6

Johanna hatte wirklich versucht, sich zu konzentrieren, aber schließlich gab sie auf. Ihr normaler Arbeitsrhythmus wollte sich nicht mehr einstellen, und irgendwie fühlte sie sich müde und abgespannt. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie sich sputen musste, wenn sie noch zum Einkaufen kommen wollte. Sie hatte vor, an diesem Abend für sich und Stefan zu kochen. Vielleicht trug das ja dazu bei, die Stimmung aufzulockern. In letzter Zeit waren sie meist auswärts essen gegangen, denn in der anonymen Umgebung eines schicken Restaurants waren sie der Verpflichtung enthoben gewesen, sich zu unterhalten oder sich gar mit sich und ihren Problemen befassen zu müssen.

Wenn Johanna ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, worüber sie sich mit Stefan unterhalten sollte, und fast bereute sie es ein bisschen, sich mit ihm für heute Abend verabredet zu haben.

Sie seufzte. Es stellte sich die Frage, ob sich die Kluft zwischen ihnen noch ausgleichen ließ oder ob es besser war, gleich reinen Tisch zu machen.

Als es an der Tür klopfte, zuckte sie zusammen. Im Türrahmen stand eine Frau der Putzkolonne. Sie war groß und sah südländisch aus. Sie hatte wirres dunkles, mit grauen Strähnen durchzogenes Haar, trug ein Kopftuch und unter ihrem Kittel einen Rock, an dem sich der Saum löste, sowie Strumpfhosen und dicke Socken. Gekrönt wurde das Ganze von ausgelatschten Sandalen. Sie zog einen kleinen Wagen mit Putzmitteln hinter sich her, neben ihr stand ein Industriestaubsauger. In der Hand hielt sie einen feuchten und allem Anschein nach schmutzigen Lappen, den sie in die Luft hielt. Sie machte kreisende Bewegungen und sagte: »Wieschen, wieschen?«

»Oh, warten Sie. Ja, ja, sofort.« Johanna nahm das als Zeichen zu verschwinden, und stand auf.

»Saugen Staub?« Die Frau zeigte auf ihren Staubsauger und machte mit der Hand eine Bewegung, als würde sie mit dem Gerät den Fußboden reinigen. »Ja, ja. Machen Sie. Ich bin gleich weg.«

Die Frau grunzte zufrieden und wartete, bis Johanna mit Jacke und Aktentasche in der Hand an ihr vorbei aus dem Zimmer geflitzt war. Sie blickte auf die Uhr und stellte fest, dass es fast Dienstschluss war Die meisten Zimmer auf dem Flur waren verschlossen. Auf dem Weg zum Treppenhaus begegnete sie einer Besichtigungsgruppe, die wie sie auf dem Weg zum Fahrstuhl war. Während sie gemeinsam auf den Fahrstuhl warteten, zupfte sie jemand am Ärmel. Sie drehte sich um und sah in das Gesicht eines älteren Mannes.

»Junge Frau, können Sie mir sagen, wo hier die nächste Toilette ist?« Johanna sah sich hilflos um. Auch sie kannte sich hier noch nicht besonders gut aus, um genau Auskunft erteilen zu können. Bei dem Blick in die Runde fiel ihr Blick auf den Leiter der Gruppe, der augenscheinlich genervt war, denn er hatte arge Probleme, sich in dieser Gruppe, die aus allen Altersschichten bestand, Gehör zu verschaffen.

Johanna schüttelte den Kopf und murmelte ein: »Nein, tut mir Leid.« Zu ihrer Erleichterung kam der Fahrstuhl, und bevor sich die Gruppe endgültig entscheiden konnte, in welche Richtung sie denn nun wollte, war Johanna hineingeschlüpft und drückte die Taste, die die Türen ein wenig schneller schloss.

Erst als diese geschlossen waren, lehnte sie sich mit einem Seufzer der Erleichterung gegen die verspiegelte Kabinenwand. Ihre Einkäufe waren relativ schnell erledigt, und als sie nach Hause kam, stellte sie fest, dass sie noch reichlich Zeit hatte. Sie öffnete eine Flasche Weißwein und goss sich ein Glas ein, wanderte damit zu ihrem Kleiderschrank im Schlafzimmer. Der Schrank stand grundsätzlich offen, obwohl es dadurch in ihrem Schlafzimmer immer ein wenig unordentlich aussah. Sie entschied sich für etwas Bequemes. Ein weites T-Shirt, eine zerrissene Schlabberjeans, barfuß – das war Gammellook ganz nach ihrem Geschmack.

Sie schnappte sich ihr Weinglas und ging zurück ins Wohnzimmer, um das Radio anzustellen. Dann ließ sie sich in einen Sessel fallen und lehnte den Kopf in die Polster zurück. Da ihre CD-Sammlung nicht gerade berauschend war, hatte sie ihren Lieblingssender eingestellt. Schließlich raffte sie sich auf, schenkte sich noch einen kräftigen Schluck aus der Weinflasche nach und war bereit, den Kampf mit dem Herd aufzunehmen.

Im Wesentlichen wusste sie, was alles in ihr Hühnerfrikassee hineinkam, aber es war besser, noch einmal zu kontrollieren, ob auch nichts fehlte. Dann wusch sie das Hähnchen, putzte das Gemüse und suchte die entsprechenden Gewürze heraus. Ihre Laune hob sich zusehends, ob das am Wein lag, an der Musik oder einfach daran, dass sie zu Hause war, konnte sie nicht sagen. Als es plötzlich klingelte, fuhr sie erschrocken auf und blickte an sich hinunter. Verdammt! Stefan hasste es, wenn sie so aussah.

