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Das Gesicht im Spiegel lächelte zufrieden.

Die Meldung in der Zeitung über die vierte Frauenleiche war sehr amüsant gewesen. Die Köpfe würden rauchen, das Unverständnis wurde bestimmt immer größer. Sie alle wiegten sich in Sicherheit, waren der Meinung, die Morde geschahen nach einem speziellen Schema, aber nein, so einfach wollen wir es ihnen ja nicht machen. Die Augen verfolgten im Spiegel das Nicken des Kopfes. Ja, jetzt würden sie reagieren, jetzt müssten sie an die Öffentlichkeit gehen. Der Kopf neigte sich ein wenig zur Seite. Vor allen Dingen SIE. Sie, die Einzige, um die es ging.

Sie hatte ja sooo schön ausgesehen. Das Bild in der Zeitung war wirklich sehr hübsch, auch wenn sie darauf sehr ernst wirkte. Ja, oder vielleicht gerade deshalb. Also, hatten sie sie endlich geholt. Helfen sollte sie! Aber hatte sie jemals geholfen? Sollte sie nicht viel eher zerstören, so wie sie es schon einmal getan hatte?

Der Kopf im Spiegel drehte sich hin und her. Nein, das war jetzt egal. Doch plötzlich wurde das Gesicht bei dem Gedanken an das letzte Opfer ein wenig traurig. Das Opfer für Gerechtigkeit als Bild der ewigen Rache und Vergeltung.

Die Sache mit den gefesselten Händen war eigentlich sehr bedauerlich gewesen, aber als die Betäubung nachgelassen hatte, musste man doch sicher sein, dass sie keinen Blödsinn machte, oder? Und schließlich musste sie ja auch noch eine Weile am Leben bleiben, nicht wahr? Es hatte nun mal keine andere Möglichkeit gegeben. Punkt. Außerdem war sie gut versorgt worden. Einmal war sogar der Pizzaservice gekommen. Im Spiegel hob sich eine weiße Hand und legte sich über den Mund, um das Kichern zu ersticken. Aber, na ja. Die Schultern im Spiegel zuckten und das Lächeln wurde sanfter, verträumter.

In der ersten Reihe zu sitzen, war doch einfach wunderbar. Wie Marionetten konnte man sie bewegen, ihnen einflüstern, was sie als Nächstes tun sollten. Und wenn sie nicht gehorchten, dann musste eben wieder eine her. Und das alles war IHRE Schuld. Das Lächeln wurde grimmiger, aber auch fröhlicher. Es machte ja so einen Spaß! Und nun war sie ja da, und das war alles, was zählte.

Die Arme im Spiegel breiteten sich aus, der Kopf sank in den Nacken. Freiheit!

Freiheit im Denken, im Handeln.

In Freiheit leben!

***

Sie war müde und zufrieden. Es war diese Art Müdigkeit, die sich einstellte, wenn man zwölf Stunden lang ohne Unterbrechung seine Wohnung renoviert hatte oder den ganzen Tag von einem Termin zum nächsten gehetzt wurde. Es war kein bleiernes Gefühl, sondern eher angenehm, man wusste, dass man einiges geleistet hatte. Der Gedanke an das Bett, einen heißen Kakao und ein gutes Buch vor dem Einschlafen waren wirklich verlockend. Sie war zufrieden mit sich. Es schien, als habe sie Diekmann zwar nicht überzeugen, doch sich ihm zumindest auf dienstlicher Ebene nähern können. Ihn zu überzeugen bedurfte wahrscheinlich mehr, als jeder normal Sterbliche leisten konnte. Wenn sie eine These aufgestellt hätte, rausgegangen wäre und den Täter in Handschellen gebracht hätte, hätte ihn das zwar nicht überzeugt, aber zumindest beeindruckt.

Es wurde Zeit, dass wieder mehr Humor Einzug in ihr Leben hielt. Die letzten zwei Jahre mit Stefan hatten Spuren hinterlassen. Zu Anfang war es okay gewesen, aber dann? Wann hatte es angefangen? Er hatte immer mehr abgehoben, und sie hatte sich immer mehr zurückgezogen. Es war eben auf einmal nicht mehr okay. Okay? War das der richtige Ausdruck für eine funktionierende Beziehung? Allein schon darüber nachzudenken, war ja wohl alles andere als okay. Sie hatte ihn auf einer Party kennen gelernt, so einer Art Yuppieparty, die eine Freundin von Johanna gegeben hatte. Stefan war ein Bekannter ihrer Freundin gewesen, womit sie im selben Boot gesessen hatten –charmant war er gewesen, jungenhaft und sehr unterhaltsam. Alles andere ging irgendwie wie von selbst. Man lachte zusammen, man ging essen, man verliebte sich, man ging miteinander ins Bett. Nicht direkt in dieser Reihenfolge, aber immerhin. Eine Zeit lang ging alles gut, dann lachte man nicht mehr so häufig, gegessen wurde zu Hause, an Verliebtheit wurde kein Gedanke mehr verschwendet und der Sex wurde zur Routine, wie der Gang zur Toilette. Mitleid regte sich in ihr. Ausnahmsweise kein Selbstmitleid, eher ein leichtes Bedauern, weil sie davon ausging, dass es Stefan möglicherweise auch so ging. Sie hatte sicherlich auch Fehler gemacht, sie wusste zwar nicht so genau welche, aber irgendwo war auch bei ihr etwas schief gelaufen. Die letzten Treffen und Telefonate mit ihm waren ihr zunehmend auf die Nerven gegangen, und jedes Mal, wenn sie sich trennten, atmete sie erleichtert auf. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich nicht mehr viel zu sagen hatten und wenn sie miteinander sprachen, dann redeten sie aneinander vorbei.

Vielleicht sollte sie ihn anrufen, mit ihm reden. Sie stand auf und suchte in den Schubladen nach Streichhölzern. Ein wenig Kerzenlicht könnte nicht schaden. Sie fand ein Feuerzeug mit einem »Herrmanns Aus- und Umzüge«-Aufdruck; die Nummer war bereits vom vielen Gebrauch unleserlich geworden. Schnell suchte sie ein paar Teelichter zusammen, die sie überall in ihrem Wohnzimmer verteilt hatte. Nachdem sie beinahe mal einen Zimmerbrand verursacht hatte, hatte sie festgestellt, dass diese Art der romantischen Beleuchtung nicht halb so lebensgefährlich war wie richtige Kerzen. Die Minikerzen ersoffen eher in flüssigem Wachs, als dass sie die Wohnungseinrichtung in Flammen aufgehen ließen.

Sie dimmte das Licht ein wenig und griff nach dem Telefon. Zu ihrer Schande musste sie sich eingestehen, dass sie Stefans Telefonnummer nicht mehr richtig zusammenbekam, da sie schon ewig gespeichert war. Sie drückte die Kurzwahl und lauschte den rasanten Wähltönen im Hörer. Schon nach dem zweiten Klingeln hob er ab.

»Hi, wie geht es dir?« Ihre Stimme klang so weich, wie frische Hundescheiße, in die sie heute getreten war. Dieser Vergleich brachte sie wieder zum Kichern.

»Was ist so lustig?« Stefans Stimme hörte sich teils belustigt, teils ein wenig beleidigt an.

»Schon gut, ich wollte nur mal wieder deine Stimme hören.«

»Gut. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen. Zuletzt habe ich vor drei Tagen von dir gehört, und da warst du recht kurz angebunden.«

Es klang ausnahmsweise nicht vorwurfsvoll. Eher erstaunt.

