Das Gesicht im Spiegel starrte dem wahren Gesicht entgegen. Endlich war sie da. Wie lange hatte es gedauert, bis sie kam! Es hatte unendlich viel Zeit und Arbeit gekostet, aber jetzt war sie da.
Die Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Und all die Schönheiten erst. Da konnte man mal sehen, dass Schönheit zwar angenehm, aber zu nichts nutze war. Na ja, nicht ganz. Diesmal war Schönheit der Schlüssel zum Erfolg gewesen. Dieses eine Mal. Aber Schönheit rettete einen vor nichts, vor rein gar nichts. Im Gegenteil. Sie konnte zerstörerisch sein, mitunter sogar tödlich. Aber sie waren willig gewesen, so naiv, so sehr bereit dazu, sich in eine Falle zu begeben, dass es ein Kinderspiel gewesen war. Sie hatten es geschafft. All diese Schönheiten hatten es geschafft, dass endlich diese eine Frau ins Spiel gebracht wurde, auf die man so lange gewartet hatte. Der Kopf im Spiegel lege sich schief Sie würde jetzt zappeln wie ein Fisch an der Angel. Sie würde lange nicht wissen, um was es ging. Sie würde sich wundern, sie würde ratlos sein, und letztlich würde sie Angst bekommen. Aber dann würde es nichts mehr nützen, dann wäre das Spiel schon fast vorbei. Die Erkenntnis würde sie erschlagen, sie würde über sie hereinbrechen, wie das Unglück damals über andere hereingebrochen war. Sie hatte es nicht anders verdient. Es war das Blut, das in ihr floss. Es war schlecht. Man kann sein Blut nicht verleugnen, aber das würde sie erst lernen müssen, diese kleine unschuldige Schönheit. Der Kopf im Spiegel schüttelte sich. Nein, nicht unschuldig. Unschuldig war sie nie gewesen und würde es auch nie sein. Dafür würde man schon sorgen. Man wollte es genießen. Man wollte das Ende mit dem Bewusstsein der verlorenen Jahre genießen, so wie es andere nicht mehr konnten.
Man würde ihr noch Zeit geben, sie verfolgen, sie belauschen, ihr die Hoffnung Stück für Stück nehmen. Dann erst würde sie erkennen, dann würde sie bestraft werden. Wie war das noch in diesem Kinderreim? Das Gesicht im Spiegel runzelte die Stirn.
»Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß.«
Es war so passend.
Das Gesicht im Spiegel wurde verdrossen. Was, wenn sie nicht bemerkte, um was es ging? Sollte alles umsonst gewesen sein? Der Kopf im Spiegel bewegte sich hin und her. Nein, so dumm war sie nicht. Sie würde es merken. War es nicht die Kunst der Psychologie? Die Lehre der Seele? War es nicht das, was Sylvia getötet hatte? War es nicht letztlich diese Frau, die Sylvia getötet hatte? Schluss mit diesen düsteren Gedanken. Das Spiegelbild entspannte sich. Es würde funktionieren. Noch ein bisschen Geduld, dann ... bald ...
***
»Liebes, wie schön, dich zu sehen.« Ein Hauch von Parfüm und warme Arme umfingen Johanna und drückten sie an sich.
»Flo, wie schön. Ich freue mich wirklich.« Es war tröstlich. Für sie war Flo so etwas wie eine Oase in der Wüste. Zumindest nach diesem miesen Tag. Sie löste sich aus Flos Armen und schob ihn ein Stück von sich weg. Er war glatt rasiert und den nur leicht sichtbaren Bartansatz hatte er mit Make-up überschminkt. Auch seine Wimpern waren leicht getuscht. Flo hatte wunderschöne blonde Locken, um die ihn jede Frau beneidet hätte, und strahlte Johanna mit seinen blauen Augen an.
Die blauen Augen waren echt, das wusste Johanna, bei den Locken war sie sich nicht so sicher. Florian hatten einen Friseursalon, und so war es nahe liegend, dass er all seine Künste an sich selber ausprobierte. Er war wie immer elegant gekleidet. Das himmelblaue Seidengebilde musste ein Vermögen gekostet haben. Johanna sah verstohlen an ihren Jeans und ihrem karierten Flanellhemd herab. Mit einer zierlichen Geste winkte Flo ab. »Lass es, Liebes. Du siehst gut aus. Aber du weißt ja«, er legte eine Hand leicht auf seine Brust, »ich habe eine Schwäche für Seide. Markus schimpft schon ein wenig.« Flo warf einen koketten Seitenblick auf seinen Lebensgefährten. »Er sagt, dass er bald korrupt werden müsse, wenn ich weiterhin so viel Geld für Klamotten ausgebe. Markus verdrehte die Augen und lachte.
»Du übertreibst, Liebling. Aber komm erst mal rein, Johanna.« Er nahm sie am Arm und führte sie ins Wohnzimmer. »Ich will dir erst einmal Flos neueste Errungenschaft zeigen. Wie wäre es mit einem Glas Wein?«
Ja, sehr gern.« Johanna ließ sich in einen Sessel fallen und atmete das erste Mal an diesem Tag entspannt durch. Sie lehnte den Kopf zurück und schloss für einen Moment die Augen.
»Sieh es dir an.« Sie öffnete die Augen und sah sich an, was Markus ihr entgegenhielt.
»Was ist das?«
»Das habe ich Flo auch gefragt. Aber war so begeistert, dass ich das Thema nicht weiter verfolgt habe.« Markus lachte. Er hielt ihr zwei Skulpturen hin. Es schien sich um eine männliche und eine weibliche Figur zu handeln, wobei der Künstler auf die Ausbildung der betreffenden Geschlechtsmerkmale verzichtet hatte. Sie wirkten daher sehr ästhetisch, beinahe minimalistisch.
»Wo habt ihr die denn her?«
»Von einem Kunden.« Flos Stimme schallte aus der Küche. »Einer meiner Stammkunden ist Bildhauer, eigentlich nur so aus Spaß, in seiner Freizeit. Es ist sein Hobby. Aber ich finde ihn richtig gut. Sind sie nicht zauberhaft?«
Flo war in der Tür erschienen und seufzte versonnen bei dem Anblick der kleinen Kunstwerke.
»Kann ich dir helfen?« Johanna war aufgesprungen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, schließlich wollte sie sich nicht von Flo bedienen lassen.
»Nein, Liebes, du ruhst dich aus.« Flo zeigte mit einem zartrosa lackierten Fingernagel auf Johanna und verschwand wieder in der Küche.
Markus sah ihm liebevoll lächelnd hinterher.
»Wie lange seid ihr jetzt eigentlich zusammen?«
»Meinst du tatsächlich – oder seit meinem Outing?« Er lächelte sie an.
»Nein, insgesamt.«
»Acht Jahre.« Er nippte an seinem Wein.
