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Sie hatte tief und traumlos geschlafen, und als sie erwachte, fühlte sie sich zuversichtlich. Heute würde sie sich die Familien der anderen Opfer vornehmen. Sie hatte keine Meldepflicht bei Diekmann, so dass es reichen würde, Markus Bescheid zu sagen.

Nach einem ausgiebigen Frühstück nahm sie sich noch einmal die Akte von Maike Behrens vor. Von Maikes Familie wusste sie nur, dass sie einen Vater hatte, die Mutter war schon vor langer Zeit gestorben. Über Geschwister gab es keinen Hinweis. Sie ging die Treppe des Mehrfamilienhauses hoch und blieb vor einer Tür stehen, auf dem ein verschnörkeltes Messingschild darauf hinwies, das Familie Behrens hier wohnte. Sie klingelte und wartete einen Moment, bis sie schlurfende Schritte hinter der Tür hörte. Doch es dauerte noch lange, bis geöffnet wurde, so dass sie annahm, erst einmal durch den Spion abschätzend beobachtet zu werden. Schließlich knirschte es im Schloss.

Ja?« Der Mann, der durch den schmalen Türspalt lugte, hatte ein hageres Gesicht und helle Augen. Er wirkte viel älter, als er den Akten zufolge tatsächlich war. Johanna zückte ihren Ausweis.

»Mein Name ist Johanna Jensen. Ich bin von der Polizei und hätte sie gern einen Moment gesprochen.«

Maikes Vater musterte sie einen Augenblick misstrauisch und öffnete dann die Tür. Er drehte sich um und ging wieder in die Wohnung zurück, so dass es an Johanna war, einzutreten und die Tür hinter sich zu schließen. Sie sah sich um. Hier fehlte eindeutig die ordnende Hand einer Hausfrau, trotzdem wirkte es gemütlich. Ein leicht modriger Geruch lag in der Luft.

»Ich habe der Polizei schon alles gesagt.« Die undeutliche Aussprache des Mannes ließ darauf schließen, dass er bereits mehr Alkohol getrunken hatte, als ihm gut tat.

»Ich weiß. Ich bin Psychologin und möchte mit Ihnen über Ihre Tochter sprechen.« Der Mann hatte ihr immer noch den Rücken zugewandt. Johanna stand abwartend da, die Hände in den Manteltaschen vergraben.

»Haben Sie das Schwein?«

»Nein, noch nicht.«

»Was machen Sie dann hier?« Er drehte sich plötzlich um und betrachtete sie feindselig. Sie hielt dem Blick stand, entgegnete aber nichts.

»Vergessen Sie es.« Der Mann drehte sich wieder um und ließ sich in seinen Sessel sinken, den er, wie man dem Müll drumherum entnehmen konnte, vermutlich schon seit Wochen nicht mehr verlassen hatte. Er machte eine vage Handbewegung. »Setzen Sie sich.«

Sie ließ sich auf die äußerste Kante eines Stuhls sinken und sah dem alten Mann fest in die Augen. Es war ein Versuch, seinen Blick festzuhalten, um so zu ihm durchzudringen.

»Herr Behrens, ich möchte mehr über Ihre Tochter wissen, um mir eine Vorstellung darüber zu machen, warum der Mörder sich gerade Ihre Tochter ausgesucht hat. Wenn ich mehr darüber weiß, haben wir eher eine Chance, ihn zu finden.«

»Sie war alles, was ich noch hatte.« Er schien sie überhaupt nicht gehört zu haben und griff mit unsicherer Hand nach einem Glas, das auf dem Tisch stand. Das Glas schien, wie alles andere in diesem Zimmer, seit langer Zeit nicht mehr gereinigt worden zu sein. Sein Lebensmittelpunkt schien sich auf diesen Raum zu beschränken.

»Herr Behrens?« Johanna senkte ihre Stimme. Es war klar, dass er sie gar nicht richtig wahrnahm. Der alte Mann schien nichts mehr wahrzunehmen. Er saß zusammengesunken in seinem Sessel und starrte auf das Glas, das er in seiner Hand hielt. In ein paar Stunden würde er sich vielleicht nicht einmal mehr daran erinnern, dass sie überhaupt da gewesen war.

»Sie war sehr lebhaft, wissen Sie.« Er lächelte leicht vor sich hin, und sein ganzes Gesicht schien verändert. Wie auch schon bei Frau Beckmann hatte Johanna das Gefühl, als würde er nach innen sehen.