»Tut mir Leid. Ist das wirklich schon so lange her? Meine Mutter hat uns am Sonntag zum Essen eingeladen, wie sieht's aus?«

»Warum nicht? Sehen wir uns vorher noch?«

»Wie wäre es mit morgen?«

»Abends? Soll ich zu dir kommen?«

»Ja, sicher. So gegen acht?«

»Okay. Bis dann.« Er hauchte einen Kuss durch das Telefon.

»Bis dann.« Sie hauchte zurück. »Ich liebe dich.« Es klang etwas hohl, so als hätte sie es nicht selbst gesagt, aber schließlich sagte sie das immer. So war es in ihrem Leben immer gewesen. Sie konnte sich kaum an eine Phase ihres Lebens erinnern, in der sie keine Kompromisse eingegangen war. Sie hatte gelernt, zurückzustecken vor einer Mutter, die ihr bis heute keinen vernünftigen Grund genannt hatte, warum sie überhaupt Kinder bekommen hatte. Johanna dachte wieder an die langen Tage, an denen ihr Vater nicht zu Hause gewesen, sondern irgendwo in der Welt herumgereist war, um Geschäfte zu tätigen. Diese Tage waren erfüllt gewesen von Stille und von einer Kälte, die man kaum noch wahrnahm, weil man sie kannte, die aber trotz allem fast körperlich schmerzte. Ohne ihren Bruder wäre alles noch schlimmer gewesen. Sie dachte an die ewige Gegenwart ihrer Mutter; ihre Mutter, die sie auch heute noch zusammenzucken ließ, wenn sie wusste, dass irgendetwas das Missfallen dieser unnahbaren Frau erregte. Angesichts dieser starken Persönlichkeit blieb der eigene Wille auf der Strecke und verschmolz mit dem Wunsch nach Freiheit.

Aber es war schon okay.

»Hallo, meine Süße.« Markus hatte sie schon erwartet und drückte ihr einen feuchten Kuss auf die Wange. Das von Flo ausgesuchte Rasierwasser umwölkte ihn wie ein unsichtbarer Schal, und Johanna begann unwillkürlich in der Luft herumzuschnüffeln.

»Was ist los? Ich habe gehört, ihr habt euch gestern nicht zerfleischt, und das, obwohl ihr über eine Stunde allein in einem Raum wart? Hinter verschlossenen Türen, ohne Sekundanten?« Er lächelte sie spitzbübisch an.

»Was soll das?« Johanna blinzelte kampflustig in Markus' Richtung.

»Beruhige dich.« Markus lachte und drückte sie kurz. »Ich meine, es ist ein offenes Geheimnis, dass Diekmann ein freundliches Gesicht machte, als er nach einer Besprechung mit dir dein Büro verließ.«

»Ach, werde ich etwa abgehört? Oder sind Spitzel auf uns angesetzt? Werden hier Wetten abgeschlossen?« Sie lächelte. Der Tag hatte zwar gerade erst begonnen, aber für ein Lächeln war es eigentlich nie zu früh. »Jetzt mal im Ernst. Wie läuft es zwischen euch?« Markus sah ihr forschend in die Augen, so, als wolle er in ihrem Inneren lesen.

»Es war okay.« Langsam ging es ihr auf die Nerven. Es schien, als wäre es ihr einziges Ziel im Leben, sich mit allem und jedem zu arrangieren.

»Ich meine«, sie räusperte sich ein wenig, »ich meine, wir scheinen uns zumindest auf dienstlich-sachlicher Ebene entgegenzukommen.«

Markus rümpfte ein wenig die Nase. »Das hört sich ziemlich klinisch an. Aber eigentlich wollte ich ja etwas anderes von dir. Flo lässt fragen, ob du Interesse an seinem ›Künstler‹ hast?« Er spuckte das Wort aus, als wäre es bitter, und verdrehte die Augen zur Decke.

»Künstler?« Johanna sah ihn verständnislos an.

»Du weißt schon, der Typ, der diese geschlechtslosen Figuren macht, die bei uns zu Hause rumstehen.«

Langsam dämmerte es Johanna. Diese beiden Dinger, die einem zu sagen schienen, dass Sex nichts mit dem Körper zu tun hatte.

»Nun, wenn ich ehrlich sein soll ..., aber lass mal, ich will Flo nicht enttäuschen. Ich werde mir wenigstens ein paar ansehen.« »Braves Kind.« Markus nickte zufrieden. Keiner wusste besser als er, wie schnell Flo eingeschnappt war, wenn etwas nach Kritik an seinem künstlerischen Urteil roch.

»Soviel ich weiß, wollte er morgen Abend mit einer Mustermappe vorbeikommen. Wie sieht es aus? Morgen – so eine kleine Vernissage für Arme? Bei einem Glas Wein?«

Johanna lächelte. »Hört sich gut an, zumindest der Teil, der den Wein betrifft.«

***

Diekmann kam in den letzten Wochen wenig zum Schlafen. Er nahm sich zwar nicht mehr jeden Fall zu Herzen, dafür war er zu lange im Geschäft, aber er konnte sich auch nicht komplett lösen. Aber Fälle wie dieser ließen ihn überhaupt nicht mehr los, und er ließ sie nicht mehr los. Jedes Mal spürte er, wie ihm die Zeit durch die Finger glitt; keine Chance, sie festzuhalten. Und jedes Mal hatte er das Gefühl, dass der Mörder die Zeit anhalten oder zumindest den Lauf der Dinge beeinflussen konnte. Es lag dann eine Spannung in der Luft, die sich auch auf ihn übertrug und seinen ganzen Körper vibrieren ließ. Mitunter wurde er nachts wach, weil ihm eine Idee gekommen war, die er aufschrieb, um sie gleich am nächsten Tag umzusetzen.

Er hatte noch nie zuvor vor so einem großen Problem gestanden. Nun gab es in Hamburg auch nicht allzu viele Serienmorde, und wenn er ehrlich sein sollte, hatte er bisher nicht viel mit so etwas zu tun gehabt. Aber im Allgemeinen gab es wenigstens irgendeinen Hinweis, eine kleine Spur, irgendwas. Nur dieses Mal nicht. Dieses Mal wusste er tatsächlich nicht so recht weiter. Seine Putzfrau, die dreimal die Woche kam, behauptete, sie könne den Ermittlungsstand seiner Fälle am Zustand seiner Wohnung ablesen. Wenn er vor einem schwierigen Fall stand ohne einen Hinweis auf den Täter, so behauptete sie, würden überall volle Aschenbecher herumstehen und der Mülleimer von leeren Bierdosen überquellen. Sobald er einen Verdächtigen dingfest gemacht hatte, verschwand zumindest das Bier, und wenn er den Täter hatte, dann standen statt der Aschenbecher gefüllte Obstschalen auf dem Tisch. Als sie heute Morgen gekommen war, fragte sie nach einem grimmigen Blick in die Runde, ob dies möglicherweise ein ungelöster Fall bleiben würde, und drohte ihm, künftig zusätzlich zu ihrem Gehalt Schmerzensgeld zu verlangen.