Johanna konnte sich noch gut an den Mann erinnern, der damals zu ihr in die Sprechstunde gekommen war. Er hatte sich um sein Problem herumgedrückt und konnte so nicht mehr weiterleben, weshalb er Johanna aufgesucht hatte. Nach einer halben Stunde hatte sie sein Problem erkannt und konnte ihm helfen. Er war homosexuell und hatte Angst, sich zu outen. Im Kollegenkreis war bereits ein Verdacht aufgekommen, und keiner wollte mit ihm arbeiten, aus Angst, »angemacht« zu werden. Er wurde gemieden wie die Pest. Da er aus einem sehr konservativen Elternhaus stammte, hatte er sich nie getraut, seine Neigungen zuzugeben. Das wäre auch nicht weiter schlimm für ihn gewesen, wäre da nicht Florian gewesen, der eine Entscheidung von ihm verlangt hatte.
In langen Sitzungen hatte sie ihm klar gemacht, dass er sein Leben leben musste, egal, was andere dazu sagten, und schließlich hatte er den Sprung gewagt.
Er outete sich, wurde versetzt und landete bei der Mordkommission, bei Diekmann. Von da an ging es bergauf. Das war nun drei Jahre her, und seitdem waren sie die besten Freunde. Flo war sogar etwas wie Johannas »beste Freundin« geworden. Sie sprachen über alles, tauschten Modetipps aus, und Flo kümmerte sich auch um Johannas Haare, die seiner Meinung nach eher einem Vogelnest glichen als einem Haarschopf.
»Hörst du mir überhaupt zu?«
»Bitte?« Johanna blickte verwirrt auf. Sie war tatsächlich weit weg gewesen mit ihren Gedanken.
»Ich habe dir eben erzählt, dass Flo und ich heiraten wollen. Na ja, wir dachten uns«, Markus unterbrach sich verlegen, »du könntest vielleicht unsere Trauzeugin sein.«
»Das ist fantastisch.« Johanna freute sich wirklich. »Und es wird mir eine große Ehre sein, daran teilzuhaben.«
»Du machst es?« Flo stand vor ihr und lachte sie an.
»Natürlich.« Johanna stand auf und nahm abwechselnd Markus und Flo in den Arm.
»Wann ist es denn so weit?«
»Einen Termin haben wir noch nicht festgelegt.«
»Genau genommen«, Markus streifte Flo mit einem kurzen Seitenblick, »würde Flo gerne eine Doppelhochzeit feiern.«
Johanna blickte fragend von einem zum anderen, bis sie begriff.
»Oh nein, das könnt ihr euch abschminken. Ich denke ja gar nicht daran. Ich wüsste auch nicht, wen ich heiraten sollte.«
»Dann will ich mal den Tisch decken.« Flo verschwand wieder in der Küche und zog sich so aus der Affäre.
»Es duftet köstlich.« Johanna schnupperte. »Was ist das?
»Schweinefilet, überbacken. Du wirst es mögen.« Flo brachte die heißen Pfannen herein. Er stellte alles auf den Tisch und setzte sich.
»Nehmt Platz und lasst es euch schmecken.«
Eine Zeit lang aßen alle schweigend, bis Flo zwischen zwei Bissen das Gespräch wieder aufnahm.
»Was ist mit Stefan?«
Johanna ließ ihre Gabel sinken und griff nach dem Weinglas. Sie nippte an der hellen Flüssigkeit und versuchte so, ein wenig Zeit zu gewinnen. Dieses Thema war ihr unangenehm, fast so unangenehm wie ein Besuch beim Frauenarzt.
»Was soll mit ihm sein?« Sie wurde jedes Mal verlegen, aber unbarmherzig, wie Flo war, würde sie ihm dieses Mal wohl nicht entkommen.
»Du weißt genau, was ich meine. Meint er es ernst?« Flos blaue Augen sprühten kampfeslustig.
»Komm schon, ich habe nie etwas verlangt.«
»Nein, aber gewünscht. Oh, Liebes.« Flo beugte sich über den Tisch und legte Johanna leicht eine Hand auf den Arm. Dann änderte er seine Taktik. »Johanna, du willst doch eine Familie. Und außerdem, das darfst du nicht vergessen, wirst du auch nicht jünger. Also, wie steht es mit Stefan?«
Johanna stellte ihr Weinglas hin und drehte am Stiel.
»Beschissen.«
»Ach, doch so gut.« Markus versuchte die Stimmung etwas aufzulockern, verstummte jedoch sofort wieder, als er die ernsten Gesichter seiner Freunde sah. Er wandte sich Johanna zu.
»Warum tust du dir das bloß an?«
»Komm schon. Ihr tut gerade so, als würde ich mich verleugnen.« Johanna stocherte lustlos in ihrem Essen herum.
»Tust du das nicht?«
Flo hob die sorgfältig gezupften Augenbrauen.
»Können wir bitte das Thema wechseln?« Johanna beugte sich über ihren Teller und bemühte sich, hoch konzentriert zu wirken.
»Sicher. Du hattest Ärger mit Diekmann?«, fragte Markus trocken, und sie hätte ihn dafür ermorden können. Er wollte ihr wirklich nichts ersparen. Sie ließ die Gabel fallen und lehnte sich mit einem Aufstöhnen in ihrem Stuhl zurück.
»Du weißt es schon?«
»Was?« Flos blaue Augen weiteten sich neugierig. Johanna seufzte. Heute Abend hatte sie verloren. Das wusste sie. Zumindest Flo würde sie nicht mehr aus den Augen lassen.
»Wir hatten einen Disput.«
»Schlimm?«
»Sehr schlimm. Er ist ein Arschloch.«
»Das sagtest du bereits.« Markus konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Ja, aber das ist zwei Tage her.« Sie nahm die Serviette und tupfte sich den Mund ab. Man musste wissen, wann man verloren hatte.
»Er hat den Mami von Gudrun Spengler behandelt wie ein Stück Dreck.«
»Du meinst den Witwer.«
»Macht das einen Unterschied?«
»Oh ja, er könnte genauso gut der Mörder sein.«
»Das glaubst du doch selber nicht. Er hat mir unterstellt, ich würde seine Arbeit behindern.«
»Seine Erfahrung mit Psychologen sind eben nicht gerade die besten. Du musst ihn schon auch verstehen. Er will einen Mord aufklären, den Mörder verhaften und kein Schonprogramm fahren.
»Das will ich auch nicht«, maulte Johanna.
»Das weiß er aber nicht.« Markus beugte sich vor, und redete eindringlich auf Johanna ein. »Du musst ihm zeigen, dass du am gleichen Strang ziehst wie er. Erst wenn er das kapiert hat, wird er dich akzeptieren.«
Johanna beugte sich wütend vor. »Darauf bin ich nicht angewiesen.« Da war er wieder, der Trotz in ihrer Stimme. Eine Eigenschaft, die sie jahrelang trainiert hatte, um der einzigen Person gegenübertreten zu können, die Macht über sie besaß.