»Sie hatte viel Freunde und war überall beliebt. Die Jungs haben sich um sie gerissen.« Vaterstolz schwang in seiner Stimme.

»War sie ängstlich?«

»Meine Maike?« Er lachte trocken auf. »Nein, das war sie nicht. Sie war ein tolles Mädchen. Vor zwei Jahren wollte sie unbedingt ausziehen und ihr eigenes Leben leben. Sie sagte damals, dass sie anfangen müsse, für sich selbst zu sorgen, wissen Sie? Sie wollte mir nicht mehr am Jackenzipfel hängen und meinte, auch ich müsse endlich selbstständig werden.« Bei dem Gedanken kicherte er in sich hinein. Er wirkte vollkommen verstört, und als sein Lachen verebbt war, fing er zu schluchzen an.

»Hatte sie ein eigenes Auto?«

Der Alte nickte. »Ja. Sie war ganz stolz darauf. Sie hat ihn gehegt und gepflegt. Der Wagen war ihr ganzer Stolz. Wissen Sie, sie hatte ihn sich selbst zusammengespart. Als ich etwas beisteuern wollte, hat sie gesagt: ›Nein, Papa, das will ich ganz allein durchziehen, sonst ist es nicht meiner.«‹ Er wischte sich mit der freien Hand über seine roten, ein wenig entzündeten Augen. Seine Gesichtshaut wirkte nun zerknittert und war dort gerötet, wo er mit der Hand stärker gerieben hatte. Für einen Moment brachte dies Farbe in sein aschfahles Gesicht. Dem Mann liefen Tränen über das Gesicht. Er weinte lautlos. Johanna merkte, dass sie den alten Mann mit weiteren Fragen nur quälen würde, und stand auf. Er rührte sich nicht.

»Vielen Dank, Herr Behrens. Ich finde selbst hinaus. Bitte bleiben Sie sitzen.« Ihre ausgestreckte Hand ignorierte er. Er sah sie nicht einmal.

Johanna warf sich erschöpft in ihren Schreibtischsessel und starrte für einen Moment aus dem Fenster. Der Ausblick aus dem alten Präsidium war um Klassen besser gewesen, aber dieses neue Gebäude war hochmodern. Die Wände waren allerdings immer noch sehr dünn. Sie hörte das Stimmengemurmel aus den angrenzenden Räumen. Es hörte sich wie ein Bienenschwarm an.

»Geht's?« Markus stand an ihrem Schreibtisch und stellte einen Becher Kaffee vor sie hin.

»Ich habe nicht gewusst, wie anstrengend es ist, mit Angehörigen zu sprechen. Du bist ein Feind. Sie hassen dich, und am liebsten wollen sie dich schlagen. Sie wollen keine Hilfe, verurteilen dich aber, wenn du dann nichts tun kannst.«

»Willkommen in der Realität.«

»Langsam frage ich mich, ob ich mit meinen gestörten Polizisten nicht besser fahre? Wer weiß denn schon, wo die reale Welt wirklich ist? Beginnt sie erst hier? Ist das nicht zu grausam? Ich kann nichts tun, nicht einmal Tränen trocknen oder Trost spenden.« Sie seufzte und begann, wie immer, wenn sie nervös war, an der Haut ihres rechten Daumens zu knabbern.

»Hör auf. Uns allen ist es zuerst so gegangen. Hast du denn etwas herausfinden können.«

»Nein. Wir sind auf dem falschen Dampfer. Irgendetwas ist merkwürdig. Ich kann aber nicht genau sagen, was. Trotzdem habe ich den Eindruck, als würden die Einzelteile in diesem Fall nicht zusammenpassen. Es ist, als würde ich ständig an ein richtiges Puzzleteil ein falsches anlegen.«

Das Knabbern an ihrem Daumen wurde heftiger.

»Das glaubt Diekmann auch. Er hat eine Besprechung anberaumt. Unnötig zu sagen, dass du daran teilzunehmen hast. Ich schätze, er will, dass du die Hosen runterlässt.« Er lächelte sie spöttisch an, als er ihren wütenden Blick sah. »Komm schon, so schlimm wird es nicht werden. Er hat eine Theorie und will sie mit uns durchsprechen. Nicht mit uns allen, nur mit den Leitern der einzelnen Gruppen. Und mit dir.«

Sie richtete sich auf. »Mit mir? Was ist los mit ihm? Ist er über Nacht ein besserer Mensch geworden?«

»Ein noch besserer?« Diekmanns Stimme von der Tür her klang betont amüsiert.

