passiert war? Mittlerweile war es kurz vor sieben und von Jonathan weit und breit keine Spur. Hatte Linus ihm die Geschichte mit dem Termin oder einem alten Bekannten nicht abgekauft? Steckte er vielleicht in Schwierigkeiten? Wenn ich ehrlich war, waren mir zwar keine neuen blauen Flecken an Jonathan aufgefallen. Aber was, wenn ausgerechnet heute etwas passierte? Das würde ich mir nie verzeihen können. Und was, wenn er blaue Flecken an nicht sofort sichtbaren Stellen hatte? Verdammt, ich hätte ihn fragen sollen!
Nervös fuhr ich mir mit den Händen durch die Haare. Ich sollte aufhören, mir so viele Gedanken zu machen. Er hatte bestimmt mehr zu tun gehabt auf der Farm und deshalb die Zeit vergessen. Bestimmt würde er gleich hier auftauchen und mich entschuldigend anlächeln. Solange würde ich eben weiter einen Graben in meinen Teppich laufen und bei jedem Geräusch im Treppenhaus hoffen, dass es sich um Jonathan handelte, der sich dort aufhielt. Doch nichts geschah. Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, auf die Uhr zu schielen, mein Smartphone auf neue Nachrichten oder Anrufe zu kontrollieren und zum Fenster zu gehen und nach seinem Pick–up Ausschau zu halten. Doch nichts davon brachte mir Jonathan her. Super, dann würde ich eben mein Versprechen einhalten, mir Schuhe anziehen und ihn abholen! Wäre doch gelacht, wenn mein Versprechen genauso heiße Luft wäre wie das von Jonathan. Ich schnappte mir schnell noch meine Autoschlüssel, riss die Tür auf und prallte geradewegs mit Jonathan zusammen.
»Hey, langsam. Wo willst du denn hin?« Belustigt sah Jonathan mich an.
»Ich wollte dich holen. Nicht dass du doch noch den Schwanz eingezogen hast. Oder dir irgendwas passiert ist.«
Er schürzte die Lippen und wippte auf den Füßen vor und zurück. »Wenn ich ehrlich bin, habe ich kurz mit dem Gedanken gespielt. Tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast.«
Ich trat zur Seite und ließ Jonathan eintreten. Tatsächlich, er hätte es sich also beinahe anders überlegt. »Ich bin froh, dass du doch hergekommen bist.«
»Ich denke, ich auch. Es war nicht leicht, Linus davon zu überzeugen, dass du nur heute einen Termin frei hast und es wirklich wichtig wäre. Deshalb hat es auch länger gedauert.«
Ich holte zwei Gläser aus der Küche und sah Jonathan dabei zu, wie dieser mein Appartement einer Inspektion unterzog. »Und? Wie lautet dein professionelles Urteil?«
»Nun, erst einmal wohnst du ganz schön weit oben. Aber dein Appartement ist edel eingerichtet.«
»Das war die Innenarchitektin. Ich hatte kaum Zeit, mich selbst darum zu kümmern. Scotch?« Fragend hielt ich eine Flasche mit dem hochprozentigen Inhalt hoch. Jonathan nickte und ich schenkte uns ein. Gemeinsam stießen wir an. »Die Aussicht ist übrigens ausgezeichnet. Ich würde dir ja anbieten, mal nach unten zu sehen, aber ich glaube, das lassen wir lieber.«
»Ja, diese Höhenangst ist manchmal ganz schön lästig«, meinte er leise und nahm einen Schluck von dem Scotch.
Ich tat es ihm gleich und trat näher an ihn heran. Ich griff nach dem Kragen seines T–Shirts, zog ihn zu mir heran und küsste ihn sanft.
»Schön, dass du da bist«, flüsterte ich an seinen Lippen und erntete dafür eins dieser unwiderstehlichen schiefen Lächeln, das mich für jede Minute Wartezeit entschädigte. Sein Lächeln wirkte beinahe zurückhaltend. Schüchtern. Doch ich wusste, dass Jonathan gerade im Schlafzimmer alles andere als schüchtern war. Noch einmal küsste ich ihn, diesmal verlangender. Hier konnte ich dem Wunsch, ihn zu küssen, so oft nachgeben, wie ich wollte. Niemand würde uns sehen oder stören. Jonathan seufzte, gab sich dem Kuss und dem Versprechen auf mehr hin. Nur schwer löste ich mich von ihm, nahm ihm sein Glas ab und stelle sie beide auf den kleinen Beistelltisch im Wohnzimmer. Ich griff nach seiner Hand, verschränkte unsere Finger miteinander und ging mit ihm in Richtung Schlafzimmer. Heute hatten wir Zeit und ich gedachte sie gut zu nutzen.