Sie wischte sich die Hände an einem schon leicht schmuddeligen Handtuch ab und eilte zur Tür.

»Wie siehst du denn aus?« Stefans anfängliches Lächeln verflüchtigte sich sofort wieder, als Johanna die Tür öffnete. Er musterte sie demonstrativ von oben bis unten und verzog das Gesicht. So wie er die Nase rümpfte, konnte man beinahe glauben, von Johanna ging ein Ekel erregender Geruch aus. Stefan beugte sich vor und küsste sie leicht auf die Wange. Mit einem »du hast ja getrunken« schob er sich an ihr vorbei in die Wohnung. Johanna schloss für einen Augenblick die Augen und versuchte sich zu sammeln. Dann drehte sie sich mit einem entschuldigenden Lächeln um und sagte versöhnlich: »Es tut mir Leid, aber ich bin noch nicht lange zu Hause. Das Essen ist gleich fertig. Ich spring nur mal eben unter die Dusche. Bin gleich wieder da.« Den letzten Satz rief sie ihm zu, denn sie war bereits in ihrem Badezimmer verschwunden und warf schwungvoll die Tür hinter sich zu. Sie stützte die Hände auf den Rand des Waschbeckens und zählte innerlich leise bis Hundert. Wenn das kein gelungener Start für einen romantischen Abend zu zweit war.

Trotzdem beeilte sie sich und stand nach kurzer Zeit wieder vor Stefan. Diesmal in weißer Leinenhose und Seidenbluse.

»Du hättest ruhig schon mal den Tisch decken können.«

»Was ist bloß los mit dir? Du bist doch sonst nicht so nachlässig.« Der Ärger in Stefans Stimme war unverkennbar. Er stand in der Mitte des Raumes, die Hände in die Hosentaschen vergraben. Er hatte immer noch seinen Anzug an, den er vermutlich schon den ganzen Tag getragen hatte. Erst in diesem Moment fiel es Johanna auf, dass sie Stefan eigentlich noch nie salopp gekleidet gesehen hatte. Tagsüber musste er einen seriösen Eindruck machen, schließlich hatte er als Anwalt für Patentrecht einen entsprechenden Mandantenkreis, aber dennoch fiel es Johanna plötzlich schwer, sich Stefan in Jeans und Turnschuhen vorzustellen.

»Ich sagte doch schon, dass ich erst relativ kurz zu Hause bin. Auch ich arbeite dann und wann und kann nicht so ohne weiteres früher gehen.« Sie spürte Ärger in sich aufwallen. Hier stand sie in ihrer eigenen Wohnung und war dabei, sich für etwas zu rechtfertigen, für was es genau genommen keiner Rechtfertigung bedurfte.

»Meinst du nicht, dass du es inzwischen ein wenig übertreibst? Was ist dir eigentlich wichtiger? Deine drogen- und alkoholkranken Polizisten oder ich?«

Johanna bemühte sich, ruhig zu bleiben, obwohl ihr seine überhebliche Art auf die Nerven ging.

»Ich bin zurzeit mit einem wichtigen Mordfall beschäftigt, der mich ziemlich in Anspruch nimmt, falls das deiner geschätzten Aufmerksamkeit entgangen sein sollte. Im Übrigen möchte ich dich daran erinnern, dass du auch oft keine Zeit für mich hattest und meist sehr spät noch im Büro anzutreffen bist. Ich möchte wetten, dass du direkt von der Kanzlei gekommen bist.«

»Das ist ja wohl etwas ganz anderes.« Stefan wirkte tatsächlich empört, und wieder war der kleine beleidigte Junge in ihm ganz deutlich herauszuhören. »Außerdem, was soll das heißen, du bist mit einem Mordfall beschäftigt? Tröstest du am Ende die Hinterbliebenen?« Sie konnte seine abfällige Art wirklich keine Minute mehr ertragen.

»Ich habe heute Abend weder die Kraft noch die Nerven, mit dir über meine Arbeit zu diskutieren. Ich denke, es ist besser, du gehst einfach wieder. Meinst du nicht?« Johanna nahm ihr Weinglas in die Hand und trank einen kräftigen Schluck, an dem sie sich verschluckte. Sie hustete. Stefan sah sie erstaunt an.

»Ich hatte heute auch einen harten Tag. Vielleicht bin ich deshalb ein wenig empfindlich«, lenkte er ein. »Komm, lass uns etwas essen, vielleicht geht es uns beiden dann wieder besser.« Auch wenn das bei ihm einer Entschuldigung gleichkam und für heute Abend mit keinen weiteren Streitereien zu rechnen war, war Johanna alles andere als zufrieden. Trotzdem deckte sie den Tisch, und als sie sich beide zum Essen hinsetzten, herrschte beinahe wieder eine Art freundlicher Atmosphäre.

Das Gespräch plätscherte dahin, Stefan erzählte lang und breit von seiner Geschäftsreise nach Köln, und als sie es sich gemeinsam im Wohnzimmer gemütlich gemacht hatten, war zumindest Stefans Stimmung deutlich besser geworden.

»Ich weiß, dass es zwischen uns zurzeit nicht so gut läuft, aber ich denke, das bekommen wir wieder hin. Du solltest vielleicht etwas weniger schuften, schließlich müsstest du auch in Zukunft nicht unbedingt arbeiten.« Er lächelte und drehte sein Glas in der Hand.

»Was willst du denn damit sagen?«, fragte Johanna alarmiert. Sie hatte ihm gerade zum ersten Mal an diesem Abend richtig zugehört, und schon lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken.