»Oh, Scheiße.« Johanna stieß sich vom Tisch ab und schwang mit ihrem Sessel wieder zum Fenster herum. »Das ist nicht mein Tag.«

»Ich will mit Ihnen reden.«

Sie drehte sich um und sah gerade noch, wie Markus die Tür schloss.

»Ach?« Nicht gerade geistvoll, aber das war das Einzige, was ihr gerade einfiel.

»Ich habe mich über Sie erkundigt. Sie scheinen kein üblicher Seelenklempner zu sein.«

Spöttisch hob sie die Augenbrauen.

»Ich bin deswegen zwar nicht gerade ihr größter Fan, aber ich denke, zusammen könnten wir unter Umständen weiterkommen.« Er ließ keinen Zweifel daran, dass sich seine Meinung über sie nicht wesentlich geändert hatte.

»Was schlagen Sie vor?« Johanna hatte sich abwartend zurückgelehnt. Es machte ihr beinahe Spaß, zuzusehen, wie Diekmann vor ihrem Tisch stand und innerlich mit sich rang. Sollte er doch stehen bleiben. Sie zumindest würde ihm keinen Platz anbieten.

In dem Moment setzte sich Diekmann, als hätte er ihre Gedanken gelesen, und öffnete die Knöpfe seines Jacketts. Er wirkte entspannt und schien mit Befriedigung festzustellen, dass er sie ein wenig aus der Fassung brachte. Johanna lehnte sich vor und faltete die Hände auf der Tischplatte, wobei sie sich bemühte, professionell zu wirken. Freiwillig würde er keine Zugeständnisse machen, so viel war klar.

»Wir sollen uns gegenseitig auf dem Laufenden halten. Vielleicht sollten wir auch einmal gemeinsam darüber nachdenken, welche Eigenschaften ein Mann haben muss, der abends rausgeht, um Frauen zu töten.«

»Gut.« Sie sprach gedehnt und schürzte ein wenig die Lippen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Jetzt galt es, Zeit zu gewinnen. Für sie war die Kontroverse mit Diekmann nichts anderes als ein Kriegsschauspiel, das nach taktischen Gesichtspunkten organisiert werden musste. Sie würde jedenfalls nicht, wie Markus es formuliert hatte, »die Hosen runterlassen«. Sie würde sich, wenn nötig, so teuer wie möglich verkaufen.

»Also gut. Warum eigentlich nicht. Wann fangen wir an?«

»Lassen Sie uns mit den Spielchen aufhören. Ich denke, das wollen wir eigentlich beide nicht, oder?«

Er lächelte sie leicht an, seine Augen blieben jedoch kalt. Johanna seufzte. Trotz allem hatte er Recht. Genau genommen saßen sie beide im selben Boot. Beide mussten sie die Anwesenheit des anderen ertragen. Ihm hatte man von oben die Pistole auf die Brust gesetzt, und ihr selbst hatte man eine Chance gegeben, die man ihr so schnell nicht wieder bieten würde, wenn sie sie jetzt nicht zu nutzen wusste. »Sie haben Recht. Was schlagen Sie also vor?«

»Ich denke, wir sollten uns zumindest einig sein. Wie wäre es, wenn wir demnächst eine Art Brainstorming veranstalten würden? Nur wir beide?«

Johanna lehnte sich, immer noch aufs Äußerste gespannt, zurück und legte die Hände flach vor sich auf den Tisch.

»Dann schießen Sie mal los. Was haben Sie bisher herausgefunden?« Sie war sich noch immer nicht im Klaren darüber, was er tatsächlich von ihr wollte und spielte ihm den Ball zu. Diekmanns Gesicht wurde ernst.

»Wie Sie wissen, nicht sehr viel. Ich habe als Leiter der Mordkommission naturgemäß ständig mit Morden zu tun, aber ich muss gestehen, dass ich mit Serienmorden nicht sehr viel Erfahrung habe. Und gerade in diesem Fall scheint nichts normal zu sein.«

Er machte eine Pause und blickte sie unverwandt an.