Er musste trotz allem lächeln. Sie war eine wahre Perle, und er konnte sich darauf verlassen, dass sie ihm, wenn er nach Hause gekommen war, eine Kleinigkeit zu essen gemacht hatte. Das gab ihm wenigstens ein kleines bisschen das Gefühl, heimzukommen. Er dachte an die Zeit zurück, als er noch verheiratet war. Zuerst lief alles gut, auch als das Kind da war, aber seine Frau konnte auf Dauer nicht damit leben, dass seine Gedanken auch zu Hause von Dingen eingenommen wurden, zu denen sie keinen Zugang hatte. Sie sagte einmal, sie habe das Gefühl, dass der jeweilige Fall immer zwischen ihnen im Bett lag. Wahrscheinlich hatte sie Recht, auch wenn er damals der Meinung gewesen war, dass sie unsachlich argumentierte. Er hatte seine Familie als Bastion gesehen. Als eine Art Bollwerk gegen das Leben, dass er »draußen« führte. Lange hatte er geglaubt, dass es genau das war, was das Leben ausmachte, und er hatte sich blind gestellt, als das Leben ihn auch zu Hause einholte. Wenn er im Nachhinein daran dachte, konnte er die Anzeichen erkennen, aber als er damals plötzlich ein leeres Haus betrat und nur eine Notiz auf dem Wohnzimmertisch vorfand, war er wie erschlagen gewesen. Die Notiz von seiner Frau war kurz. Eigentlich hatte nicht viel mehr darauf gestanden als die Telefonnummer ihres Scheidungsanwaltes. Anstatt zu versuchen, zu retten, was zu retten war oder zumindest ein Gespräch herbeizuführen, fühlte er sich verraten, so als habe sie ihn an einen unsichtbaren Feind ausgeliefert. Die Trauer wurde schnell von Bitterkeit abgelöst, und er weigerte sich jahrelang, mit seiner Exfrau auch nur am Telefon zu sprechen. Sie hatte es noch ein paarmal versucht, das wusste er jetzt, aber er hatte sich wie ein kleines, verstocktes Kind aufgeführt. Jetzt wusste er, dass sie ihm damals nur hatte drohen wollen, in der Hoffnung, er würde zur Besinnung kommen, aber genau das war nicht eingetreten. Sie beide hatten verloren, weil sie aneinander vorbeigelebt und nie wie zwei Erwachsene miteinander geredet hatten.

Er nahm einen kräftigen Schluck aus seiner halb leeren Bierdose und dachte über das gestrige Gespräch mit dieser Psychologin, mit dieser Jensen, nach. Unter anderen Voraussetzungen hätte er sie ganz attraktiv finden können. Sie war hübsch, und diese leicht rauchige Stimme ging einem durch Mark und Bein. Sie unterschied sich zumindest rein äußerlich sehr von den Frauen, die bei der Polizei tätig waren. Viele hatten vergessen, dass sie überhaupt Frauen waren, und die anderen hatten nichts anderes im Kopf, als sich auf dem großen »Heiratsmarkt« Polizei einen Mann fürs Leben zu angeln. Als er sie das erste Mal hier gesehen hatte, hatte sie leicht schlampig gewirkt, sie war nicht geschminkt gewesen und schien auch selbst nicht recht zu wissen, was sie eigentlich anhatte, aber es ging etwas von ihr aus, das alles andere wieder wettmachte. Allerdings hatte sie auch das Talent, ihn mit ihrer Art in Rage zu bringen, und er fragte sich, ob das an ihr oder an ihm lag. Er konnte nicht von sich behaupten, ein Frauenhasser zu sein, dazu hatte er im Laufe der Jahre nach seiner Scheidung zu viele Affären gehabt, aber jedes Mal, wenn es ernst wurde, hatte er sich distanziert. Dieses Mal wurde es ernst, wenn auch nur auf beruflicher Ebene, aber hier war jemand, der ihm die Stirn bot, und wenn er ehrlich war, so hasste er dies wie die Pest. Außerdem war sie das, was man als »mädchenhaft« bezeichnet. Sie war schnell eingeschnappt und schien sich ständig beobachtet und kritisiert zu fühlen. Sie wusste, dass er, Diekmann, sie bei diesem Fall nicht haben wollte und er wusste, dass sie das wusste, und dennoch waren sie beide aufeinander angewiesen. Das machte die ganze Sache zwar nicht gerade leichter, aber vielleicht erträglicher. Gestern war sie zumindest ein wenig zugänglicher gewesen. Aber er musste zugeben, das auch er nicht ganz so unhöflich gewesen war wie in den ersten Tagen ihrer Zusammenarbeit. Und er musste sich eingestehen, das sie sich gut in die Fälle eingearbeitet hatte.

Er wusste, dass dieser Fall für sie so eine Art Bewährungsprobe war. Würde sie aufgeben oder gar versagen, würde sie immer und ewig suizidgefährdete Polizisten behandeln, und die Behörde würde zusätzlich einen Profiler anstellen. Auch wenn es bitter für sie war, und er wusste selbst, wie das war, wenn man auf dem Prüfstand stand, wollte und konnte er nicht zulassen, dass sie Spielchen trieb, um ihre feministische Ader auszuleben. Immerhin ging es um Menschenleben, und wenn nicht bald etwas geschah, würde der Mörder wieder zuschlagen. Dieses Monster würde nicht aufgeben, jetzt nicht mehr, jetzt hatte er, egal aus welchem Beweggrund er den ersten Mord begangen hatte, Spaß an der ganzen Sache gefunden.

Diekmann merkte selbst, wie er sich in Rage brachte und der alten Abneigung wieder ein wenig Futter gab, aber er musste schließlich mit dieser Frau Jensen zusammenarbeiten, und er würde es nach seinen Spielregeln tun, zu seinen Bedingungen. Und wenn es nicht anders ging, würde er sie eben vor sich herschieben. Wenn es sein musste, als seinen Schutzschild.

***

Johanna hatte den ganzen Vormittag konzentriert gearbeitet und war auch nicht gestört worden. Es war, als ob ein Schild mit der Aufschrift »Vorsicht, bissiger Hund« an ihrer Tür hängen würde, denn niemand, nicht einmal Markus oder Diekmann, hatten auch nur ein einziges Mal den Kopf zur Tür reingesteckt.

Sie war die Berichte der Gerichtsmediziner noch einmal durchgegangen, aber jedoch nichts Auffälliges finden können. Die Ärzte jedoch auch nicht. Bis auf einen Fall hatte es bei keiner Leiche äußerliche Verletzungen gegeben. Ihr Nacken machte sich mittlerweile schmerzhaft bemerkbar. Der Schmerz zog sich hinunter bis in ihre Pobacken, und sie merkte, wie verspannt sie war. Nicht nur das angespannte Sitzen, sondern auch der altersschwache Bürostuhl setzten ihr zu. Er ließ sich nicht einmal mehr verstellen, irgendjemand hatte den Hebel, der eigentlich die Lehne variabel halten sollte, abgebrochen. Sie versuchte sich trotzdem, so gut es ging, in diesem Stuhl zurückzulehnen, nahm die Brille ab und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Das leise Klopfen hätte sie fast überhört und noch bevor sie den Kopf richtig gehoben hatte, streckte Diekmann den Kopf um die Ecke.

»Was ist los mit Ihnen? Wo waren Sie?«

»Ich?« Verblüfft starrte sie ihn an.

»Ja, Sie. Wir trinken jeden Morgen um neun Uhr im Aufenthaltsraum zusammen Kaffee. Alle waren da, nur Sie nicht.«

»Oh.« Dunkel konnte sie sich daran erinnern, dass Markus etwas Derartiges erwähnt hatte, aber sie hatte es tatsächlich vergessen. Außerdem hätte sie nicht geglaubt, dass es irgendjemandem, außer Markus vielleicht, auffallen würde, wenn sie nicht da war. Und sie konnte sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet Diekmann Wert darauf legte.

»Ich fürchte, ich hab es vergessen. Tut mir Leid. Habe ich etwas verpasst?« Sie hatte sich aufrecht hingesetzt und sich die Brille wieder auf die Nase geschoben. Sie wollte eine Art von Geschäftigkeit an den Tag legen. Warum sie das wollte, wusste sie allerdings selbst nicht – wahrscheinlich hatte sie wieder mal ein schlechtes Gefühl.