»Meinst du nicht, es wäre an der Zeit, zusammenzuziehen oder sogar zu heiraten?« Er strahlte sie an. Man merkte deutlich, dass er glaubte, ihr mit dieser Art Antrag die Welt zu Füßen gelegt zu haben. Er rückte näher und legte eine Hand auf ihr Bein, die sich unaufhörlich höher schob. Johanna holte einmal tief Luft und entfernte dann entschlossen seine Hand von ihrem Oberschenkel. Stefans Berührung verursachte ihr beinahe Übelkeit.

»Wir sollten ein anderes Mal darüber reden. Sei mir nicht böse, aber ich bin wirklich müde und muss morgen früh raus.« Sie stand auf und brachte ihr Glas in die Küche. Als sie zurückkam, blieb sie demonstrativ vor der Couch stehen, bis Stefan sich schließlich schmollend erhob. So kannte sie ihn.

»Eigentlich hatte ich mir eine andere Reaktion erhofft, aber gut.« Er nahm seinen Mantel, den er bei seiner Ankunft achtlos über eine Sessellehne geworfen hatte, gab ihr einen Kuss auf die Wange und verschwand. Erst als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, atmete Johanna hörbar aus. Sie fühlte sich, als habe sie den ganzen Abend die Luft angehalten.

Das geschäftige Treiben auf dem Flur stand in krassem Gegensatz zu der Stille des vergangenen Nachmittags. Gelächter, Gesprächsfetzen und die vielen verschiedenen Geräusche, die zeigten, dass hier Menschen arbeiteten, verschmolzen zu einem einzigen geschäftigen Summen.

»Schön, dass du da bist.« Markus kam ihr entgegen und versperrte ihr den Weg. »Besprechung in einer Viertelstunde.« Er drückte ihr noch einen Kuss auf die Stirn und verschwand dann in die entgegengesetzte Richtung.

Johanna ging weiter, grüßte in verschiedene Richtungen, die Namen der Kollegen waren ihr zwar immer noch nicht geläufig, aber sie sah sie jetzt schließlich täglich bei den Besprechungen. Einige nickten freundlich zurück, andere sagten sogar »Hallo«. Nur ein paar Kollegen ignorierten sie. Sie schloss ihre Zimmertür auf und trat ein. Das Unangenehme an diesem relativ neuen Gebäude war, dass die Wandfarben und Teppiche in den Räumen immer noch einen künstlichen Geruch verströmten, so dass die Zimmer morgens penetrant rochen. Wonach genau, konnte Johanna nicht sagen, aber es musste irgendetwas Metallisches sein.

Sie legte ihre Aktentasche auf den Tisch und öffnete das Fenster, noch bevor sie sich auszog und den Mantel an den Garderobenständer hängte. Ein paar interne Mitteilungen lagen auf ihrer Schreibunterlage und das blinkende Lämpchen an ihrem Telefon zeigte an, dass sich ein Anruf auf dem integrierten Anrufbeantworter befand. Sie drückte auf den Knopf und hörte die Nachricht ab. Es war Jutta, die auf ihre Instruktionen wartete und einen Bericht anmahnte, den sie einem Kollegen schreiben wollte. Es ging dabei um die Einweisung eines Polizisten in eine Entziehungsklinik. Sie hatte diesen Beamten zwar an einen Arzt überwiesen, ihr Bericht jedoch war Grundlage für die Abrechnung mit der behördeneigenen Krankenkasse. Der Anruf erinnerte sie daran, dass sie den vorläufigen Bericht für Diekmann, den sie gestern begonnen hatte, noch beenden wollte, aber ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie das vor der Besprechung nicht mehr schaffen würde. Der Bericht musste bis nach dem Besuch bei Prof. Dr. Reuschel warten.

»Guten Morgen.« Sie sah auf und blickte in Diekmanns Gesicht; er hatte tatsächlich Spuren eines Lächelns auf den Lippen.

»Guten Morgen.« Angesichts ihrer Kopfschmerzen fiel ihr Lächeln wahrscheinlich etwas gequält aus. Aus lauter Frust hatte sie gestern Abend noch die Weinflasche geleert und heute Morgen beim Aufwachen das Gefühl gehabt, als würden Hunderte kleiner Zwerge mit ihren Spitzhacken Hirnmasse in ihrem Schädel abbauen.

»Sie sehen blass aus.« Seine Stimme klang mitfühlend. Er wirkte tatsächlich ein wenig besorgt.

»Ich fürchte, ich fühle mich auch so.« Sie zog eine Schreibtischschublade auf und kramte darin herum, bis sie eine Packung Kopfschmerztabletten fand.

»Warten Sie.« Diekmann verschwand und kam Sekunden später mit einer Kanne heißem Kaffee wieder zurück.

»Das hilft Ihnen wieder auf die Beine.«

Johanna drückte zwei Tabletten aus dem Plastikstreifen, schob sie in den Mund und kippte sie mit einem Schluck Kaffee, den Diekmann ihr eingegossen hatte, hinunter. Sie hatte zwar das Gefühl, dass ihr der Kaffee auf dem Weg in ihren Magen die gesamte Speiseröhre verbrannte, aber das zeigte ihr wenigstens, dass sie noch am Leben war.

»Danke«, röchelte sie.

»Kommen Sie, wir wollen anfangen.« Er wirkte noch immer freundlich, und Johanna war ihm dankbar dafür, denn das Letzte, was sie heute wollte, war sich mit Diekmann zu streiten oder sich von ihm anschreien zu lassen. Das hätten vermutlich weder ihr Kopf noch ihre lädierten Nerven vertragen. Diekmann eilte mit kraftvollen Schritten voran, so dass alle verstummten, als sie in dem kleinen Besprechungszimmer ankamen. Er hielt Johanna die Tür auf und begab sich erst auf seinen Platz, nachdem er die Tür sorgfältig hinter sich geschlossen hatte. Der Raum war sehr klein; einige Beamte mussten auf den Fensterbänken sitzen oder sogar stehen. Der einzige Platz, der noch frei gewesen war, war der von Diekmann am Ende des langen Tisches.