»Bei Serienmorden ist nichts normal.« Sie stieß sich leicht vom Tisch ab und schwang mit dem Stuhl ein wenig zur Seite. »Serienmörder sind Perfektionisten. Sie lernen mit jeder Tat und machen meist keinen Fehler zweimal. Sie sind von Tat zu Tat mehr und mehr von sich eingenommen. Irgendwann fangen einige sogar an, Spuren zu legen, in dem Glauben, dass man sie nie erwischen wird. Einige sind irgendwann der Meinung, sie seien Gott, und das ist dann der Zeitpunkt, an dem sie beginnen, in allem, was sie tun, eine göttliche Mission zu sehen.«

»Besteht Ihrer Meinung nach die Möglichkeit, dass Serienmorde nur als Mittel zum Zweck dienen und es somit genau genommen gar keine echten Serienmorde wären?« Er sah sie fest an. Beinahe schien es jetzt so, als würde er Johanna ernst nehmen und Wert auf ihre fachliche Meinung legen. Das machte sie noch misstrauischer.

»Sie denken an Spengler, habe ich Recht?« Johanna seufzte. Er hatte Recht, man musste alle Eventualitäten in Betracht ziehen. Sie musste den Faden weiterspinnen, zumindest vorerst.

»Schon möglich. Es gibt, wenn auch selten, Fälle, in denen viele Menschen umgebracht werden, um einen anderen Mord zu verschleiern. Den Mord, auf den es dem Mörder tatsächlich ankommt.«

»Frau Spenglers Lebensversicherung ist nicht ganz unerheblich.«

»Reicht es aus, um damit den Rest seines Lebens sorgenfrei zu leben?«

»Wenn man sparsam ist, vielleicht.« Wieder stahl sich ein leises Lächeln auf Diekmanns Gesicht.

»Wäre, wie gesagt, durchaus möglich. Der Täter müsste dann aber von außerordentlicher Intelligenz sein. Die ganze Sache ist bisher zu perfekt gelaufen. Ist Spengler das?«

Johanna sah ihr Gegenüber zweifelnd an.

»Das ist die Frage.« Diekmann stand auf und schob die Hände in die Hosentasche. »Hat die Auswertung der Tatortfotos Sie schon weitergebracht?«

»Nein«, die Psychologin schüttelte den Kopf, »unser Täter hat alles sehr schön konstruiert und kleine Kunstwerke geschaffen. Es gibt keine äußeren Verletzungen. Wäre Spengler da nicht anders vorgegangen? Hätte er die Opfer nicht einfach nur, sagen wir, abgeschlachtet? Um die Tat, als die Tat eines Irren darzustellen?« Johanna stand jetzt ebenfalls auf und wandte sich zum Fenster. Sie spürte seinen Blick in ihrem Rücken brennen.

»Kommt darauf an.« Er überlegte kurz. »Haben Sie die Bilder hier?«

»Nein, die liegen zu Hause. Aber ich kann sie morgen mitbringen.«

»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir sie noch einmal gemeinsam durchgingen? Ich würde Ihnen ja gerne meine Abzüge zur Verfügung stellen, aber ich fürchte, dann müssen wir Aktenordner wälzen, sie sind nämlich alle schon in die Ermittlungsakte eingeklebt.«

Johanna drehte sich um. Er stand mitten im Raum und hielt den Kopf gesenkt. Dabei sah er sie von unten herauf an. Geballte Männlichkeit lag in seinem Blick, und diese Erkenntnis jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Ihre Nackenhaare sträubten sich. Abwechselnd wurde ihr heiß und kalt. Schnell wandte sie sich wieder um und starrte aus dem Fenster. Alles, nur nicht das.

***

In seiner Wohnung angekommen, ging er sofort zum Kühlschrank. Noch ehe er sich die Jacke ausgezogen hatte, riss er fast wütend die Bierdose auf.

Ein ziemlich hässlicher Tag lag hinter ihm. Nicht nur, dass er vier ungeklärte Mordfälle auf dem Tisch hatte, es keine Spur eines Täters gab, dafür aber eine zickige Psychologin, nein, er hatte sich auch noch eine Gardinenpredigt vom Leiter des Landeskriminalamtes anhören müssen. Ein lächerlicher kleiner Kerl, der sich, um seine schwindende Haartracht zu verstecken, seine fast schulterlangen Haare in dünnen Strähnen über die aufkommende Glatze auf die linke Seite kämmte. Er war aufgeschwemmt, bleich und trug stets ein gezwungen joviales Lächeln zur Schau. Wenn er einmal anfing zu reden, kannte er keine Hemmungen mehr und sprach ohne Punkt und Komma. Diekmann nahm einen tiefen Schluck aus seiner Dose. Von diesem Fatzken hatte er sich Vorhaltungen machen lassen müssen über die Stimmung in der Öffentlichkeit, das Ansehen der Polizei im Allgemeinen und das der Mordkommission im Besonderen. Martens hatte Verständnis für Diekmanns Lage geheuchelt und hatte angefangen, von seiner Zeit als ermittelnder Polizist zu erzählen. Wenn Diekmann sich recht erinnerte, hatte Martens zwanzig Jahre lang Diebstähle bearbeitet und war dann durch verschiedene glückliche Umstände in die Vorstandsetage und schließlich zum Leiter des Landeskriminalamtes aufgestiegen – oder besser gesagt mutiert; sechs Jahre war das inzwischen her. Zum damaligen Zeitpunkt war es keine große Kunst gewesen, auf der Karriereleiter große Sprünge zu machen, zumal der frühere Chef das Handtuch geworfen hatte und sonst keiner den Posten haben wollte, der allgemein als eine Art Schleudersitz betrachtet wurde.