»Nein, ich kann Ihnen die geistigen Ergüsse auch gleich beim Essen berichten, wenn Sie wollen. Kommen Sie mit? Wir haben hier in der Nähe einen fantastischen asiatischen Imbiss, und wenn wir uns beeilen, können wir sogar noch so etwas wie einen Sitzplatz ergattern.«

»Nun, ich ...«

»Fein, ich hole mir nur noch kurz meine Jacke, und dann können wir auch schon los. Einverstanden?«

Bevor sie etwas erwidern konnte, war er schon wieder verschwunden. Es machte sie ganz nervös, dass er so freundlich war, und sie beschloss abzuwarten. Man sollte ihn nicht vor den Kopf stoßen, vielleicht brauchte sie ihn ja noch, aber auf eine Verbrüderung mit dem Feind wollte sie sich auch nicht einlassen. Zumindest noch nicht. Sie entschied sich mitzugehen und die Lage zu sondieren, denn an eine plötzliche Sinnesänderung seitens Diekmann glaubte sie nicht. Dennoch, essen musste sie und Hunger hatte sie auch. Sie legte unwillkürlich eine Hand auf den knurrenden Magen. Ein kurzer Blick in den Spiegel, den sie hinter die Tür gehängt hatte, genügte. Sie war durchaus gesellschaftsfähig, noch ein wenig Lippenstift und es konnte losgehen. Innerlich straffte und rüstete sie sich, als ob sie in den Kampf zöge, und bevor sie einen Schlachtruf loswerden konnte, stand Diekmann wieder vor ihr.

»Fertig?« Er lächelte sie leicht an, und wieder musste sie zugeben, dass sie ihn unter anderen Voraussetzungen wahrscheinlich nicht von der Bettkante stoßen würde. Sein Gesicht wirkte, wenn er lächelte, jünger, und seine kurzen Haare hatten einen leichten Grauschimmer, der ihn interessant wirken ließ. Er hatte seine Hände in den Jackentaschen vergraben, und sie bemerkte wohlwollend, dass sein Bauch nicht über den Gürtel quoll.

»Ich denke schon. Das heißt, wenn Sie mich so mitnehmen?«

Sie lächelte ihn leicht an. Es war besser, ihm keine Angriffsfläche zu bieten.

»Perfekt.«

Er nahm sie leicht am Arm. Gemeinsam gingen sie zu den Fahrstühlen. Johanna hatte das Gefühl, dass die Blicke der anderen ihr förmlich im Rücken brannten, aber als sie sich unauffällig umsah, konnte sie niemanden auf dem Flur erblicken. Auch wenn er ihren Arm nicht hart angefasst und schon längst wieder losgelassen hatte, bildete sie sich ein, dass die Stelle, an der er sie berührt hatte, brannte.

»Mögen Sie asiatisches Essen?«

»Es kommt darauf an. Nicht alles, was man in den chinesischen Restaurants bekommt, ist unbedingt mein Geschmack. Oft ist es mir zu sehr auf die europäischen Geschmacksnerven abgestimmt.«

»Dann werden Sie jetzt angenehm überrascht werden. Bei diesem Imbiss können Sie zusehen, wie Ihr Essen zubereitet wird, und sie können sogar selbst die Zutaten bestimmen.«

Auf dem Weg in die Eingangshalle grüßte Diekmann in verschiedene Richtungen. Er schien fast jeden Zweiten hier zu kennen, und einmal blieben sie sogar stehen, damit er mit einem hoch gewachsenen, korpulenten Mann ein paar Worte wechseln konnte.

»Entschuldigen Sie bitte. Das war der Leiter, der für die ballistischen Untersuchungen in der Kriminaltechnik zuständig ist. Diese Leute muss man sich warm halten.« Er lächelte sie leicht an. Sie musste sich zu ihrer Schande eingestehen, dass sie fast niemanden kannte, und die Leute, die ihr vom Sehen her bekannt waren, nickten ihr höflich zu, ohne dass sie sich auch nur im Entferntesten an die Namen erinnern konnte.

Als sie nach draußen auf die Treppe traten, zog Johanna unwillkürlich die Jacke enger um sich. Die Sonne schien zwar strahlend von einem beinahe wolkenlosen Himmel, aber der Wind war schneidend. Unverkennbar hatte der Sommer endgültig dem Herbst Platz gemacht, der sich nun von seiner schönsten Seite zeigte. An der viel befahrenen Hindenburgstraße bogen sie nach links ab und gingen dem Fahrstrom entgegen in Richtung Alsterdorfer Straße. Johanna spürte, wie sich unter der frischen Brise ihr Gesicht rötete, als ob tausend kleine Stecknadeln in ihre Wangen piksten.

Sie hatte das Präsidium beziehungsweise ihr Büro am anderen Ende des Polizeigeländes bisher tagsüber kaum verlassen. Sie ging morgens in ihr Büro und verließ es erst wieder, um nach Hause zu fahren. Mittags aß sie entweder eine mitgebrachte Kleinigkeit oder Jutta besorgte ihr etwas. Auch wenn ihr der Wind kräftig ins Gesicht pustete, genoss sie den kurzen Spaziergang zum Restaurant.

»Restaurant«, konnte man es eigentlich nicht nennen. Es war ein winziger Laden, der mit zwei Tischen und jeweils vier Stühlen ausstaffiert war. Ansonsten gab es am Fenster eine lange Theke, an die man sich zum Essen anstellen konnte. Der Blick in die Küche war frei, und sie konnte einen Asiaten sehen, der dort die Speisen zubereitete. Eine ältere Asiatin stand am Verkaufstresen und nahm mit freundlichem, gelassenem Lächeln die Bestellungen entgegen.

»Wir haben Glück.« Diekmann steuerte auf einen der Tische zu, an dem noch zwei Plätze frei waren. Sie legten beide ihre Mäntel ab und gingen an die Theke, um sich ihr Essen zu bestellen. Ein paar Minuten später drängelten sie sich zurück und ließen sich mit einem Seufzer auf ihre Plätze fallen. Der Laden hatte sich zusehends gefüllt, und wären sie nur ein paar Minuten später gekommen, hätten sie keinen Sitzplatz mehr ergattert.

Eine Zeit lang aßen sie schweigend. Um sie herum brummte es wie in einem Bienenstock. Johanna musste zugeben, dass das Essen köstlich schmeckte. Sie schob sich gerade eine gehäufte Gabel mit Reis, Morcheln und ein wenig Sauce in den Mund, als Diekmann zu reden begann.

»Wie lange sind Sie schon bei der Behörde?«

Sie schluckte erst, und sah ihm dann ins Gesicht. »Neun Jahre. Ich habe schon meine Praktika während des Studiums bei der Polizei gemacht. Der damalige Leiter des psychologischen Dienstes, Dr. Trautmann, war ein Freund meines Vaters. Nach seiner Pensionierung übernahm ich seinen Posten.«

Diekmann gab ein paar Spritzer Sojasauce auf seine gebratene Ente.

»Warum haben Sie nicht versucht, in der freien Wirtschaft Fuß zu fassen?« Er vermengte den Reis mit der scharfen Sauce und häufte sich das Ganze auf die Gabel.

»Mich interessiert die menschliche Seele, aber ich fürchte, ich habe nicht die Geduld für die Art Psychologie, die Sie meinen. Obwohl ich derzeit eigentlich auch nichts anderes mache.« Der letzte Satz ließ ihre Frustration erkennen.

»Was genau machen Sie?« Er balancierte den kunstvoll aufgetürmten Haufen vorsichtig zum Mund.