Johanna blickte zur gegenüberliegenden Fensterbank hinüber und sah dort Markus sitzen. Er klopfte kurz neben sich und bedeutete ihr, zu ihm herüberzukommen. Sie schlängelte sich durch die Polizisten, die ihre Stühle kreuz und quer gestellt hatten, um ihren Chef ungehindert sehen zu können. Mit einem kleinen Seufzer ließ sie sich schließlich neben Markus nieder.

»Was ist los? Kater?« Er flüsterte, obwohl die Besprechung noch gar nicht begonnen hatte. Diekmann ordnete noch ein paar Unterlagen und unterhielt sich leise mit seinem Nachbarn zu seiner Linken.

Johanna schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Ich meine, ein bisschen Kater, ein bisschen Frust, ein bisschen schlecht geschlafen. Das volle Programm eben.«

»War Stefan gestern bei dir?«

»Ja.« Ihre Antwort kam zögerlich und sehr gedehnt, und Markus wusste aus Erfahrung, dass er Johanna dann besser in Ruhe ließ.

»Morgen, alle zusammen.« Diekmanns tiefe Stimme ließ alle aufhorchen. Johanna hatte sogar das Gefühl, dass sich einige der Anwesenden beim Klang seiner Stimme regelrecht in ihren Stühlen aufrichteten, so als würden sie strammstehen. Auch wenn sie solche Reaktionen lustig fand, wunderte sie sich wieder einmal über Diekmanns Ausstrahlung. Die Szenerie erinnerte sie an einen Gerichtssaal, in dem der Richter als uneingeschränkter Herrscher alle Blicke auf sich vereinigte und über Gut und Böse urteilte. So wie meine Mutter, fuhr es ihr durch den Kopf. Auch Markus neben ihr straffte sich kaum merklich.

»Gibt es etwas Neues?« Diekmann sah in die Runde. Einige Leute fingen hektisch an, in ihren Notizen zu kramen.

»Conny?« Er blickte eine junge Frau an, die in Johannas Nähe saß.

»Also, gut. Wir haben uns in den vergangenen Tagen intensiv um die Taxizentralen gekümmert«, fing sie mit ihrem Bericht an. »Und?«, forderte Diekmann sie auf, weiterzusprechen.

»Leider bisher erfolglos. Wir sind zwar noch nicht' ganz fertig, ich fürchte aber, das werden wir auch nicht. Die großen Taxizentralen und –unternehmen haben angegeben, keine Frauen, auf die die Beschreibungen der Ermordeten passen könnten, an den betreffenden Abenden gefahren zu haben. Aber es gibt zahllose selbstständige Taxiunternehmen, die nur ein einziges Fahrzeug in Betrieb haben. Die machen oft Touren, die sie dann nicht anmelden. Und so fürchte ich, dass wir nicht viel mehr dabei herausbekommen werden.«

Johanna registrierte erstaunt, dass eine der Anregungen, die sie gemacht hatte, tatsächlich aufgegriffen worden war. Sie streifte Markus mit einem kurzen Blick, aber er sah angestrengt in Diekmanns Richtung.

»Jochen?« Diekmann wandte sich, nachdem er Connys Ausführungen mit einem Nicken quittiert hatte, auffordernd einem anderen Kollegen zu.

»Wir haben uns um die Postzusteller gekümmert. Wenn wir davon ausgehen, dass alle Frauen in verschiedenen Stadtteilen gewohnt haben, gibt es logischerweise keine Überschneidungen. Deshalb habe ich mal die Vertretungen gecheckt. Aber auch hier gibt es niemanden, der auch nur bei zwei der Frauen gleichzeitig Post ausgetragen hätte.«

»Frau Dr. Jensen?«

Johanna schreckte auf, sie hatte nicht damit gerechnet, von Diekmann mit einbezogen zu werden. Alle drehten sich zu ihr um und sahen sie erwartungsvoll an. Sie fühlte sich nicht wohl unter den forschenden Blicken der Kollegen, aber sie riss sich zusammen und räusperte sich kurz.

»Nun, ich habe die Angehörigen noch einmal kurz befragt, musste aber feststellen, dass uns das nicht weiterbringt. Die Frauen waren grundverschieden. Eine Tatsache, die mich zugegebenermaßen ein wenig erstaunt.«

»Warum?«

»Ich hatte gehofft, wenigstens bei den Nachforschungen eine Kleinigkeit herauszufinden, also eine Übereinstimmung bei den Hobbys zum Beispiel, dieselbe Stammkneipe oder Ähnliches. Aber in diesem Fall scheint es so etwas nicht zu geben. Die eine war ständig auf Piste, wohingegen die andere sich um behinderte Kinder kümmerte. Das passt doch nicht zusammen, oder?«

»Haben Sie einen Vorschlag?«

»Ja. Vielleicht können wir von den Angehörigen Fotos von den Beerdigungen erhalten.« Einige sahen sie erstaunt und teilweise auch entsetzt an. Sie hob abwehrend die Hände.