Martens, den Mutter Natur in Sachen Schönheit und Intelligenz stark benachteiligt hatte, witterte seine große Chance, aufzusteigen. Und der Senat war letztlich froh gewesen, in Martens einen Dummen gefunden zu haben, der keine großen Forderungen stellte, dem es reichte, hin und wieder im Rampenlicht zu stehen, und der ansonsten versuchte, eine graue Eminenz zu werden und dies tunlichst auch zu bleiben. Was wollte man schon mehr?

Diekmann fluchte. Und dann hatte man ihm auch noch dieses Weib vor die Nase gesetzt. Martens hatte nicht versäumt, ihn daran zu erinnern, dass er sich mit ihr arrangieren müsse, da er andernfalls seinen Hut nehmen müsste. Diekmann wusste, was das bedeutete: Man würde ihm in so einem Fall einen warmen und trockenen Posten anbieten, der ebenfalls in der Vorstandsetage zu finden war. Weitab vom Geschehen und deshalb vollkommen realitätsfern. Mit Polizeiarbeit hatte das dann nur mehr wenig zu tun. Das wollte er auf keinen Fall, und Martens wusste das nur zu gut. Wenn er sich mit Johanna nicht arrangierte, würde er aus dem aktiven Dienst ausscheiden. Der Fall war also ganz einfach: Es blieb ihm nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen.

Er warf sich aufs Sofa, drückte den Wiedergabeknopf seines Anrufbeantworters und lockerte sich mit einem Ruck die Krawatte. Er zögerte kurz, doch dann riss er sie sich vom Hals. Ein leichtes Brennen im Nacken kündigte beginnende Kopfschmerzen an. Eigentlich würde sie gar nicht so schlecht aussehen, wenn da nicht die ständig herabgezogenen Mundwinkel wären. Sie wirkte verbittert und total frustriert. Und wenn er etwas hasste, dann waren es Menschen, die die Schuld ihres eigenen Unglücks bei anderen suchten. Ständig war sie kampfbereit, darauf programmiert, ihm Paroli zu bieten. Er hatte schon überlegt, ob er es mit einer Männerhasserin oder gar mit einer Lesbe zu tun hatte.

Der lang gezogene Pfeifton bedeutete, dass keine weitere Nachricht auf seinem Anrufbeantworter war. Verdammt, er hatte überhaupt nicht zugehört. Er drückte den Knopf erneut und versuchte sich auf die Nachrichten zu konzentrieren.

Eine Nachricht kam von seinem Versicherungsagenten, der sich mit ihm über die neuesten Bestimmungen bei seiner Hausratversicherung unterhalten wollte, und sein Zahnarzt mahnte die überfällige Rechnung an. Eine freundliche und sehr sexy wirkende Telefonstimme wollte ihn dazu überreden, eine Zeitung zu abonnieren, und die maulige Stimme seiner Freundin erinnerte in daran, dass er vergessen hatte, sie anzurufen.

Er hatte keineswegs vor, die Ermittlungen dieser vermaledeiten Psychologin zu überlassen, auch nicht zur Hälfte, aber irgendwie musste er sie bei Laune halten. Er nahm den letzten Schluck aus der Bierdose und beschloss, sich noch eine zweite zu holen. Auf dem Weg in die Küche zog er das Jackett aus und warf es achtlos über die nächste Sessellehne. Wenn er ehrlich war, ging ihm diese Frau noch mehr auf die Nerven, als er gedacht hatte. Sie brachte den ganzen Laden durcheinander und hatte es anscheinend darauf abgesehen, seine Autorität bei seinen Mitarbeitern zu untergraben. Nur um zu demonstrieren, dass sie ihren Job beherrschte, hatte sie versucht, ihn bloßzustellen.