»Ich höre Leuten zu, die nicht mehr weiterwissen. Leute, die trinken, Drogen nehmen oder einfach nur Ärger mit dem Ehepartner haben. Also nicht unbedingt das, was man sich unter dem Arbeitsfeld einer Polizeipsychologin vorstellt. Aber die Polizisten, die professionelle Hilfe brauchen, gehen lieber zu einem Psychologen im eigenen Haus als nach ›draußen‹. Sie alle haben Angst, dass man sie als verrückt bezeichnen könnte, aber das fällt ihnen merkwürdigerweise wesentlich leichter, wenn es nur innerhalb der Behörde passiert.« Frustriert dachte sie an die Blicke, die ihr ihre Patienten zuwarfen. Wenn sie sich selbst schon wie Freier in ihre Praxis schlichen, dann bedachten sie sie bestimmt wie eine Art dazugehörige Puffmutter.

Es sah sie erstaunt an. »Was war dann die Motivation, Psychologin zu werden?«

»Mich interessierten schon immer die Abgründe der Menschheit. Die Gründe, warum Menschen das tun, was sie tun. Unter Trautmann nahm das Ganze auch Formen an. Er war zwar schon zu alt, um sich komplett umzustellen, aber er sah die Zukunft im Profiling. Er setzte durch, dass wir bei Vernehmungen dabei waren und erstellte Gutachten, die vor Gericht anerkannt wurden. Er war es auch, der veranlasste, dass ich zum FBI zu einem Ausbildungsprogramm in die USA geschickt wurde. Meine ersten Gutachten verfasste ich unter seiner Anleitung.«

»Was waren das für Fälle?« Er hatte die Augenbrauen zusammengezogen und sah sie konzentriert an. Für einen Moment hatte Johanna das Gefühl, er interessiere sich wirklich für sie. Dabei schob er sich ein zartes Stück von der gebratenen Ente in den Mund.

Johanna legte Messer und Gabel beiseite und stützte ihre Ellbogen auf den Tisch.

»Bei meinem ersten Fall handelte es sich um einen Mann, der seine ganze Familie ausgelöscht hatte. Ehefrau, Kinder, Schwiegermutter. Wir sprachen mit ihm und fanden tatsächlich Zugang zu seinem Innersten. Er hatte extreme psychische Probleme und hatte unbemerkt angefangen, Drogen zu nehmen. Irgendwann dann, im Drogenrausch, ist er durchgedreht.

Der zweite Fall, an den ich mich erinnere, war eine junge Frau, die zwei Männer bestialisch umgebracht hat. Sie lernte die beiden in einer Kneipe kennen, ging mit ihnen nach Hause und schnitt ihnen dann bei vollem Bewusstsein Hoden und Penis ab. Die beiden sind daran verblutet. Zu ihr haben wir nie Zugang gefunden. Sie war eine hübsche, zierliche Person. Niemand hätte ihr so etwas zugetraut.«

Johanna nahm ihr Besteck wieder auf und aß weiter.

»Welche Gründe hatte sie?« Es war unverkennbar, dass er mit Schaudern an die Männer dachte, die auf diese brutale Weise sterben mussten. Sie bemerkte amüsiert, dass Diekmann unwillkürlich die Beine unter dem Tisch übereinander schlug.

»Keine Ahnung, wir konnten, wie gesagt, nie zu ihr durchdringen. Sie sprach einfach nicht. Das heißt, sie sprach schon, aber nicht über die Dinge, die für uns von Wichtigkeit gewesen wären. Sie hatte eine Art, die auf mich beinahe manipulativ wirkte. Ich gewann den Eindruck, dass sie nicht das geringste Unrechtsbewusstsein besaß. Ansonsten gab es keine Auffälligkeiten. Sie lebte bis zu ihren Taten zurückgezogen und völlig unauffällig. Es ging irgendwann das Gerücht um, dass sie lesbisch war. Bestätigt wurde das allerdings nie. Im Prozess kam nicht viel Neues heraus, und schließlich wurde sie zu zehn Jahren Haft verurteilt. Das ist jetzt ungefähr vier Jahre her.«

Johanna schob ihren leeren Teller von sich, und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.

»Sie hatten Recht, das war wirklich gut. Kommen Sie öfter her?«

Diekmann nickte. »Ziemlich oft. Wollen wir?« Er hatte einen Rest auf seinem Teller zurückgelassen. Johanna vermutete, dass ihm der Appetit nach der Schilderung der an den beiden Männern verübten Morde gründlich vergangen war. Johanna nickte. »Ich hoffe, dass ich mich noch bewegen kann. Im Allgemeinen esse ich nicht so viel.« Sie standen beide auf und schoben sich an den anderen Gästen vorbei. Es war ein heilloses Gedränge, und Johanna achtete darauf, niemanden mehr als unnötig anzurempeln. Ihre Bewegungen wirkten geradezu grotesk, aber schließlich standen beide wohlbehalten wieder auf der Straße. Sie schlenderten zurück in Richtung Präsidium. Dick in ihre Jacke eingemummelt, fühlte sich Johanna fast wohl, auch wenn sie das Gefühl hatte, dass ihr Hosenbund dem verstärkten Druck nicht lange würde gewachsen sein.

»Warum sind Sie Polizist geworden?« Es war zwar nur ein Versuch, weiterhin Konversation zu betreiben, aber wenn sie ehrlich war, interessierte es sie wirklich.

»Mein Vater war schon Polizist und mein Großvater lief auch schon mit einer Pickelhaube herum. Ich weiß nicht«, er zuckte mit den Achseln, »ich konnte mir nie etwas anderes vorstellen.« »Also das Prinzip der vererbten Talente?«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Wie meinen Sie das?«

»Seit Ende des vorigen Jahrhunderts findet sich bei fortschrittlichen Pädagogen die Vermutung, dass ein Kind, egal welche Talente es tatsächlich besitzt, einer Art Vererbung anheim fällt. Stellen Sie sich einfach mal die Frage, ob ein Millionärssohn, der eigentlich keinen Grund dazu hat, zu arbeiten, sein wahres Talent entdecken und, sagen wir mal, Maler werden würde oder ob er Maler geworden wäre, was sehr wahrscheinlich scheint, wenn er aus einer Künstlerfamilie stammte.«

»Sie meinen also, ich könnte so etwas wie ein Picasso sein?« Diekmann sah sie amüsiert an. Johanna schüttelte den Kopf.

»Nein, das meine ich nicht. Ich frage mich nur, ob Sie Polizist geworden wären, wenn sie aus einer Familie stammen, die Generationen von Kaufleuten gestellt hätte.«

»Interessant. Ich muss gestehen, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Was ist mit Ihnen?«

Johanna zuckte die Schultern. »Mein Vater hat mich immer im dem Bestreben gestärkt, das zu tun, von dem ich glaubte, dass es das Richtige sei. Er hat mich gelehrt, in mich hineinzuhorchen, um herauszufinden, was meine Berufung ist. Haben Sie es jemals bereut? Ich meine, dass sie Polizist geworden sind?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, im Großen und Ganzen würde ich es immer wieder tun.«

Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück, und erst in der Eingangshalle des großen neuen Polizeigebäudes begann Diekmann wieder zu reden.

»Wie sieht es aus? Bekomme ich bei Ihnen einen Kaffee? Ich wollte mit Ihnen noch einmal über den Fall reden.«

»Gute Idee.« Johanna nickte. »Ich bin gerade dabei, einen vorläufigen Bericht zu schreiben. Den könnten wir gemeinsam durchgehen.«

Am Fahrstuhl trennten sie sich. Diekmann wollte in den Keller, um, wie er sagte, ein paar Beweismittel zu holen, und Johanna fuhr nach oben.