»Ich weiß, es erscheint Ihnen pietätlos, aber sie glauben gar nicht, wie viele Leute Fotografen zu den Beisetzungen kommen lassen. Ich erhoffe mir zwar nicht sehr viel davon, aber es ist wenigstens ein Versuch. Mitunter kommen die Täter zu den Bestattungen. Sei es, weil sie sich ihrer Sache sehr sicher sind, sei es, um sich an dem Kummer der Hinterbliebenen zu weiden.« »Sie können die Bilder von mir haben. Ich hatte mir nämlich etwas Ähnliches schon gedacht«, antwortete ihr Diekmann, »wenn Sie nachher in mein Büro kommen, gebe ich Sie Ihnen.« Diekmann wandte den Blick wieder von ihr ab, sein Interesse schien ebenso schnell erloschen, wie es aufgeflammt war. »Danke.« Damit war ihr Vortrag beendet.

»Markus ?«

»Wir haben uns noch einmal die Wohnungen der Opfer angesehen. Keinen Hinweis auf gemeinsame Fitness-Studios, Sprachkurse oder dergleichen. Und es gibt keinen einzigen Hinweis darauf, dass sie dem Killer an einem bestimmten Ort ins Netz gegangen sind. Es sieht fast so aus, als habe der Mörder die Bekanntschaft mit den einzelnen Frauen zufällig gemacht.«

»Oder er war außerordentlich vorsichtig. Vielleicht hat er sie beobachtet, sich in irgendeiner Weise mit ihren Vorlieben vertraut gemacht, um dann ihre Bekanntschaft zu suchen«, gab Diekmann zu bedenken.

Das deckte sich ungefähr mit Johannas Überlegungen. Im nächsten Satz sprach er dann auch gleich ihre Befürchtung aus.

»Das würde aber bedeuten, dass wir ihm immer ein wenig hinterherhinken; und wenn er keinen Fehler macht oder unvorsichtig wird, haben wir verdammt schlechte Karten. Wir können dann nur hoffen, dass sich die Sache wie bei ›Jack the Ripper‹ von selbst erledigt.«

Jack the Ripper war nie gefasst worden, da er aber irgendwann aufgehört hatte, Frauen zu ermorden, ging man bis zum heutigen Tage davon aus, dass er nur deshalb aufgehört hatte, weil er gestorben war.

»Das kann ja ewig dauern. Dieses Risiko sollten wir dann wohl besser nicht eingehen.«

Johannas trockener Kommentar hörte sich selbst in ihren Ohren ziemlich unqualifiziert an.

»Bevor wir noch mehr solch wertvolle Beiträge erhalten, würde ich sagen, gehen wir alle zurück an unsere Arbeit.« Diekmann sammelte seine Papiere zusammen, stand auf und verließ den Raum. Alle anderen lehnten sich aufatmend zurück. Bisher hatten alle hoch konzentriert gewirkt, keiner schien in Diekmanns Anwesenheit es auch nur zu wagen, an etwas anderes als den Dienst zu denken.

»Wie sieht es mit heute Abend aus? Du hast es doch nicht vergessen?« Markus schlenderte neben Johanna den Gang entlang in Richtung ihres Büros.

»Nein, aber ich glaube, ich werde heute nicht alt bei euch. Was ist denn das für ein Typ, dieser ›Künstlerfreund‹ von Flo?«

»Ich habe keine Ahnung. Ich kenne ihn nicht. Aber Flo schwärmt von seinen Arbeiten und behauptet, schon heute würden Teile seines Werkes kaum zu bezahlen sein. Abwarten. Was hast du heute noch vor?«

»Ich habe jetzt einen Termin bei Professor Reuschel.«

»Dem Gerichtsmediziner?«

»Hm.« Johanna war sogar zum Reden zu faul.

»Was versprichst du dir davon?«

Sie zuckte müde mit den Achseln. »Ich habe keine Ahnung. Vielleicht ergibt sich etwas im Gespräch mit ihm. Ich weiß es wirklich nicht.« Johanna ließ sich schnaufend auf den Rand ihres Schreibtisches sinken.

»Und was machst du heute noch so?«

»Ich muss noch ein paar Berichte schreiben, da ich die letzten Tage nur unterwegs war. Ich werde also meine Zimmertür verschließen, das Radio anmachen und hoffen, dass man mich anstatt alle zehn Minuten, nur noch alle zwanzig Minuten stört.« »Tolle Aussichten.«

Sie schwiegen beide einen Moment, dann fragte Johanna: »Meinst du, ich kann einen Dienstwagen bekommen? Ich habe keine Lust, mit meinem Wagen zu fahren. Außerdem werde ich vermutlich kaum einen Parkplatz bekommen, aber mit einer Dienstmarke in der Windschutzscheibe könnte ich wohl direkt aufs Gelände fahren, oder?«

»Klar. Warte, wir haben einen eigenen Fahrzeugpool. Ich frag mal schnell nach.« Er griff an ihr vorbei zum Telefon und rief Walter, den Fahrzeugverwalter, an, der eifersüchtig über »seine« Dienstwagen wachte. Man hatte immer das Gefühl, man füge ihm körperliche Schmerzen zu, wenn man mit einer Beule im Kotflügel zurückkam. Johanna hatte Glück. Es gab noch ein Fahrzeug, das sie benutzen konnte, und bevor Walter es sich anders überlegte, ging Markus und holte ihr die Fahrzeugpapiere.

»Aber denk dran«, sagte er, als er mit der Mappe in der Hand zurückkam, »immer schön vorsichtig. Walter wird dich standrechtlich erschießen, wenn mit dem Auto irgendetwas nicht stimmt. Und du brauchst dich gar nicht erst zu verstecken, er findet dich überall.« Über Markus' Versuch, drohend und gefährlich zu wirken, mussten sie beide lachen.