»Doch, das bist du. Wenn du es nicht schaffst, fliegst du raus.«
»Na, reizend. Auf welcher Seite stehst du eigentlich?«
»Das ist eine sehr kindische Frage. Wir stehen alle auf derselben Seite.«
»Hört auf, euch zu streiten.« Flo legte besänftigend eine Hand auf Markus' Arm. »Sie hat es schon schwer genug. Hör auf, sie ständig zu kritisieren. Und du«, er wandte sich an Johanna, »solltest ein wenig darüber nachdenken, was Markus dir gesagt hat. Du bist nun einmal derzeit auf Diekmann angewiesen. Wenn du dich jetzt mit ihm überwirfst, hast du kaum noch eine Chance, Fuß zu fassen und die gebührende Anerkennung für deine Arbeit zu bekommen. Also schluck deinen Stolz hinunter und lass ihn reden.«
Johanna seufzte. »Gegen euch beide habe ich einfach keine Chance. Was schlagt ihr also vor?«
»Mach das, was du für richtig hältst, aber geh Diekmann dabei aus dem Weg, das heißt im Klartext: Streite nicht ständig mit ihm.«
Johanna stocherte missmutig in ihrem Essen herum. »Mit diesem Menschen ist einfach nicht zu reden.« Ihr wurde bewusst, dass sie sich gerade wie ein kleines Kind benahm, das zu guter Letzt mit dem Fuß aufstampfte, um seinen Willen zu bekommen. Etwas, was sie als Kind nie getan hatte, weil sie nicht mutig genug gewesen war.
»Dann lass es. Mach deinen Job und lass es dabei bewenden. Aber spiel nicht die beleidigte Leberwurst. Und jetzt erzähl doch mal, wie es bei Spengler gelaufen ist?« Markus hatte sein Besteck wieder aufgenommen und widmete sich seinem Essen.
»Er hat seine Frau zuletzt auf der Party gesehen, auf der sie gemeinsam waren. Sie hatten Streit, sie ist allein weggegangen, und der liebende Ehemann ist mit einer anderen abgezogen.«
»Und?«
Johanna legte ihr Besteck beiseite. »Ich weiß nicht. Irgendwo auf dem Weg von der Party nach Hause ist sie dann verschwunden.«
»Ist sie denn wirklich nach Hause gegangen?«
»Ihr Mann sagt Ja. Aber eigentlich ist das egal.«
»Wieso?« Markus runzelte die Stirn und sah sie an, als könne er ihr nicht ganz folgen.
»Na ja, irgendwo ist sie ihrem Mörder begegnet. Dann verliert sich ihre Spur. Außerdem«, sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas, »scheint sie ihn gekannt zu haben.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Erinnerst du dich nicht? Sie hatte keine äußeren Verletzungen. Keine Knebel- oder Fesselspuren, keine Würgemale, keine Anzeichen für den Gebrauch anderer Waffen. Es hat sie also niemand angegriffen und sie muss ihren Mörder somit entweder gekannt haben oder ihm aus einem anderen Grund vertraut haben.
»Wie war sie angezogen?« Flo zerschnitt das Stück Fleisch auf seinem Teller mit zierlichen Bewegungen und schob sich dann ein kleines Stück in den Mund. Der Käse auf dem Fleisch hatte lange Fäden gezogen, die Flo elegant durchtrennte. Er wickelte sie auf die Gabel und schob sie ebenfalls in den Mund. Markus lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Partykleidung. Du weißt schon, ein kurzes schwarzes Etuikleid, Pumps, eine Jacke darüber. Aber das bringt uns auch nicht weiter.«
»Und wie spät war es?«
»So zwischen 21.00 Uhr und 21.30 Uhr. Warum fragst du?«
»Sie muss doch irgendwie weggekommen sein. Es ist Herbst, und in diesem dünnen Partyfummel wäre sie normalerweise nicht weit gekommen. Außerdem wären ihre Schuhe bei dem Regen, den wir seit Wochen haben, vollkommen ruiniert gewesen.«
Johanna dämmerte langsam, worauf Flo hinauswollte. »Du meinst, sie hat ein Taxi genommen?«
»Das ist nur so ein Gedanke, aber ich glaube nicht, dass ich mich als Frau in solcher Kleidung um diese Uhrzeit in die U-Bahn oder den Bus getraut hätte.«
»Moment mal«, Markus beugte sich vor, »du willst doch wohl nicht sagen, dass wir unseren Killer unter Hamburgs Taxifahrern suchen müssen?«
»Warum nicht?«
Flo zuckte mit den Schultern. »Überleg doch mal. Die sicherste Art für eine Frau, abends nach Hause zu kommen, ist immer noch das Taxi. Einem Taxifahrer vertraut eine Frau garantiert.«
»Das erscheint mir doch etwas zu offensichtlich.« Markus lehnte sich wieder zurück und schüttelte den Kopf. Einen Moment lang herrschte Schweigen am Tisch, bis Johanna den Faden wieder aufgriff.
»Ich glaube, Flo hat Recht. Keine Frau würde sich unter normalen Umständen zu einem fremden Mann in den Wagen setzen. Bei einem Taxifahrer allerdings hat man keine Befürchtungen. Wir müssten allerdings überprüfen, ob die anderen Opfer auch mit dem Taxi gefahren sind.« Man merkte ihr an, dass sie fieberhaft nachdachte. Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum und ihre Augen wanderten ruhelos auf dem Tischtuch umher. »Doch, ich finde, das ist eine gute Idee. Wir sollten das wirklich in Erwägung ziehen.«
Markus sah immer noch skeptisch von einem zum anderen.
»Selbst wenn das stimmt, haben wir kaum eine Chance. Es fahren doch so viel Taxis in der Stadt herum, dass sich bestimmt niemand an ein bestimmtes Fahrzeug erinnern kann, selbst wenn wir einen Zeugenaufruf in die Zeitung setzen würden. Obwohl«, er rieb sich nachdenklich das Kinn, »wir könnten es natürlich versuchen. Bei den Taxizentralen nachfragen, ob irgendjemand in der betreffenden Zeit eine Fahrt angemeldet hat. Johanna, hast du die Adresse von dieser Party, bei der die Spenglers waren?«
»Ja, warte mal.« Sie kramte in ihrer Tasche, die sie über die Stuhllehne gehängt hatte, und fischte einen kleinen zerknüllten Zettel hervor.
»Es ist im Eppendorfer Weg gewesen.« Sie reichte Markus den Zettel über den Tisch. Er betrachtete ihn eine Weile und steckte ihn dann in seine Hosentasche. »Ich kümmere mich morgen darum.«
Sie hatten noch eine Weile zusammengesessen, bis Johanna müde wurde und nach Hause ging. Sie schloss ihre Wohnungstür auf und warf die Schlüssel auf einen kleinen Tisch im Flur. Ihre Gedanken kreisten beständig um diesen Fall, und jetzt erst bemerkte sie, dass sie nicht nur körperlich, sondern auch geistig erschöpft war. Der Anrufbeantworter blinkte rhythmisch. Im Vorbeigehen drückte sie auf den Wiedergabeknopf. Es war Stefan. Seine Stimme klang lange nicht mehr so schmeichelnd wie vor zwei Tagen. Sie meinte sogar einen leicht ungeduldigen Unterton in seiner Stimme zu hören und stellte erstaunt fest, dass sie Stefan während der vergangenen Tage fast völlig verdrängt hatte. Noch nie hatte er auf ihren Rückruf lange warten müssen. Jetzt hörte er sich an wie ein schmollendes Kind, das das gewünschte Spielzeug nicht erhalten hatte. Sie seufzte. Gut, ein kurzer Anruf würde sie nicht umbringen.