Der Flur schien wie ausgestorben, die meisten Kollegen waren zum Essen gegangen. Nur ganz vereinzelt konnte sie Leute in ihren Büros sehen. Über allem schien müde Stille zu lasten. Markus kam ihr entgegen und grinste breit.

»Na, und wann ist die Verlobung?«

Sie lächelte zurück. »Das sage ich dir nicht, aber keine Angst, du bist der Erste, der es erfährt.«

Markus legte den Arm um sie, und gemeinsam gingen sie auf Johannas Büro zu. »Ich habe dir ja gleich gesagt, dass er nicht so schlimm ist und dass man gut mit ihm leben kann.« Johanna nickte zustimmend. Sie verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass sie Diekmann nicht über den Weg traute. Das Essen mit ihm war zwar angenehm gewesen, und sie hatte sich auch ein wenig entspannt, aber sie hatten nicht über den Fall geredet. Außerdem hatten sie keinen Grund, sich persönlich anzufeinden. Dazu kannten sie sich einfach zu wenig. Aber wie gesagt, das war etwas, was Markus nicht zu wissen brauchte, er würde ihr wahrscheinlich nur Verfolgungswahn unterstellen.

»Wart ihr essen?«

»Ja. Und es war wirklich lecker. Wolltest du was von mir?«

»Nein, eigentlich nicht. Ich wollte mir nur noch die letzten Ergebnisse der Autopsie besorgen.«

»Von Gudrun Spengler?«

»Richtig. Ich glaube zwar nicht, dass die Ergebnisse von denen der anderen Leichen abweichen, aber du weißt, ich bin ein unverbesserlicher Optimist. Was machst du?«

»Du wirst es nicht glauben, aber ich verbringe einen Teil des Nachmittags mit Diekmann.«

»Hört, hört.« Markus' Augen blitzten vor Vergnügen.

»Ist es denn die Möglichkeit.«

Johanna hob abwehrend die Hände, konnte sich aber ebenfalls ein Lächeln nicht verkneifen. »Nein, nein, keine falschen Verdächtigungen, es ist ein dienstliches Treffen. Wir wollen sehen, was wir haben, beziehungsweise, was wir nicht haben.«

Markus wurde ernst. »Was meinst du, haben wir eine Chance?« Sie wusste, dass er auf den Täter anspielte. Dieser Mann war einfach zu gut. Beim derzeitigen Stand der Dinge hatte sie keine große Hoffnung. Wenn nicht ein Wunder geschah, hatte sie keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Trotz allem gab sie sich optimistisch.

»Keine Bange, es ist noch nicht aller Tage Abend.«

Markus nickte ein wenig mit dem Kopf und lächelte leicht. Sie konnte sehen, dass er genauso dachte wie sie, aber er nahm ihre gespielte Zuversicht gerne auf.

»Hoffentlich geht heute alles gut.«

Sie wusste, was er meinte. Eine weitere Leiche war das Letzte, was sie brauchten, und vor allen Dingen, das Letzte, was sie wollten.

Es dauerte nicht lange, bis es an ihrer Tür klopfte. Sie hatte sich wieder ihrem Bericht zugewandt und versuchte, alle Fakten mit Theorien, die sie entwickelt hatte, zu verknüpfen. Es war erst ein Entwurf, aber immerhin ein Anfang, ein Faden, mit dem man weiterspinnen konnte. Denn genau genommen, hatten sie nichts.

»Herein.« Sie nahm ihre Brille ab und drehte sich in ihrem Stuhl zur Tür. »Tut mir Leid. Das hat länger gedauert, als ich dachte. Da unten herrscht das reine Chaos. Das Präsidium ist kaum ein Jahr alt und schon zu klein. Die Asservatenkammer ist derart überfüllt, dass ein Teil der Sachen schon in der Schleuse stehen. Können Sie sich das vorstellen?«

Die »Schleuse« war ein Zugang im Keller im Abschnitt C des Gebäudes. Hier wurde von der Transportkolonne Beweismittel angeliefert, die aufgrund ihrer Größe oder ihres Umfanges nicht so einfach in einem Dienstwagen transportiert werden konnten. Dieser Zugang hatte eine direkte Verbindung zur Asservatenkammer. Der ganze Bereich war videoüberwacht, so dass im Gegensatz zum alten Präsidium niemand diesen Abschnitt unbeobachtet betreten konnte. Überhaupt war das neue Gebäude ein Musterbeispiel an Sicherheit, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass mit Beweismitteln umgegangen wurde, als handele es sich um ausrangierte Möbelstücke.

Der äußere Teil der »Schleuse« wurde nur durch ein Dach vor Wind und Wetter geschützt. Von diesem Teil sprach Diekmann.

»Ein Teil der Sachen ist feucht, die Kartons, in denen sie lagern, sind vollkommen durchgeweicht«, schimpfte er weiter.

»Kaffee?« Johanna war aufgestanden und schwenkte nun die Kaffeekanne in der Luft.

»Das wäre wunderbar.« Er legte die feuchten Sachen auf den Boden und zog sich die Jacke aus. Johanna ging über den Flur zur Teeküche. Noch immer herrschte auf dem Gang absolute Ruhe. Nur hier und da vernahm sie Gelächter aus den Räumen. Sie begegnete nur einem Mitarbeiter der Mordkommission, und der lächelte ihr freundlich zu. Es war, als hätte man weniger Vorbehalte, schließlich war der Chef mit dieser Psychologin essen gegangen. Aber schließlich verbannte sie diese Gedanken und schalt sich selbst paranoid. Wahrscheinlich übertrieb sie maßlos, und niemand nahm auch nur Notiz von solchen Kleinigkeiten.

Sie spülte die Kanne sorgfältig aus und füllte sie dann mit Wasser. Als sie in ihr Zimmer zurückkam, war Diekmann dabei, einzelne Sachen aus den mitgebrachten Kartons zu fischen.

»Gott sei Dank hatten wir die einzelnen Dinge in Plastik verpackt, bevor wir sie in die Kartons legten«, murmelte er.

»Was ist das?« Sie blickte fragend auf die am Boden liegenden Teile und wandte sich dann um, um das Wasser in die Kaffeemaschine zu füllen. »Das sind die Gegenstände, die die Frauen bei sich trugen, als sie gefunden wurden. Ohrringe, Rucksäcke, Handtasche, eben solche Sachen. All diese Dinge sind von den Angehörigen identifiziert worden. Es scheint nichts zu fehlen, aber ganz sicher können wir nicht sein, schließlich können die Angehörigen nicht genau sagen, was die Frauen an dem Tag alles bei sich hatten.«

»Was ist mit der Kleidung?« Sie setzte eben den Filter ein und schaltete die Kaffeemaschine ein.

»Wir haben Spuren an allen möglichen Spurenträgern gesichert, und bis auf die Kleidung von Gudrun Spengler haben wir alles an die Familien ausgehändigt.« Sie stellte sich neben ihn an den Tisch und betrachtete die Sachen. Sie stand so dicht neben ihm, dass sie den herben Duft seines Aftershave einsog. Welche Marke das war, konnte sie nicht sagen. Sie hatte kein Geschick in solchen Dingen, und außerdem ließ sie kaum jemanden so nahe an sich heran, dass sie auch nur eine Chance gehabt hätte, die einzelnen Männerdüfte voneinander zu unterscheiden. Es war auch nicht so wichtig.