Als Johanna vor den Haupteingang des Instituts für Rechtsmedizin fuhr, waren ihre Kopfschmerzen fast komplett verschwunden, und sie fühlte sich beinahe wiederhergestellt, wenn da nicht die Müdigkeit gewesen wäre, die ihr in den Knochen steckte.

Johanna war noch nie hier gewesen und fühlte sich ein wenig unsicher, als sie das Gebäude betrat. Am liebsten wäre sie umgekehrt. Allein das Wissen, dass hier Tote lagen und darauf warteten, irgendwann abgeholt und zur ewigen Ruhe gebettet zu werden, nahm ihr die Luft zum Atmen. Ihr fiel die Aussegnungshalle ein, in der ihr Vater aufgebahrt gewesen war. In dem Raum war es kalt gewesen, so als sei es ein Frevel, Wärme zu verbreiten, wo es nur Tod gab. Der erstickende Duft der Blumen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Trost im Angesicht Gottes nicht zu erwarten war.

Johanna schüttelte sich unwillkürlich, um die trüben Gedanken zu vertreiben. Auf der linken Seite gleich hinter dem Eingang befand sich eine Portierloge, auf die sie zusteuerte. Sie wies sich aus und erkundigte sich nach Prof. Dr. Reuschel.

Der junge Mann hinter der Glasscheibe bat sie, einen Moment zu warten. Nach fünf Minuten erschien ein ältere Mann in der Eingangshalle, der sich beim Portier augenscheinlich nach ihr erkundigte, denn der Portier deutete in ihre Richtung. Johanna stand auf und ging dem älteren Herrn entgegen. Er wirkte zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt und war fast weißhaarig und erschreckend bleich. Zu allem Überfluss musste er fast blind sein, denn hinter den Gläsern seiner dicken Hornbrille sahen die Augen überdimensional groß aus. Er hatte kleine dunkle, stechende Augen, die sie misstrauisch musterten. Seine Stimme klang ungeduldig, als er sie begrüßte.

»Frau Doktor Jensen?«

»Herr Professor Reuschel. Nett, das Sie Zeit für mich haben.« Sie reichte ihm die Hand und war erstaunt ob seines festen Händedrucks. So wie er aussah, hätte Johanna eher erwartet, dass seine Hände weich und feucht waren.

»Kommen Sie doch bitte mit in mein Büro.« Er ging vorweg und bog gleich hinter dem Empfang nach links ein. Dann verlangsamte er seinen Schritt ein wenig und wartete, bis sie aufgeholt hatte.

»Waren Sie schon einmal hier?«

»Nein, Gottlob nicht. Ich glaube nicht, dass das das Richtige für mich ist.«

»Möchten Sie nachher vielleicht einen kleinen Rundgang machen?«

»Oh.« Johanna wollte nicht unhöflich sein, und wusste nicht recht, wie sie ihre Ablehnung begründen sollte. Der Pathologe kicherte plötzlich.

»War nur ein Scherz. Sie wären die erste Außenstehende, die sich hier um eine Besichtigungstour reißen würde. Aber ganz im Ernst, wenn Sie sich irgendwann genauer umsehen wollen, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung. So unter Kollegen.« Er zwinkerte ihr freundlich zu.

»Bitte.« Er führte sie in ein kleines Büro, das im Gegensatz zu ihrem eigenen erstaunlich aufgeräumt aussah. Er bot ihr den Stuhl vor seinem Schreibtisch an und ging selbst um das Möbelstück herum. Dann setzte er sich, faltete die Hände auf der blank polierten Platte und sah sie aufmunternd an.

»Und? Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Ich denke, Herr Diekmann hat Sie bereits informiert?«

»Er sagte, dass Sie ebenfalls mit dem Fall des Serienmörders betraut sind und einige Auskünfte benötigten.« Johanna konnte dieser Äußerung keinen Hinweis entnehmen, ob Diekmann vielleicht noch etwas anderes über sie gesagt hatte, zumindest ließ sich der Professor nichts weiter anmerken.

»Das stimmt. Ich arbeite erst seit vier Tagen an diesem Fall und sehe schon jetzt kein Land mehr. Sie haben doch die Autopsien an den vier Frauen durchgeführt?«

Ja, ganz recht.« Seine Augen nahmen einen ernsten Ausdruck an. Vermutlich seine Art, den Verstorbenen Tribut zu zollen.

»Und? Was haben Sie herausgefunden?«

Reuschel lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wippte auf und ab. Mit dem Nagel des rechten Zeigefingers malte er unablässig Kreise auf das lackierte Holz. »Schwer zu sagen. Ich kann nur noch einmal betonen, dass ich keine Ahnung habe, woran die Frauen gestorben sind. Es hat keine Hinweise auf Fremdeinwirkung gegeben und es gab keine äußeren Verletzungen – bis auf einen Fall. Und auch da waren es nur leichte Spuren von Fesseln an den Handgelenken.«

»Also könnte es sich um Gift handeln?«

»Ich gehe davon aus, ich kann Ihnen aber beim besten Willen nicht sagen, welches. Es gibt eine Unmenge von Giften, und einige kann man nicht so ohne weiteres nachweisen.«

»Und was ist mit Medikamenten?«

»Medikamente sind auch Gift. Passen Sie auf«, er lehnte sich wieder nach vorne und versuchte Johanna die Problematik zu erläutern, »im Allgemeinen wird ein toxikologisches Screening durchgeführt. Wir können damit so ziemlich alle Spuren gängiger Gifte feststellen. Dieses Screening hat aber nichts erbracht. In einem Fall, ich glaube, das war bei der Leiche der Gudrun Spengler, hatte ich zuerst den Verdacht auf eine Alkoholintoxikation, also eine Alkoholvergiftung, das hat sich dann aber nicht bestätigt. Bei der Untersuchung habe ich mich auf Herzmedikamente und Medikamente, die die Atmung lähmen, konzentriert, zum Beispiel Äthylenglykol.«