»Ja?« Seine Stimme klang gereizt. Sie ließ sich auf ihr Sofa fallen und legte den Kopf zurück.
»Ich bin's. Entschuldige, ich habe dich vergessen. Tut mir Leid.«
»Ich dachte schon, du würdest dich gar nicht mehr melden.« Da war es wieder, das enttäuschte Kind. Stefans Schmollmund erschien vor ihrem geistigen Auge. »Ich hatte viel zu tun.«
»Wollte sich wieder einer deiner Kollegen umbringen?« Es klang gelangweilt und desinteressiert.
»Es gibt noch ein paar andere Dinge, die in mein Ressort fallen.« Ärger stieg in ihr hoch. Er hatte sie und ihren Beruf noch nie ernst genommen. Das war wohl auch der Grund, warum er sich mit ihrer Mutter so gut verstand, dachte sie bissig.
»Ach. Ich kann dir sagen, es war ganz schön anstrengend in Köln, und ich ...«
»Bitte entschuldige, aber ich bin wirklich müde. Lass uns morgen weiterreden, ja?« Sie unterdrückte ein Gähnen. Das Schweigen am anderen Ende der Leitung zeigte ihr, dass er mit dieser Reaktion nicht gerechnet hatte. Wie sollte er auch? Bisher hatte sie sich immer all seine Geschichten geduldig angehört und ihn angemessen bemitleidet. So etwas wie ein schlechtes Gewissen stieg in ihr hoch, aber sie verdrängte es schnell wieder. Schluss damit, jetzt war sie mal dran. Außerdem war sie einfach zu müde, um sich um Stefans Seelenheil zu kümmern.
»Dann eben nicht. Schlaf gut.« Er legte unvermittelt auf, noch bevor sie antworten konnte. Sie starrte noch eine Weile, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, das Telefon an, entschied sich dann aber dagegen, ihn noch einmal anzurufen und sich für ihre kurz angebundene Art zu entschuldigen.
Entschuldigen – es war ihr fast zur zweiten Natur geworden, sich ständig für alles zu entschuldigen. Allein bei diesem kurzen Telefonat hatte sie es zweimal getan. Sie rieb sich mit den Fingerspitzen über die Schläfen. Für heute musste jedenfalls Schluss damit sein.
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich noch einmal mit den Angehörigen der Opfer spreche?« Johanna stand vor Diekmanns Schreibtisch und kam sich wie eine kleine Bittstellerin vor. Sie erinnerte sich an Flos Rat und versuchte, ihrer Stimme die Aggressivität zu nehmen.
Er sah kurz hoch und runzelte die Stirn.
»Wir haben bereits mit den Angehörigen gesprochen.«
»Das weiß ich, aber ich möchte noch einmal mit ihnen reden.«
Sie war eine Bittstellerin.
»Und was versprechen Sie sich davon?« Er beugte sich wieder über seine Akten und schrieb weiter.
»Ich möchte etwas mehr über die Opfer herausfinden.« Sie versuchte sich die in ihr aufkeimende Ungeduld nicht anmerken zu lassen.
»Wir suchen einen Mörder, die Opfer haben wir schon. Die Aussagen können Sie nachlesen. Ich sehe keinen Sinn darin, die Angehörigen unnötig weiter zu quälen.«
Johanna merkte, wie die Wut wieder in ihr aufstieg. Sie beugte sich vor und stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab.
»Ich habe nicht vor, die Angehörigen zu quälen. Ich habe genau wie Sie vor, einen Mörder zu fangen. Ihre Methoden haben anscheinend bisher versagt, sonst hätten Sie den Killer ja schon gefasst, oder?« Sie sah sich demonstrativ im Zimmer um, so als wolle sie sehen, ob jemand hinter ihr stünde.
»Wenn Sie Erfolg gehabt hätten, wäre ich nicht hier. Es ist doch so, dass man mich Ihnen direkt vor die Nase gesetzt hat, nicht wahr? Glauben Sie mir, das passt mir genauso wenig wie Ihnen, aber ich fürchte, unsere Meinung ist hier nicht besonders gefragt. Oder hat man Sie etwa um Ihre Zustimmung gebeten? Ich hatte eigentlich nicht vor, Sie erst um Erlaubnis zu bitten. Ich denke nämlich nicht, dass ich das nötig habe, aber wir sollten vielleicht trotzdem unsere ja wohl durchaus unterschiedlichen Vorgehensweisen absprechen. Also, wie sieht es aus?«
Diekmann sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Sie können froh sein, dass ich heute gute Laune habe und mir von allen möglichen Leuten Frechheiten bieten lasse, selbst einen so emotionalen und völlig unnötigen Ausbruch wie den Ihrigen. Also gut«, er warf den Kugelschreiber, den er in der Hand hielt, auf den Tisch und stand auf, »aber stehen Sie mir nicht im Weg und kommen Sie mir vor allen Dingen keinesfalls in die Quere. Sollte sich irgendjemand über Sie beschweren, werde ich dafür sorgen, dass Sie hier verschwinden. Haben wir uns verstanden?« Wütend funkelte er sie an und stand dabei so dicht vor ihr, dass er ihr fast seinen Zeigefinger in die Brust bohrte, den er drohend erhoben hatte.
Johanna straffte die Schultern und trat einen Schritt zurück. Sie merkte, wie sie allmählich ruhiger wurde.
»Fein, dann sind ja zumindest die Fronten geklärt.« Sie drehte sich um und ging aufreizend langsam zur Tür. »Ich werde es Sie wissen lassen, wenn ich etwas herausgefunden habe.«
In ihrem Büro ließ sie sich in ihren Sessel fallen und atmete hörbar aus. Er würde sie erst einmal nicht mehr in ihrer Arbeit behindern, und sie würde erst wieder mit neuen Fakten an ihn herantreten. Somit hatte sie mehr oder weniger freie Bahn. Mit der Unterstützung seiner Leute würde sie, mit Ausnahme von Markus, nicht rechnen können. Man würde ihr höchstens einige Fragen beantworten. Aber das war jetzt nicht weiter wichtig.
»Ich habe die Sache etwas angeschoben.« Plötzlich lehnte Markus im Türrahmen und sah auf sie herab.
»Welche Sache?«
»Du weißt schon, die Sache mit den Taxifahrern. Viel verspreche ich mir nicht davon, aber vielleicht ist es wenigstens ein Anfang. Wie läuft es bei dir?« Er schlenderte ins Zimmer und setzte sich auf die Tischkante.