»Wir sollten uns das alles noch einmal genau ansehen, vielleicht können wir ja irgendetwas sichern, was als Beweismittel dienen könnte. Ich bin mir nicht ganz sicher.« Entnervt ließ er sich auf den Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch fallen. Er rieb sich mit einer Hand das Kinn und starrte auf den Fußboden.

»Haben Sie eine Idee?«

Johanna ging langsam um ihren Schreibtisch herum und strich dabei mit den Fingerspitzen über die zerkratzte Tischplatte, als wolle sie prüfen, wann hier zuletzt Staub gewischt worden war. Schließlich setzte auch sie sich und sah Diekmann nachdenklich an.

»Ich muss gestehen, wir wissen tatsächlich nicht sehr viel. Wir müssen wohl versuchen, uns langsam ranzuarbeiten.«

»Haben wir es hier mit einem Irren zu tun?«

»Sie wissen, wie ich zu dem Begriff ›Irrer‹ stehe.«

»Ja, daran kann ich mich nur zu gut erinnern.« Er lächelte grimmig. »Aber was ist das für ein Mann? Hat der Probleme mit Frauen?«

»Meinen Sie die Geschichte: oft zurückgewiesen, impotent, und so weiter?«

Diekmann nickte.

»Wohl kaum. In so einem Fall hätte er die Opfer verstümmelt. Der Torso würde erhebliche Verletzungen aufweisen. Ich denke, in so einem Fall hätte sich der Täter in einer Art Raserei befunden. Sein Angriff hätte jeder Frau gegolten.«

»Gibt es da Unterschiede?« Diekmanns Blick konzentrierte sich jetzt auf Johanna.

»Ja.« Sie nickte, »aber vergessen Sie ,nicht, das alles ist immer nur ein grober, keineswegs dogmatischer Leitfaden. Also«, sie faltete die Hände vor sich auf dem Schreibtisch und schürzte die Lippen, »nehmen wir einmal an, der Typ hätte schlechte Erfahrungen mit Frauen gemacht und wäre mit einer dominanten Mutter, vielleicht sogar ohne Vater aufgewachsen, misshandelt worden und so weiter, dann hätte er die Frauen mit großer Wahrscheinlichkeit bestialisch zugerichtet. Er hätte sich vermutlich auf ihr Gesicht konzentriert. Bei jedem Hieb, bei jedem Schlag hätte er die Person gesehen, gegen die sich der Schlag eigentlich richtet. Würde es sich um Hass auf Frauen im Allgemeinen handeln, so hätte er das Gesicht außer Acht gelassen. Er hätte seine Opfer also nicht personifiziert. In solchen Fällen kann es schon einmal sein, dass er das Gesicht sogar abdeckt. Sie müssen sich vorstellen, dass ein Mörder sehr wohl in der Lage ist, Mitleid mit dem Opfer zu empfinden. Auch das kann ein Grund sein, ein Opfer zu entpersonalisieren. In den Fällen der Entpersonalisierung hätte er vielleicht auf den Körper der Frauen eingestochen.«

»Warum?« Diekmann hatte sich entspannt zurückgelehnt und die Hände vor dem Bauch gefaltet. Er sah Johanna mit gerunzelter Stirn an. Jetzt erst merkte sie die tiefen Falten um seinen Mund. Er sah müde aus.

»Er will sich an keiner bestimmten Frau rächen. In seinem Kopf ist kein Bild einer bestimmten Person, lediglich eine Wut auf Frauen im Allgemeinen. Ich bezweifle allerdings bei beiden Varianten, dass er seine Opfer so akkurat und ohne Spuren zu hinterlassen abgelegt hätte. Vielleicht aber hätte er ein Souvenir mitgenommen. Sie dürfen nicht vergessen, dass er den Kick sucht. Die Tat ist zuallererst eine Art Erleichterung für ihn. Oft setzt dann eine Zeit lang eine Art schlechtes Gewissen ein. Aber er hat auf jeden Fall einen Moment Ruhe gefunden. Cool-off-Phase nennt man das. Aber er braucht den Kick, und um sich regelmäßig an den Kick zu erinnern, um ihn nachzuerleben, braucht er eben dieses Souvenir. Bei Bedarf holt er es heraus und erlebt die Tat noch einmal. Nur die Auswahl der Frauen wäre vermutlich anders gelaufen.«

»Wie?«

»Nehmen wir mal an, wir haben es hier mit einem impotenten Mann zu tun, und diese Impotenz ist vielleicht auf Misshandlung in der Kindheit zurückzuführen. Egal wie, es ist auf jeden Fall ein Mann, der »es« nicht mehr bringt. Solche Männer gehen irgendwann zu Prostituierten, um sich zu beweisen, dass sie »es« doch noch können. Lassen Sie nur irgendeine dieser Frauen falsch reagieren, dann würde sich sein Hass zwar grundsätzlich gegen seine Mutter richten, aber als Opfer würde er sich dann immer – oder sagen wir, fast immer – Prostituierte suchen. Außerdem sind das Opfer, an die man am leichtesten herankommt.«

»Was gibt es noch?« Diekmann hatte sich vorgebeugt.

»Zum Beispiel Wahnvorstellungen.« Es war Johanna gar nicht bewusst, dass sie sich im selben Moment, in dem er sich vorgebeugt hatte, zurücklehnte. »Scheint mir hier aber nicht in Betracht zu kommen. Bei Wahnvorstellungen ist der Betreffende zu einer Überzeugung, welcher Art auch immer, gekommen, an der er dann starr festhält. Die beiden gängigsten Arten von wahnorientierem Mord wären Verfolgungswahn und körperbezogener Wahn. Beim Verfolgungswahn hat die betreffende Person das Gefühl, ständig ausspioniert zu werden, überall vermutet sie eine tödliche Gefahr oder eine Intrige. Hier kann jeder, auch der unschuldige Passant auf der Straße, zum Opfer werden. Der Betroffene würde jeden umbringen, von dem er glaubt, er wolle ihn töten. Diese Morde geschehen in Panik. Der Täter ist verzweifelt, verliert immer mehr den Kontakt zur Realität. Wahrscheinlich hätten Sie ihn bereits, wenn er es mit so einem Fall zu tun hätte. Die Taten würden nämlich eher in seinem eigenen Umfeld passieren, denke ich, und vor allen Dingen in kürzeren Abständen. Man hätte das Gefühl, dass er um sich schlagen würde – aber das Wichtigste ist«, Johanna hob einen Zeigefinger, um auf den folgenden Punkt besonders hinzuweisen, »dass er sich bestimmt nicht immer nur einen Typ Frau suchen würde. Vergessen Sie nicht, so ein Mensch handelt in Panik.«

Sie machte eine Pause und starrte einen Moment lang Diekmann an, als versuche sie in seinem Gesicht die Lösung zu finden. Sie legte die Fingerspitzen an die Stirn und fuhr fort.