Er stritt ja gar nicht ab, dass sie in ihrem Beruf fähig war, aber eine Mordermittlung sollte nun einmal Kriminalbeamten vorbehalten bleiben. Verwundert schüttelte er den Kopf und blieb regungslos vor dem Kühlschrank stehen. Er konnte einfach nicht glauben, dass er selbst schon so dachte. Er hatte viel von Profiling gehört und wusste, dass dies oft eine Hilfe war, aber diese Frau schien ihm hierfür nicht die Richtige zu sein. Warum konnte er auch nicht sagen.

Zum Teufel damit. Er riss die Kühlschranktür auf und holte sich eine neue Dose heraus.

***

Johanna lenkte an diesem Morgen eher unsicher ihre Schritte in ihr neues Büro. Der plötzliche Sinneswandel Diekmanns verunsicherte sie, aber sie gestand sich verschämt ein, dass sie sich heute mit ihrem Äußeren ein wenig mehr Mühe gegeben hatte. Sie trug zwar Jeans und T-Shirt, aber das Shirt lag eng an, und sie hatte etwas Schminke aufgetragen. Nicht viel, aber sie wusste, dass sie gut aussah.

Sie schlich, die Mappe mit den Tatortfotos eng an die Brust gedrückt, in ihr Büro. Irgendwie ahnte sie, dass mehr als Freundlichkeit und der Wunsch nach Harmonie hinter Diekmanns Sinnesänderung stecken, aber sie beschloss, keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden. Sie würde versuchen, ihren Job so gut wie möglich zu machen, auch wenn er ihr weiterhin Steine in den Weg legte. Und dass er das nach wie vor tat, dessen war sie sich sicher, auch wenn er jetzt etwas subtiler zu Werke ging. Auch in ihren schönsten Wunschträumen konnte sie sich nicht vorstellen, dass er tatsächlich vorhaben könnte, eine Allianz mit ihr zu bilden. So etwas kam nur in den Büchern ihrer Lieblingsautorin vor. Trotz all ihrer Vorbehalte ermahnte sie sich, nicht ständig nach versteckten Angriffen seinerseits zu suchen. Sie wusste selbst, dass sie oft überempfindlich reagierte, und obwohl sie Psychologin war, war sie selten in der Lage, objektiv über Menschen, mit denen sie beruflich oder privat zu tun hatte, zu urteilen. Erst recht nicht, wenn es sich um Menschen wie Diekmann handelte.

In ihrem Büro legte sie ihre Jacke ab und schnappte sich die Kanne ihrer Kaffeemaschine, die sie sich aus ihrem eigenen Büro in der psychologischen Ambulanz mitgebracht hatte. Der Gang über den Flur zur Teeküche ähnelte einem Spießrutenlauf. Sie kam an den offenen Büros vorbei. Die einen gaben vor, sie überhaupt nicht zu bemerken, die anderen starrten ihr dafür umso penetranter hinterher. Sie sah das Misstrauen, die Überheblichkeit in ihren Augen, aber keiner sprach sie an. Sie lächelte mal grüßend in diese Richtung, mal in jene, aber letztlich war sie froh, als sie mit der Kanne voller Wasser wieder in ihrem Reich angekommen war. Kaum hatte sie die Kaffeemaschine angestellt, klopfte es.

»Kann ich reinkommen?« Diekmann schob den Kopf durch den Türspalt und sah sie lächelnd an.

»Sicher. Nehmen Sie Platz.« Sie selber blieb unschlüssig in der Mitte des Zimmers stehen und hörte der Kaffeemaschine bei der Arbeit zu. Sie röhrte und stöhnte, als wäre sie ein Mensch, der in den letzten Zügen lag. Oder eine werdende Mutter in den Wehen. Sie machte sich im Geist eine Notiz, die Maschine beim nächsten Mal zu entkalken.

»Bekomme ich auch einen?« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung der Maschine.

»Klar.«

Auf Johannas Schreibtisch herrschte Chaos. Mit klammen Fingern zog sie die Mappe mit den Bildern hervor.

»Hier sind sie.« Sie hielt sie ihm unschlüssig entgegen.