»Geht so, aber ich habe jetzt freie Hand. Zumindest vorerst.« Sie zuckte mit den Achseln. »Solange mich Diekmann nicht sieht, wird er mir auch nichts tun. Das ist jedenfalls das Fazit unsere netten kleinen Unterhaltung, die ich eben mit ihm geführt habe.« Sie lachte freudlos auf. »Er mag mich nicht.«
»Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du das nicht persönlich nehmen sollst. Lass ihn einfach links liegen. Bei wem fängst du an?« Völlig unvermittelt hatte er das Thema gewechselt.
»Gute Frage.« Johanna blätterte die Akten durch. »Ich denke, bei den Eltern von Opfer Nummer eins, bei Familie Beckmann.«
»Soll ich mitkommen?«
»Nein, lass nur. Ich möchte nicht, dass ein Polizist dabei ist. Allein komme ich besser mit so einer Situation zurecht. Trotzdem danke.«
»Melde dich zwischendurch mal, ja? Das machen wir alle hier.«
Sie nickte. »Okay.«
Sie blieb noch einen Moment im Wagen sitzen und atmete tief durch. Claudia Beckmann war vor etwa sechs Wochen tot aufgefunden worden. Sie war die Erste, die zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Johanna stieg aus und ging zügig auf die Haustür des bescheidenen Einfamilienhauses zu. Ein Schild an der Pforte sollte ungebetene Gäste darauf hinweisen, dass hier ein Wachhund das Sagen hatte, ein niedriger Zaun trennte den kleinen gepflegten Vorgarten von der Straße.
Johanna hatte sich nicht angemeldet, aus Angst, dass man dann vielleicht nicht mit ihr sprechen wollte. Es war durchaus möglich, dass man ihr die Tür vor der Nase zuschlug. Schließlich hatten diese Menschen genug durchgemacht; sie hatten die Fragen der Polizei ertragen und waren schließlich mit ihrem Kummer allein gelassen worden, Wer würde es ihnen da verdenken, wenn sie nun nicht mehr an die Tragödie erinnert werden, keine Fragen mehr über sich ergehen lassen wollten?
Es dauerte geraume Zeit, bis Johanna die Tür geöffnet wurde. Sie war sich darüber im Klaren, dass sie durch ein Fenster im oberen Stockwerk beobachtet worden war. Aber dann öffnete eine korpulente Frau. Sie war schwarz gekleidet und hatte dunkle Ringe unter den Augen.
»Frau Beckmann?«
Die Frau nickte.
»Mein Name ist Johanna Jensen. Ich bin Polizeipsychologin und würde gern kurz mit Ihnen sprechen.« Die Frau zögerte und sah sie misstrauisch an.
»Warten Sie.« Johanna wühlte in ihrer Tasche und holte einen Dienstausweis hervor. Es war das erste Mal, dass sie ihn benutzte.
»Hier ist mein Ausweis. Sie können sich auch gern bei meiner Dienststelle nach mir erkundigen, wenn sie wollen.«
Die Frau warf einen kurzen Blick auf den Ausweis und trat dann einen Schritt beiseite.
»Kommen Sie herein.«
So einfach wie das Haus von außen wirkte, war es auch innen eingerichtet. Die Möbel waren alt, die Teppiche abgetreten und schon etwas fadenscheinig, aber alles war penibel sauber. In der Luft hing ein Geruch, den ihre Mutter immer als »Arme-Leute-Geruch« bezeichnet hatte. Eine Mischung auch Essigreiniger und Kochdünsten, die für Johanna Geborgenheit vermittelte, ein Geruch, der zeigte, dass hier Menschen lebten. Bei ihr zu Hause hatte es immer steril gerochen und nach dem schweren Parfüm ihrer Mutter. Ein Geruch, der ihr oft Übelkeit verursacht hatte.
»Bitte.« Frau Beckmann lud Johanna mit einer Handbewegung ein, auf dem Sofa Platz zu nehmen, sie selbst blieb stehen, und faltete abwartend die Hände vor dem Bauch.
»Ich möchte sie keineswegs quälen, aber es gibt noch einige Dinge, die ich wissen möchte.« Johanna rutschte nervös auf dem Sofa herum.
ja, bitte?« Frau Beckmann verkrampfte sich augenblicklich, und Johanna konnte sehen, dass sie mit den Tränen kämpfte. Johanna stand auf und ergriff die Hände der älteren Frau. Sie waren eiskalt. »Glauben Sie mir, ich will Ihnen helfen, aber dafür müssen Sie mir zunächst helfen, auch wenn es sehr schmerzlich für Sie sein muss.« Sie lächelte ihr aufmunternd zu. Die alte Frau schloss für einen Moment die Augen und nickte dann. Sie drückte Johannas Hand und löste sich dann sanft von ihr. Mit schweren Schritten ging sie zu einem Sessel und setzte sich.
»Es ist sehr schwer für uns, wissen Sie.« Die Stimme der trauernden Mutter klang leise und etwas unsicher. Johanna schob die Hände in ihre Jackentasche und biss sich auf die Lippen. Es war nicht einfach, irgendetwas zu sagen, sie wollte sich auch nicht in Allgemeinplätzen ergießen, also ließ sie es ganz.
»Was genau wollten Sie denn wissen?« Frau Beckmann sah zu ihr auf und versuchte tapfer zu lächeln. Johanna ließ sich auf einer Sofaecke nieder und sah der Mutter von Claudia Beckmann fest in die Augen.
»Erzählen Sie mir etwas über Ihre Tochter. Wie war sie? Was hat sie gemacht in ihrer Freizeit?«
»Sie war so ein liebes Mädchen und hat uns immer nur Freude gemacht. Vormittags hat sie Pädagogik studiert, nachmittags hat sie sich um behinderte Kinder in einem Sonderschulkindergarten hier in der Nähe gekümmert. Sie hat das umsonst gemacht, weil sie etwas lernen wollte und weil sie Kinder sehr mochte. Einen Freund gab es nicht, und sie hat noch zu Hause gewohnt.«
Frau Beckmann unterbrach sich und schnäuzte geräuschvoll in ihr Taschentuch. Sie knetete unablässig ihre Finger. Johanna merkte, dass die Frau in sich hineinhorchte. Die Erinnerung an ihre Tochter schien sie zu quälen, aber Johanna gewann den Eindruck, dass sie das erste Mal seit Wochen wieder von ihrer Tochter sprach, und das eigentlich auch brauchte, um besser mit ihrer Trauer fertig zu werden. Trauerarbeit nannte man das.