»Beim körperbezogenen Wahn können die Taten bizarre Formen annehmen. Ich werde Ihnen das anhand eines Beispiels aufzeigen. Mitte der Siebzigerjahre wurden innerhalb von vier Tagen fünf Menschen ermordet. Täter war ein Mann mit dem Namen Richard Trenton Chase. Er war der felsenfesten Überzeugung, von seiner Umwelt vergiftet zu werden Er glaubte, sein Herz würde schrumpfen und sein Magen verfaulen. Zuerst spritzte er sich Kaninchenblut in die Venen, später brachte er dann Menschen um, um ihr Blut zu trinken. Er war davon überzeugt, das er nur mit dem Blut dieser Menschen überleben würde. Aber Sie sehen, auch hier wurden in unglaublich kurzer Zeit viele Morde begangen, und der Täter war schnell zu fassen. Und auch in diesem Fall, ich kann es nur immer wieder betonen, suchte er nicht einen bestimmten Typ Mensch. Er nahm jeden, der ihm über den Weg lief.«

»Was bleibt dann noch übrig?« Diekmanns Stimme klang fast ein wenig resigniert, was Johanna überraschte. Sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass er verzweifelt sein könnte. »Zugegeben, wir haben nicht sehr viel. Entweder handelt es sich um einen Psychopathen oder einen eiskalten Killer«, sie zeichnete Anführungszeichen mit den Fingern in die Luft, »der, um einen Mord zu verschleiern, mehrere Morde begeht. Ich halte das allerdings eher für unwahrscheinlich.«

»Wieso?«

»Ich denke, der Aufwand wäre zu groß. Schließlich hat unser Täter die Frauen erst entführt und dann ermordet. Erschießen, erwürgen oder etwas anderes in die Richtung wäre einfacher gewesen.«

»Ja, aber so fällt kein Verdacht auf ihn, oder?«

»Sie denken immer noch an Spengler?«

»Ja. Er ist mir nicht ganz geheuer. Meines Erachtens spielt er nur den Trauernden.«

»Nein, das denke ich nicht«, widersprach Johanna, »ich glaube, dass er wirklich entsetzt ist. Ich glaube auch, dass ihn sein schlechtes Gewissen erschlägt, denn er hat seine Frau ja wohl allem Anschein nach betrogen, und so wie ich das sehe, sicher nicht zum ersten Mal. Nur dieses eine Mal musste er das Gefühl haben, unmittelbar an ihrem Tod schuld zu sein. Sie wissen schon, nach dem Motto ›wäre ich da gewesen, wäre nichts passiert‹« Der Tonfall, in dem sie das sagte, zeigte ganz deutlich, dass sie sich in gewisser Weise bestätigt fühlte, was ihre Vorurteile gegenüber untreuen Männern anging. Diekmann sah auf. Auch er schien diese Schwingung in ihrer Stimme bemerkt zu haben. »Sie scheinen ihm das schlechte Gewissen zu gönnen.«

Sie sah schnell zu ihm hin und senkte dann wieder den Blick. Als sie weitersprach, ließ nichts erkennen, dass sie seine Bemerkung gehört hatte.

»Ich habe versucht, den Bericht des Gerichtsmediziners zu lesen, aber ich muss ehrlich gestehen, dass ich nicht sehr viel verstanden habe. Ich glaube, ich würde mich noch einmal gern selbst mit ihm unterhalten.«

»Das wird schwer sein. Er hat meistens keine Zeit. Aber wenn es Ihnen recht ist, rufe ich ihn an und mache einen Termin für Sie aus. So von Mediziner zu Mediziner. Vielleicht klappt es ja.«

»Ja, danke.« Sie dachte kurz nach. »Warum tun Sie das? Warum unterstützen Sie mich plötzlich? Sie hatten doch Angst, dass ich Ihnen in die Quere komme. Was ist los?«

Er stand auf und sah sie einen Moment nachdenklich an.

»Wir beide sitzen im selben Boot und haben beide eine Menge zu verlieren. Reicht das als Begründung?«

Johanna nickte.

»Ich rufe jetzt im Institut an. Wäre Ihnen ein Termin morgen früh recht?«

Ja, sicher. Vielen Dank.«

Diekmann drehte sich um und verließ das Zimmer. Johanna setzte ihre Brille auf und widmete sich wieder ihrem Bericht.

»Ach, da ist noch etwas.« Diekmann hatte sich umgedreht und hielt die Türklinke mit einer Hand fest. »Werden Sie das, was Sie mir eben erzählt haben, auch so in Ihrem Bericht schreiben?«

Ja. Ich werde schreiben, was meiner Meinung nach infrage beziehungsweise nicht infrage kommt. Warum?«

»Nur so, der Vollständigkeit halber. Außerdem braucht der Staatsanwalt etwas, woran er sich halten kann, sollte es mal zu einer Festnahme kommen.« Er nickte ihr kurz zu und verschwand dann endgültig aus ihrem Zimmer.

Johanna versuchte sich auf das bereits Geschriebene zu konzentrieren, um wieder in ihren Rhythmus zu kommen, aber es klappte einfach nicht. Dabei fiel ihr auf, dass der Kaffee längst fertig war, sie aber vergessen hatte, sich selbst und Diekmann

eine Tasse einzuschenken. Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Sie nahm den Hörer ab.

»Jensen.«

»Diekmann. Ich habe für morgen einen Termin bei Prof. Dr. Reuschel ausgemacht. Wir haben elf Uhr festgehalten. Passt Ihnen das?«

»Ja, sicher.«

»Ich denke, Sie wissen, wo das ist?«

»Der Eingang ist Butenfeld, richtig?«

»Richtig. Sie melden sich bitte am Empfang. Reuschel wird dort persönlich auf Sie warten.«

»Danke.«

»Gern geschehen.« Damit legte er auf.

***

Diekmann musste sich selbst eingestehen, dass er schlecht gelaunt war Und das, obwohl alles nach Plan lief. Das Essen mit dieser Psychologin war wirklich angenehm gewesen, doch in seinem Hinterkopf spukte immer noch herum, warum sie überhaupt hier war. Und das ließ ihm keine Ruhe. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf, schwang in seinem Stuhl herum und starrte aus dem Fenster. Das Einzige, was er sah, war der gegenüberliegende Gebäudeteil. Es war zum Auswachsen. Im alten Präsidium hatte man einen wunderschönen Blick über Hamburg gehabt. Vor allen Dingen abends war der Blick atemberaubend gewesen. Hier konnte man nur in die Fenster anderer Kollegen sehen und sie dabei beobachten, wie sie in der Nase bohrten. In einem Anflug von grimmigem Humor überlegte er, wie lange es wohl dauern werde, bis sich der erste Kollege aufgrund der deprimierenden Umgebung voller Verzweiflung aus dem Fenster stürzte.

Er würde den Bericht dieser Jensen dazu nutzen, seine weitere Vorgehensweise zu begründen. Er wusste, dass das zu Ärger mit ihr führen würde, aber selbst wenn sich sein Verdacht nicht erhärtete, hatte er dann zumindest das getan, was sie als »proaktive Technik« verkauft hatte. Trotzdem zögerte er. Das, was sie ihm eben erzählt hatte, hatte einleuchtend geklungen, und wieder einmal hatte er bemerkt, dass sie von dem, was sie erzählte, Ahnung hatte. Die Unsicherheit und die Abneigung, die sie ihm entgegengebracht hatte, waren wie weggeblasen gewesen, und irritiert musste er sich eingestehen, dass er ihr gern zugehört hatte. Er hatte mal davon gehört, dass sich Leute, die sich zu ähnlich waren, einfach nicht verstanden. Möglich, dass es das war, was ihn und die Jensen immer wieder aneinander geraten ließ. Er hatte etwas gegen Frauen wie sie, und sie schien mit Männern ein Problem zu haben, obwohl er das nicht einmal genau begründen konnte. Er konnte auch nicht genau definieren, was genau ihm an ihr nicht gefiel. Ganz allgemein war er es jedoch nicht gewohnt, dass man gegen ihn opponierte, und schon gar nicht, wenn es aus Trotz geschah. Und dass Johanna Jensen sich wie ein trotziges kleines Kind benehmen konnte, hatte er schon zur Genüge erfahren. Er seufzte und drehte sich zurück zu seinem Schreibtisch. Er beschloss, erst einmal abzuwarten, ob sich irgendetwas Neues ergab. Die Psychologin hatte noch eine Woche Zeit. Doch dann mussten Taten folgen.