»Ich hole mir noch schnell meinen Kaffeebecher.« Diekmann verschwand wieder, und sie ließ die Mappe sinken. Da war es wieder, dieses Gefühl. Klamme Finger, ein dünner Schweißfilm auf der Stirn, zittrige Hände. Hinzu kam noch, dass sie sich kaum traute, ihm in die Augen zu sehen. Sie kam sich vor wie ein pubertierender Teenager, der den beliebtesten Jungen in der Schule anhimmelte.

»Sehen Sie nicht so grimmig in die Welt.« Er kam schneller zurück als gedacht. Johanna strich sich eine imaginäre Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte verlegen.

»Ich bin gar nicht grimmig, nur noch nicht ganz wach. Mit Milch?«

»Bitte?« Er runzelte die Brauen und sah sie verständnislos an. »Der Kaffee. Trinken Sie ihn mit Milch?«

»Nein, danke. Ich trinke ihn schwarz.«

»Gut. Ich auch, deshalb habe ich auch keine Milch.« Sie hatte versucht, mit einem Witz ihre Verlegenheit zu überspielen. Gleichzeitig wollte sie Diekmann damit zeigen, dass sie auf sein gestriges Friedensangebot einging. Den Witz schien er jedoch nicht verstanden zu haben, zumindest ging er nicht näher darauf ein. Sie hätte sich selbst ohrfeigen können; warum legte sie nur diese Demut in ihr Verhalten?

»Dann lassen Sie mal sehen.« Er rieb die Handflächen aneinander und sah sie erwartungsvoll an.

Johanna reichte ihm einen Becher mit dampfendem Kaffee und nahm sich dann selbst einen. Sogleich fühlte sie sich eine Spur sicherer.

»Ich denke, wir breiten einfach alles auf dem Fußboden aus. Wenn die Fotos nebeneinander liegen, haben wir vielleicht eine Möglichkeit, Vergleiche anzustellen.«

Sie nahm den großen Umschlag, in dem sie die Bilder fein säuberlich verwahrt hatte und legte ihn auf den Boden. Sie selbst setzte sich im Schneidersitz davor.

»Wir sollten systematisch vorgehen. Die Bilder sind aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen, und wir sollten uns vielleicht zuerst die Bilder genauer ansehen, die die Umgebung abdecken.«

Johanna suchte die entsprechenden Fotos heraus und legte sie alle der Reihe nach hin. Vier verschiedene Orte waren darauf zu sehen, alle im dunstigen Morgenlicht aufgenommen. Sie wirkten unwirklich, fast schon ein wenig gespenstisch.

»Fällt Ihnen etwas auf?« Sie wandte Diekmann den Blick zu; er hatte sich neben sie gehockt und stützte sein Kinn in eine Hand. Von seinen Augen waren nur mehr kleine Schlitze zu sehen. Er dachte angestrengt nach.

»Nein, eigentlich nichts. Sollte es?«

»Ich weiß nicht. Ich habe es schon mit der Lupe versucht, aber es ist einfach nichts Auffallendes zu entdecken. Versuchen Sie es.« Sie reichte ihm die Lupe. Nach einiger Zeit ließ Diekmann diese wieder sinken und schüttelte den Kopf.

»Nichts. Aber das ist mir schon vor Ort aufgefallen. Keine Spuren. Die Reifen- oder Fußspuren, die noch da waren, waren durch die Feuchtigkeit unbrauchbar.« Er rieb sich das Kinn mit der Hand. Es schien, als versuche er sich die Szenerie, die sich ihm damals vor Ort geboten hatte, ins Gedächtnis zurückzurufen.

»Machen wir weiter.« Johanna sammelte die Bilder ein und ersetzte sie durch Aufnahmen, die den Fundort der Leichen zeigten. Die Leichen waren zum Glück nur teilweise sichtbar. Aus dieser Serie gab es viele Fotografien, die, sofern man sie in die richtige Reihenfolge brachte, fast so etwas wie ein Puzzle ergaben.

»Wie ist es hiermit?«

Diekmann nahm die Lupe wieder zur Hand. »Die Taschentücher und Zigarettenkippen, die wir hier gefunden haben, hatten nichts mit dem Fall zu tun. Sie lagen dort, laut Laboruntersuchungen, schon länger als die Leichen. Wir haben sie zwar eingesammelt und asserviert, als Spuren kommen sie aber nicht in Betracht.«

»Sehen sie.« Johanna deutete mit dem Zeigefinger auf verschiedene Stellen. »Es scheint nichts zu fehlen. Die Ringe sind noch an den Fingern, Ohrstecker sind auch noch vorhanden. Handtaschen, Rucksäcke, Ausweise, alles noch da. Er scheint also keine Souvenirs mitgenommen zu haben.« Sie hatte sich vornüber gebeugt. Das Shirt, das sie trug, war ein wenig hochgerutscht und ließ einen Streifen nackter Haut aufblitzen.