»Ging sie viel aus?«
»Nein.« Claudias Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, sie war abends fast immer zu Hause. Mitunter traf sie sich mit einer Freundin, um ins Kino zu gehen, aber das war auch schon alles.«
»Was passierte an dem betreffenden Abend?«
»Ich weiß es nicht. Mein Mann und ich waren bei Freunden eingeladen. Als wir nach Hause kamen, war sie nicht da. Sie hatte auch keine Nachricht hinterlassen, wie sie es sonst immer tat. Sie hat sie immer in die Küche auf den Tisch gelegt.«
Sie zeigte vage in eine Richtung, von der Johanna annahm, dass sich dort die Küche befand.«
»Wenn sie abends wegging, nahm sie dann den Bus oder die Bahn?«
»Mitunter nahm sie unseren Wagen. Sie hatte Angst, abends mit der Bahn zu fahren. Aber das kam nicht sehr oft vor. Sie war sehr verantwortungsbewusst, und wenn sie etwas trinken wollte, nahm sie ein Taxi. Wissen Sie, sie wäre nie gefahren, wenn sie Alkohol getrunken hatte.«
Johanna versteifte sich.
»Haben Sie mit ihren Freunden gesprochen?«
»Ja, aber man hat sie an jenem Abend nicht gesehen. Sie hat sich mit keinem von ihnen getroffen. Keiner wusste etwas.« Die Stimme von Claudias Mutter wurde brüchig. Sie nahm ein Taschentuch und tupfte sich die Nase. Sie schien immer mehr in sich zusammenzusinken. Im Hintergrund war das rhythmische Ticken einer Standuhr zu hören. Es durchbrach schmerzhaft die Stille.
Johanna machte sich im Kopf eine Notiz, die entsprechenden Aussagen zu lesen.
»Wann ist sie zuletzt mit dem Taxi gefahren?«
Frau Beckmann zuckte die Schultern. »Das ist bestimmt schon zwei oder drei Monate her. Es ist ja auch sehr teuer, und sie gab nur sehr ungern unnötig Geld aus. Sie war keine Kneipengängerin, saß lieber in ihrem Zimmer und las ein gutes Buch oder ging, wie gesagt, mal mit Freunden ins Kino. Ich kann Ihnen nicht sagen, was passiert ist.« Sie brach unvermittelt in Tränen aus und verbarg ihr Gesicht in den Händen.
Johanna legte ihr sanft eine Hand auf den Arm. Sie widerstand der Versuchung, die ältere Frau in den Arm zu nehmen. Sie brauchte noch weitere Hinweise. »War sie ein ängstlicher Typ?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Wie, glauben Sie, hätte sie reagiert, wenn sie überfallen worden wäre?«
Die Frau sah sie verständnislos an.
»Ich meine, hätte sie geschrien, hätte sie sich gewehrt?«
»Ich denke ... ich denke, sie hätte versucht, mit der Person zu reden. Sie war immer der Meinung, dass man über alles reden könne. Aber was soll das? Sie wurde doch überfallen, oder?«
»Nein, Frau Beckmann. Alles spricht dagegen, dass sie überfallen wurde.«
Die Augen von Claudias Mutter nahmen einen schmerzlichen Ausdruck an. Einer plötzlichen Eingebung folgend, versuchte Johanna ihr den Schmerz zu nehmen und sagte: »Ich glaube nicht, dass Ihre Tochter Angst hatte, und ich bin mir sicher, dass sie nicht gelitten hat.«
Bis zu diesem Zeitpunkt war es ihr noch nie so bewusst gewesen, wie schwer es war, Menschen Trost zu spenden, wo es keinen Trost gab. Unwillkürlich musste sie an ihren eigenen Bruder denken, der Trost gesucht und nicht gefunden hatte. Sie, als seine Schwester, wäre verpflichtet gewesen, ihm zu helfen, aber sie hatte versagt. Eigentlich hatte er auch gar keinen Trost gebraucht, eher Verständnis. Sie fragte sich, ob es damals anders weitergegangen wäre, wenn ihr Vater noch am Leben gewesen wäre. Das Leid dieser Frau, die um ihre Tochter trauerte, ging ihr näher, als sie gedacht hatte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die alten Wunden wieder aufbrechen würden, aber nun war es geschehen. Sie blieb stehen, holte einmal tief Luft – und versuchte sich zu konzentrieren. Sie musste etwas unternehmen, um diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Sie legte den Kopf weit in den Nacken und starrte in den Himmel. Weiße Wolken jagten vorbei und es sah aus, als würden sie davonlaufen.
Das Atmen fiel ihr schwer, so dass es einen Moment dauerte, bis sie sich wieder gesammelt hatte. Sie hatte einen Menschen in tiefer Verzweiflung zurückgelassen, und es gab nichts, was sie tun konnte. Zumindest hatte aber ihre Behauptung, dass Claudia wahrscheinlich nichts gemerkt hatte, ein wenig Leben und Zuversicht in die Augen der Mutter gezaubert. Vielleicht war das für diese gebrochene Frau ein Anfang.
Johanna merkte, dass sie sich nicht weiter in die Gefühlswelt der Angehörigen einlassen durfte, da ansonsten ihre eigene Seele Schaden nehmen würde. Schon jetzt erschienen Bilder vor ihrem geistigen Auge, die sie vermutlich nicht mehr schlafen lassen würden, und sie stand schließlich erst am Anfang ihrer Ermittlungen. Sie rieb sich kräftig über die Augen, bis sie schmerzten, um diese Bilder zu vertreiben, und stieg dann in ihren Wagen ein. Entschlossen startete sie den Motor. Sie hatte einen langen Weg vor sich, egal, wohin er führte.
Es war nicht einfach, in der Stadt einen Parkplatz zu finden, aber schließlich gelang es ihr, einen am Jungfernstieg zu ergattern. Sie ging die paar Schritte bis zum Ballindamm, wo der Verlobte von Sigrid Meinecke, Joachim Henschke, als Berater bei einer Bank tätig war. Sie war dankbar, ihn auf neutralem Boden treffen zu können; so würde er zumindest gefasster sein als Frau Beckmann. Die hübsche Blondine am Empfang musterte sie von oben bis unten, bis sie sich endlich bequemte, sie anzumelden. Wenn man einen Vergleich zwischen ihnen beiden anstellen würde, dann käme man vielleicht auf Claudia Schiffer und Angela Merkel. Grimmig registrierte Johanna, dass sie beim besten Willen nicht mit Claudias Schiffer zu verwechseln war.
»Frau Jensen?« Der junge Mann, der vor ihr stand, sah außergewöhnlich gut aus. Er schien nicht nur gefasst zu sein, er wirkte jovial, beinahe heiter, zumindest lächelte er sie leicht an. Wohlwollend registrierte sie sein Aftershave, das ihn wie eine Wolke zu umgeben schien, und unwillkürlich verglich sie es mit dem von Diekmann. Ärgerlich schüttelte sie kurz den Kopf, um diese unliebsamen Gedanken zu vertreiben.
»Herr Henschke, nehme ich an.« Sie ging auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand.
»Sie wollten mich sprechen?« Er rührte sich nicht vom Fleck, so als erwarte er, dass man die Angelegenheit zwischen Tür und Angel erledigen könne.
da, das ist richtig. Es geht um Ihre Verlobte.«
Sein Gesicht wurde hart, aber er hatte sich schnell wieder im Griff.