»Und Zyanid und Kohlenmonoxid?«

»Selbstverständlich habe ich auch diese beiden Wirkstoffe überprüft, obwohl das in diesem Fall ziemlich unwahrscheinlich gewesen wäre, denn dann hätten die Leichen anders ausgesehen. Bei einer Vergiftung mit Kohlenmonoxid wären die Totenflecken eher kirschrot gewesen. Bei Zyanid hingegen hätte die Leiche zumindest bläuliche Lippen aufgewiesen. Auch die Tests auf Doxylamin und Diphenhydramin verliefen negativ.«

Wie Johanna wusste, handelte es sich hierbei um starke Schlaf- und Beruhigungsmittel. Sie überlegte einen Moment.

»Und was ist mit Rohypnol und Valoron?«

»Negativ.«

Johanna seufzte und lehnte sich zurück. »Haben Sie noch eine andere Idee?«

Der Gerichtsmediziner zog die Schultern hoch und schüttelte dann den Kopf. »Nein, es tut mir Leid, aber wir bräuchten schon einen kleinen Anhaltspunkt, in welche Richtung wir die Tests durchführen sollen, sonst sitzen wir hier noch in zwei Jahren.«

»Konnten Sie irgendwelche frische Operationsnarben erkennen?«

»Nein. Auch da kann ich Ihnen leider nichts Interessantes liefern.«

»Natürlich. Das wäre auch zu schön gewesen. Dann hätten wir vielleicht herausfinden können, wo der Mörder die Frauen kennen gelernt hat. Vielleicht waren ja alle vier Frauen in einem Krankenhaus. Da könnte man den Kreis der möglichen Täter dann leicht eingrenzen.«

Reuschel sah sie belustigt an. »Sie greifen wirklich nach jedem Strohhalm, nicht wahr?«

Johanna seufzte. »Sie haben Recht. Mittlerweile habe ich wirklich abgefahrene Ideen, aber ich weiß mir bald keinen Rat mehr.«

»Ich fürchte, ich kann Ihnen nur eines mit absoluter Sicherheit sagen.«

»Und das wäre?«

Der Arzt hob bedauernd die Hände. »Die Herzen der Frauen haben einfach aufgehört zu schlagen.«

Als Johanna wieder draußen an ihrem Wagen stand, holte sie tief Luft. Nicht nur, dass sie in Ihrem Fall keinen Schritt weitergekommen war, nein, sie schien zu allem Übel auch noch auf ein Mitglied von Diekmanns Fangemeinde gestoßen zu sein. Der Professor hatte ihr Grüße an Diekmann aufgetragen und sie gebeten, ihn daran zu erinnern, dass sie mal wieder zusammen Tennis spielen wollten. Es war zum aus der Haut fahren!

Auf dem Weg zurück ins Präsidium entschloss sie sich kurzfristig, einen Spaziergang im Stadtpark zu unternehmen. Anstatt links in die .Hindenburgstraße abzubiegen, parkte sie auf dem Parkstreifen kurz hinter dem ersten Fußgängerüberweg und schlenderte dann in Richtung Observatorium. Mit jedem Schritt merkte sie, wie es ihr leichter ums Herz wurde. Das Gefühl, dass etwas ihr die Luft abschnürte, war im Institut übermächtig geworden. Sie holte tief Luft. Der Himmel war zwar bewölkt, aber sie fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. Mit der Unbekümmertheit und Freude eines Kindes trat sie in die großen bunten Blätterhaufen. Ihre Mutter hatte ihr immer verboten, die Blätter auseinander zu wirbeln, weil angeblich viele Menschen damit beschäftigt waren, diese zusammenzurechen. Wie aus Trotz wirbelte sie noch mehr Blätter durcheinander. Eigentlich mochte sie den Herbst. Er war ehrlich und verbarg nichts. Sein Licht war gnadenlos und machte verletzlich; jeder noch so kleine Fehler wurde plötzlich sichtbar.

Sie überdachte das Gespräch, das sie vor wenigen Minuten mit Professor Reuschel geführt hatte, und kam zu dem Schluss, dass er ihr wenigstens ein bisschen weitergeholfen hatte. Zumindest erhärtete sich ihre Theorie, dass der Täter seine Opfer gekannt haben musste. Da es keinerlei Kampfspuren an den Leichen gegeben hatte, mussten die Frauen das Gift, wenn es denn eines gewesen war, und danach sah es aus, freiwillig und in seiner Gegenwart eingenommen haben. Irgendwo in den Ermittlungen gab es eine Schwachstelle, etwas, das bisher nicht beachtet, ein Muster, das noch nicht erkannt worden war.

Sie blieb einen Moment auf der großen Rasenfläche vor dem Observatorium stehen und ließ das Gebäude auf sich wirken. Als Kind war sie gerne hierher gekommen. Es hatte sie fasziniert, dass es immer gleich aussah. Egal, ob Sommer oder Winter, egal, ob sie zwölf oder fünfunddreißig Jahre alt war, guter oder schlechter Laune, das Gebäude war immer da geblieben. Unverrückbar. Dieses Gebäude hatte Symbolkraft für sie, und auch heute spürte sie die alte Faszination, die ihr, wie schon früher neue Kraft gab. Ihr Vater hatte sie und ihren Bruder das erste Mal hierher gebracht, als Johanna kaum acht Jahre alt gewesen war. Sie konnte sich nicht erinnern, ob ihre Mutter auch dabei gewesen war, aber sie glaubte es nicht. Denn wenn sie dabei gewesen wäre, wäre ihr dieser Ort vermutlich eher bedrohlich in Erinnerung geblieben. Sie schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Vor ihrem geistigen Auge erschienen die kalten und harten Augen ihrer Mutter. Sie hatte ihren Blick ebenso gehasst wie gefürchtet. Und es waren eben diese Augen, die sie auch an Diekmann so sehr hasste. Die gleiche herrische Art, die sie an eine dunkle Zeit erinnerte, die man Kindheit nannte. Ganz langsam holte sie tief Luft. Erst als sie das Gefühl hatte, dass ihre Lungen gleich platzen würden, atmete sie wieder aus. Sie öffnete die Augen. Noch immer stand das Gebäude trutzig und unverrückbar vor ihr.