»Und das heißt?« Diekmann hob den Kopf und sah Johanna konzentriert an. »Die meisten Serienmörder behalten irgendwas zurück. Schlüpfer, Schmuck, Haarsträhnen, irgendetwas, das sie aufbewahren. Dadurch können sie ihre Tat immer und immer wieder durchleben. Der Kick kommt also bei Bedarf immer wieder – und unser Mann hier scheint diese Art von Kick anscheinend nicht zu brauchen.«

»Und um Sex oder Macht scheint es ihm auch nicht zu gehen. Worum geht es ihm also dann?« Diekmann ließ sich gegen die Wand sinken und faltete die Hände locker zwischen den Knien.

»Was, zum Henker, will er?«

»Sehen Sie weiter.« Johanna legte eifrig neue Fotos aus. Diekmann sah erstaunt, dass sich ihr Gesicht vollkommen verändert hatte. Ihre Wangen schimmerten rosig und ihre Mundwinkel zeigten nicht mehr, wie sonst, nach unten. Sie schien ganz in ihrem Element zu sein, als sie die Fotografien der Leichen betrachtete. Keine wies Spuren von Gewaltanwendung auf, keine, bis auf ...

»Schauen Sie sich Maike Behrens an.« Johannas Stimme klang fast ein wenig triumphierend. »Sie weist Fesselungsspuren auf, die nach Auskunft der Gerichtsmedizin vor ihrem Tod entstanden sind.« Sie klopfte auf das Bild, als wolle sie diese Bemerkung noch unterstreichen.

»Stimmt.« Diekmann nickte zustimmend. »Das ist uns auch aufgefallen. Was bedeutet das Ihrer Meinung nach?«

»Wir müssten noch einmal klären, wann Maike genau verschwand. Ich vermute, dass der Mörder sie schon früher entführte und erst getötet hat, kurz bevor er die Leiche nach Rissen schaffte.«

»Aber warum?«

»Ich könnte mir vorstellen, dass er das Gefühl hatte, die Polizei reagiere nicht schnell genug und er folglich zwei Tote auf einmal präsentierten musste. Er könnte also eines seiner Opfer entführt und so lange am Leben gehalten haben, bis er sie brauchte.«

»Klingt plausibel. Aber damit wird das Motiv immer unklarer.« »Es geht noch weiter.« Johanna legte die ersten Fotos wieder auf. Sie arbeitete zügig und rasch, so als hätte sie jeden Handgriff Hunderte von Malen geprobt.

»Irgendetwas muss Ihnen doch auffallen. Was sind das für Orte?« Ihre Stimme klang ungeduldig, so als könne sie seine Begriffsstutzigkeit nicht nachvollziehen.

»Nun.« Diekmann strich sich über das Kinn und sprach langsam weiter, »ich habe mich bei den zuständigen Polizeirevieren erkundigt. Es sind alles Orte, an denen nachts nicht allzu viel Streife gefahren wird. Aus welchen Gründen auch immer.«

»Und tagsüber?« Sie betonte jedes Wort und sah ihm aufmunternd, fast beschwörend in die Augen. Er sah sie erst verständnislos an, dann schien der Groschen langsam zu fallen.

»Sie haben Recht, es sind alles Orte, die tagsüber stark frequentiert werden. Der Kinderspielplatz ist voller Mütter mit ihren Kindern, die Kirche voller Gläubiger, Stadtpark und ›Willkomm-Höft‹ überlaufen von Spaziergängern. Das kann kein Zufall sein, oder?« Ein Teil ihrer Aufregung hatte sich nun auch auf ihn übertragen.

»Nein, ich denke nicht.« Ihrem Blick war zu entnehmen, dass er richtig lag, und zum gleichen Ergebnis gekommen war wie sie.

»Was glauben Sie?«

»Schwer zu sagen, es ist nur eine Hypothese. Aber es sind alles, wie Sie schon sagten, Orte, an denen das Leben pulsiert. Vielleicht will er uns damit zeigen, dass diese Frauen plötzlich und ohne Vorwarnung mitten aus dem Leben gerissen wurden. Ich schätze, darin könnte die Botschaft stecken, die wir noch entschlüsseln müssen.«