»Hier entlang, bitte.« Er wies ihr, wieder lächelnd, den Weg in sein Büro.
Das Büro war teuer und sehr schlicht eingerichtet. Hier war kein überflüssiger Schnörkel zu finden. Das Zimmer wirkte genauso kühl und elegant wie Henschkes professionell unnahbarer Gesichtsausdruck.
»Nehmen Sie Platz.« Er ging um den Schreibtisch herum und setzte sich ihr mit gefalteten Händen gegenüber.
Sie war heilfroh, dass sie sich heute Morgen für ein Kostüm in dezenten Blautönen entschieden hatte. So wirkte sie wenigstens ansatzweise seriös.
»Bitte, was kann ich für Sie tun?« Seine Emotionslosigkeit machte sie wütend. Die Frage ist, was ich für dich tun kann, du Lackaffe.
»Ich habe noch einige Fragen, die Ihre Verlobte betreffen.«
»Ich habe doch bereits mit der Polizei gesprochen.« Er veränderte kaum merklich seine Haltung, indem er die Schultern ein wenig straffte und sich ein Stück zurückzog, so dass er nun beinahe abweisend wirkte.
Sie nickte. »Das ist mir bekannt, aber es gibt noch einige Dinge, die für mich interessant sind. Ich bin Polizeipsychologin und ebenfalls mit diesem Fall betraut.«
»Ach so.« Er lehnte sich zurück und tippte leicht mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. »Sie wollen ein Täterprofil erstellen, oder so etwas Ähnliches?«
»Genau.« Johanna lächelte sanft.
»Nur zu. Fragen Sie.«
»Erzählen Sie mir etwas über Frau Meinecke.«
»Was wollen Sie hören?« Entweder wusste er nicht viel über seine verstorbene Beinahe-Ehefrau oder er wollte nur das Nötigste über sie erzählen.
»Wie war sie? Was tat sie in ihrer Freizeit? War sie ein ängstlicher Typ? Ging sie oft abends allein weg?«
»Verstehe. Ich dachte, Sie wollten ein Täterprofil erstellen. Sind hierfür Ihre Fragen wirklich der richtige Weg?« Sein Lächeln wirkte ein wenig albern.
»Viele Wege führen nach Rom, Herr Henschke.«
Er hob abwehrend die Hände. »Verzeihen Sie, ich habe natürlich keine Ahnung von Ihrem Metier. Also gut, sie spielte Tennis und ging gern in die Oper. Sie ging eigentlich nie abends allein weg, meistens waren wir zusammen unterwegs. Ängstlich war sie nicht, dafür war sie viel zu selbstbewusst, außerdem war sie Kampfsportlerin. Es ist mir deswegen unverständlich, wie man sie überfallen konnte.«
»Fuhr sie viel mit dem Taxi?«
»Wie bitte?« Henschke beugte sich wieder vor, und sah sie amüsiert an. »Ist das wichtig?«
»Alles kann wichtig sein. Ich will herausfinden, wie Frau Meinecke ihrem Mörder begegnete. Sehen Sie, es gibt neue Anhaltspunkte in diesem Fall.« Sie blickte ihn Rat suchend an. Ein Blick in das Gesicht ihres Gegenübers zeigte ihr, dass sie auf dem richtigen Weg war. Es nahm einen leicht überheblichen Ausdruck an.
»Sie fuhr sehr oft Taxi. Besonders wenn sie abends bei einem Geschäftsessen war.«
»Das ist interessant. Rief sie denn dann immer eine bestimmte Taxenzentrale an?«
»Das weiß ich nicht, aber ich nehme es an.«
»Was geschah an dem Abend, an dem sie verschwand?«
»Sie war beim Tennisspielen, war also mit ihrem eigenen Auto gefahren. Das Fahrzeug ist ja auch meines Wissens nach vor der Sporthalle gefunden worden. Sie selber war drei Tage verschwunden, bis man ...« Er brach ab, es war das erste Mal, dass er etwas Gefühl zeigte. Ob es daran lag, dass er das Unaussprechliche nicht aussprechen konnte oder weil er nicht herzlos erscheinen wollte, konnte Johanna nicht sagen.
»Noch eine letzte Frage: Haben Sie auf der Beerdigung fotografiert?«
»Wie bitte?« Er schien nun wirklich entsetzt zu sein.
»Das ist nicht ganz unüblich, müssen sie wissen«, entschuldigte sich Johanna hastig. Wie konnte sie nur so trampelig fragen. »Manche Menschen möchten einfach ein letztes Andenken an den Verstorbenen haben und machen zum Beispiel Bilder vom Grab. Haben Sie solche Bilder gemacht?«
Er dachte kurz nach. »Ich persönlich nicht, aber ich glaube Sigrids Eltern. Mit ihnen sollten Sie reden.«
Sie stand auf und verabschiedete sich.
»Ich danke Ihnen. Sie haben mir sehr geholfen. Sollte ich zu einem späteren Zeitpunkt noch Fragen haben ...«
»Rufen Sie vorher an. Dann vereinbaren wir einen Termin.«
Das könnte dir so passen. Einen Termin ausmachen und mich dann versetzen.
»Sicher.« Sie erwiderte sein Lächeln kühl, nickte ihm noch einmal kurz zu und verschwand.
Der Empfang war leer. Die Blondine puderte sich wohl gerade ihre Nase.
»Mit der Mutter von Claudia Beckmann und mit dem Verlobten von Sigrid Meinecke habe ich gesprochen, und bereits hier wird klar, dass der Mörder keinen bestimmten Typ im Auge hatte. Beide Frauen waren grundverschieden. Die eine zeichnete sich durch ihr soziales Engagement aus, die andere war eine Karrierefrau. Die eine meinte durch Gespräche die Welt verbessern zu können, die andere verließ sich lieber auf Handkantenschläge.« Johanna seufzte. Markus saß ihr in seinem Wohnzimmer gegenüber, die Hände locker auf die Oberschenkel gestützt.
»Was denkst du?«
»Keine Ahnung. Hier passt überhaupt nichts. Ich habe einfach keine Ahnung, wo ich anfangen soll.«
»Er muss alle vier gekannt haben.« Markus' Aussage war eine Feststellung.
»Nicht unbedingt. Er kann sie alle beobachtet und so kennen gelernt haben, aber sie müssen ihm nicht zwangsläufig begegnet sein.
»Hast du mit Diekmann gesprochen?«
»Soll das ein Witz sein? Mit dem Kerl ist nicht zu reden. Er betrachtet mich als einen Stümper und Seelenklempner.«
Markus seufzte und lächelte sie leicht an.