Zurück im Präsidium, gab sie zuerst die Fahrzeugpapiere zurück und betonte, dass das Fahrzeug nicht einmal Schmutzspuren aufwies, geschweige denn irgendwelche Beschädigungen. Mit einem Grunzen nahm Walter ihr die Schlüssel ab, und hängte sie fast zärtlich an ein Brett, das mit kleinen Zetteln geschmückt war, auf denen die Kennzeichen der einzelnen Wagen notiert waren. Er schien erst zufrieden, als die Schlüssel leise neben dem richtigen Schildchen baumelten. Fast befürchtete Johanna, dass er die Schlüssel noch einmal streicheln und tätscheln könnte.

Der Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie fast eine Stunde lang im Stadtpark umherspaziert war. Mittlerweile herrschte auf dem Flur geschäftiges Treiben. Johanna ließ sich mit schlechtem Gewissen und einem tiefen Seufzer der Erleichterung in ihrem Büro auf ihrem Stuhl nieder.

»Und? Wie war's? Bisschen Leichenduft geschnuppert?«

»Sehr witzig.« Sie hatte sich ein wenig erschreckt, als Markus sie von hinten ansprach.

»Ich weiß, warum ich Psychologin geworden bin. Als Medizinerin hätte ich an Autopsien teilnehmen müssen, und ich glaube, das wäre der Stolperstein in meinem Studium gewesen.«

»Man kann sich daran gewöhnen.«

»Du vielleicht. Mein Ding ist das nicht. Stimmt es, dass ihr bei den Autopsien dabei sein müsst? Ich habe das mal irgendwo gelesen.«

»Wenn es unsere eigenen Fälle sind, dann ja«, bestätigte Markus, »und du hast Recht, es ist unangenehm, aber wie gesagt, man kann sich an alles gewöhnen. Bei den ganz fiesen Fällen trägst du außerdem eine Art Mondanzug mit einem kleinen Sauerstoffgerät, so dass du den Gestank nicht so richtig mitbekommst.« Johanna schauderte bei seinen Worten.

Er kam näher und setzte sich ihr gegenüber. »Bist du weitergekommen?«

»Nein. Nicht wirklich.« Sie erzählte ihm von ihrem Gespräch mit Reuschel und fügte seufzend hinzu: »Es ist zum aus der Haut fahren. Ich habe immer mehr das Gefühl, dass wir von falschen Voraussetzungen ausgehen. Irgendwo sind wir falsch abgebogen. Aber das ist nur so ein Gefühl.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Gibt es nicht irgendetwas, was uns weiterhelfen könnte?«

»Ich hänge seit Tagen am Telefon und habe herausgefunden, dass Maike Behrens seit kurzem in einem Fitnesscenter angemeldet war. Aber ich glaube nicht, dass das so Aufsehen erregend ist.«

Johanna dachte kurz nach. »Vielleicht nicht, aber einen Versuch ist es wert. Beschaff dir eine Mitgliederliste dieses Studios und jage sie alle durch den Computer.«

»Bist du verrückt? Wozu soll das gut sein?«

»Tu es einfach. Mir zuliebe.«

»Also gut.« Markus erhob sich seufzend. »Dein Wunsch ist mir Befehl. Haben Mylady noch einen Wunsch?« Er verbeugte sich grinsend vor ihr.

»Ja. Sag Diekmann bitte nichts davon. Was meinst du, wie lange du dazu brauchst?«

»Die Liste kann ich morgen besorgen. Das mit dem Computer dauert einen halben Tag. Also ich denke, morgen Nachmittag weiß ich mehr.«

Johanna überlegte. »Wie lange war sie Mitglied in diesem Fitnessclub?«

»So ungefähr drei Monate. Sie war wohl, nachdem was ich gehört habe, zirka dreimal die Woche dort.«

»Okay. Viel können wir nicht mehr falsch machen, oder?« Sie versuchte ein aufmunterndes Lächeln.

»Wahrscheinlich hast du Recht. Noch etwas«, Markus war schon auf dem Weg zur Tür, »denk an heute Abend. Wenn du nicht kommst, spricht Flo kein Wort mehr mit dir. Und das für die nächsten zehn Jahre.«

Johanna wurde rot. Sie fühlte sich ertappt, denn sie hatte tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, die Verabredung abzusagen.

»Nein, nein«, versuchte sie ihre Verlegenheit zu überspielen, »keine Sorge, ich werde da sein.«

Markus reckte den Zeigefinger in ihre Richtung, als wäre er eine Pistole. »Gut.«

Nachdem er gegangen war, blieb Johanna noch einen Moment sitzen und starrte auf ihre Hände. Schließlich raffte sie sich auf Es half nichts, der Bericht musste fertig werden. Das brachte sie zwar keinen Schritt weiter, gab ihr aber wenigstens ein Gefühl der Daseinsberechtigung.

Immerhin etwas.