»Ich habe es dir doch erklärt, und ich gedenke nicht, mich zu wiederholen.«
»Trotzdem.« Johanna starrte stumpf vor sich hin. »Es gibt nichts Konkretes, was ich ihm an die Hand geben könnte.«
»Dann müssen wir noch einmal von vorne anfangen.« Markus beugte sich vor und sah sie an. »Aber du solltest dich vielleicht erst ein wenig hinlegen.«
»Du hast Recht.« Sie seufzte und erhob sich schwerfällig aus ihrem Sessel. »Ich gehe jetzt einmal nach Hause und denke nach. Vielleicht habe ich ja einen Geistesblitz. Wir sehen uns dann morgen.«
Eigentlich hatte sie gehofft, Flo zu sehen, aber der besuchte seinen Aerobic-Kurs.
Duschen wirkte meist Wunder bei ihr, und als sie aus der Wanne stieg, fühlte sie sich fast wie ein neuer Mensch. Ihre Gedanken wurden wieder ein wenig klarer, und sie fühlte sich nicht mehr so deprimiert wie noch vor wenigen Minuten. Man musste die Sache anders angehen. Markus hatte Recht, wenn er sagte, dass sie wieder von vorne beginnen mussten, obwohl sie ja zugegebenermaßen sowieso noch am Anfang stand. Sie verzichtete darauf, sich die Haare zu föhnen. Außerdem war da ja nicht mehr viel zu föhnen. Sie lächelte. Stefan hatte sich maßlos aufgeregt, als er ihre kurzen Haare sah. Er hatte behauptet, sie hätte nun gar nichts Weibliches mehr an sich, und auch ihre Mutter war entsetzt gewesen. Ihre Mutter vertrat die Ansicht, eine Frau habe weich und anschmiegsam zu sein, nicht nur charakterlich, sondern auch äußerlich. Ihrer Mutter zufolge waren die herausstechendsten Merkmale reiner Weiblichkeit lange, dauergewellte und kunstvoll frisierte Haare, ein perfektes Make-up und tadellose Kleidung. Dass dies nicht alles war, hatte sie noch nie verstanden. Johanna überlief eine Gänsehaut, wenn sie an die harte und unterkühlte Art ihrer Mutter dachte.
Ihr Vater war vor beinahe zwanzig Jahre an einem Herzinfarkt gestorben. Die Ärzte hatten von zu viel Stress gesprochen. Sie selbst war jedoch, genauso wie ihr Bruder, von jeher davon überzeugt gewesen, dass er letztendlich an gebrochenem Herzen gestorben war. Er hatte ihre Mutter geliebt und ihr, wie er immer scherzhaft gesagt hatte, die Sterne vom Himmel geholt. Aber sie hatte die Sterne nicht haben wollen.
Es gab Menschen in Johannas Leben, die ihr keine Luft zum Atmen ließen und sie ließ es sich auch noch gefallen – sie konnte nicht einmal sagen, warum sie es zuließ. Es wurde immer schwerer. Es gab Zeiten, in denen sie glaubte, ersticken zu müssen, und trotzdem änderte sie nichts an ihrer Lage, obwohl sie wusste, das es so nicht weitergehen konnte. Wie lange sie diesen Zustand noch ertragen konnte, wusste sie nicht, und sie verdrängte die Gedanken daran auch meist erfolgreich. Sie war schon froh, wenn sie den kleinen Freiraum, den sie sich geschaffen hatte, behalten konnte. Daran zu arbeiten, ihn auszubauen, hatte sie aufgegeben.
Ihre Gedanken wurden vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Sie zuckte zusammen. Ihr erster Impuls war, sich die Ohren zuzuhalten und so zu tun, als wäre sie nicht da. So wie ein kleines Kind, das sich die Decke über den Kopf zog und dadurch zumindest in seiner Fantasie unsichtbar wurde.
da?« Sie hielt den Hörer mit einer nassen Hand, während sie versuchte, mit der anderen das Handtuch, das sie sich um den Körper geschlungen hatte, festzuhalten.
»Na, endlich! Bist du auch mal zu Hause?«
Johanna seufzte innerlich. Der harte Klang in der Stimme der Mutter hatte zwar den Schrecken ihrer Kindheit verloren, aber beileibe nicht seine Wirkung.
»Entschuldige, Mutter, aber ich habe viel zu tun.«
»Ja, ich weiß. So etwas hat Stefan schon angedeutet. Du hättest keine Zeit für ihn gehabt, weil du so beschäftigt seist.« Die Worte klangen fast ätzend. »Bist du sicher, dass das der richtige Weg ist?«
Die Stimme ihrer Mutter klang nicht nur beleidigt, sondern vor allem anklagend. Wie sehr sie das hasste.
»Ich kann nichts dafür, wenn ich zu arbeiten habe.«
»Wenn du so weitermachst, läuft er dir noch eines schönen Tages davon.« Jetzt klang ihre Stimme noch eine Spur bissiger.
»Auch Stefan hat oft keine Zeit für mich.« Es war kaum zu glauben, aber sie war schon wieder dabei, sich zu rechtfertigen.
»Das ist ja wohl etwas anderes. Als Mann hat er sich eine Stellung im Leben geschaffen, die es ihm irgendwann einmal erlauben wird, eine Familie zu ernähren.« Es schwang so etwas wie Stolz in der Stimme der älteren Frau. »Du hingegen solltest ihm doch etwas mehr Rückhalt bieten.«
»Mutter, bitte.«
»Schon gut, du musst natürlich selber wissen, was du tust.« Da war er wieder, der leicht beleidigte Tonfall in der Stimme ihrer Mutter. Und wieder stieg das schlechte Gewissen in Johanna hoch.
»Lass uns bitte das Thema wechseln.« Das war, wie immer, Johannas letzte Rettung. Nie hatte sie den Mut, zu sich selbst zu stehen. Immer wich sie einer direkten Konfrontation mit ihrer Mutter aus und gab nach. Nie gab sie ihrer Überzeugung Ausdruck, dass ihr Leben ganz allein ihre eigene Sache war. Dafür verachtete sie sich selbst.
»Du hast lange nichts mehr von dir hören lassen.« Ihre Mutter ließ keinen Zweifel daran, was sie vom Verhalten ihrer Tochter hielt, und Johanna wusste, dass ihre Mutter dieses Machtspielchen noch lange auskosten würde.
»Es wäre nett, wenn du wenigstens nächsten Sonntag zum Essen kämst.« Ihr Tonfall wurde nun wehleidig, und im selben Moment fiel es Johanna siedend heiß ein.
»Entschuldige bitte, aber ich habe unsere Verabredung am Sonntag völlig vergessen. Ich wurde am Sonntag zum Dienst gerufen, und ...«
»Ist schon gut. Vergiss es nur nicht wieder.« Sie hatte es geschafft. Es schien fast, als könne ihre Mutter durch das Telefon hindurch das zerknirschte Gesicht ihrer Tochter sehen. Zumindest vermittelte der befriedigte Unterton in ihrer Stimme Johanna dieses Gefühl, und sie merkte, wie es sie heiß und kalt zugleich überlief. Mit einem erleichterten Seufzen legte sie den Hörer auf. Doch das Gefühl der Resignation, der Niederlage blieb.