11

Das Telefon riss Johanna aus dem Tiefschlaf. Sie tastete nach dem Telefonhörer, der, wie immer, irgendwo auf oder in ihrem Bett lag. Als sie den Hörer fand, zog sie ihn ans Ohr, ohne die Augen zu öffnen.

»Hm.«

»Johanna, bist du das?«

Johanna war zu verschlafen, um die Stimme zu erkennen. »Wer ist da?«, knurrte sie.

»Johanna, ich bin es, Flo. Ich mache mir schreckliche Sorgen um Markus. Er ist immer noch nicht zu Hause.« Flos Stimme klang tatsächlich ängstlich. Johanna grabschte nach ihrem Nachttischchen und bekam das Kabel ihrer kleinen Lampe, das sich irgendwie unter ihrem Kissen verfangen hatte, zu fassen. Sie knipste das Licht an und schaute auf die Uhr.

»Es ist zehn Minuten nach zwei.« Sie blinzelte etwas, um sich an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen.

»Ja, und Markus müsste schon seit Stunden zu Hause sein. Er war heute beim Fußball.«

»Vielleicht ist er mit seinen Kumpels versackt?« Johanna setzte sich auf und rieb sich die Augen. Es war wirklich verdammt früh, und sie hatte so schön geschlafen.

»Nein, ich habe schon bei einigen seiner Mannschaftskameraden angerufen. Sie haben zwar etwas getrunken, aber Markus ist um halb acht gegangen. Er hätte um kurz nach acht hier sein müssen. Er ruft immer an, wenn er sich verspätet.« Flos Stimme klang jetzt ein wenig weinerlich. Man merkte ihm die Sorgen an, die er sich machte. Johanna zwang sich, die Augen aufzuhalten. Es war wirklich nicht Markus' Art, so lange wegzubleiben, ohne ein Wort zu sagen. Sie hatte ihn immer als sehr zuverlässigen Freund gekannt.

»Hast du noch irgendjemanden angerufen?«

»Ja, ich hab noch in unserem Stammlokal angerufen, aber da hat er sich heute nicht blicken lassen. Johanna, ich habe wirklich ein wenig Angst um ihn.«

»Okay, bleib ganz ruhig. Ich komme zu dir, okay? Und mach mir einen starken Kaffee, ja?«

»Oh, du bist ein Schatz.« Man hörte die Erleichterung aus Flos Stimme heraus. Johanna spürte, dass er sich in seiner Angst sehr allein fühlte, und auch wenn sie glaubte, dass Markus bald, wahrscheinlich ziemlich beschwipst, nach Hause kommen würde, so war sie doch sofort bereit, Flo beizustehen.

Sie stand auf und putzte sich schnell die Zähne. Nachdem sie wahllos ein paar Klamotten aus dem Wäschekorb mit der sauberen Wäsche herausgewühlt hatte, saß sie zehn Minuten später in ihrem Auto und fuhr durch die dunkle, nasse Nacht zu Flo. Das schöne Wetter schien nun endgültig der Vergangenheit anzugehören. Der erste Herbststurm hatte eingesetzt, und der Regen peitschte gegen die Scheibe. Ihre Scheibenwischer schafften es kaum, der Wassermassen Herr zu werden. Johanna beugte sich weit vor Richtung Windschutzscheibe, um überhaupt etwa erkennen zu können. Die Straße glänzte nass und war mit feuchtem Laub bedeckt.

Als sie ankam, fand sie das Haus hell erleuchtet; kaum hatte sie den Motor ausgemacht, stand auch schon Flo in der Haustür. Er stand frierend, die Arme um den Oberkörper geschlungen, in dem hellen Lichtschein, der aus dem Flur durch die offene Tür fiel. Johanna lief auf ihn zu und gab ihm zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. »Um Himmels willen, lass uns bloß reingehen. Es ist verdammt kalt hier draußen.« Flo trat einen Schritt zur Seite und ließ Johanna in den Hausflur huschen. Dann schloss er die Tür und blieb im Flur stehen.

»Er hat sich noch immer nicht gemeldet.« Er beantwortete Johannas Frage, bevor sie sie stellen konnte.

»Lass uns erst einmal reden, dann sehen wir weiter.« Sie gingen beide ins Wohnzimmer. Flo erzählte, was er schon am Telefon gesagt hatte. Johanna hörte sich alles noch mal an und spürte plötzlich, wie sie ein kalter Schauder überlief. Markus war jetzt seit sechs Stunden überfällig. Das war nicht seine Art. Flo hatte ihre Reaktion bemerkt und legte besorgt eine Hand auf Johannas Arm. »Was hast du? Ist irgendwas?«

»Nein, nein, mir ist nur ein bisschen kalt.« Sie wollte Flo nicht beunruhigen, zumal sie auch gar nicht genau wusste, wie sie ihre Gefühle beschreiben sollte. Unwillkürlich zog sie ihre Jacke ein wenig enger um den Körper.

»Was machen wir denn jetzt?« Flo saß halb auf der Sofakante und schaute Johanna flehend an.

»Wenn ich das wüsste.« Johanna rieb sich mit beiden Händen fest übers Gesicht, so als könne ihr das helfen, logisch und klar zu denken. Sie hatte wirklich keine Ahnung. Sie könnten natürlich alle Krankenhäuser anrufen, aber selbst wenn sie es schafften, bezweifelte sie, dass man ihnen tatsächlich Auskunft erteilen würde. Auch die jeweiligen Polizeiwachen würden nichts sagen, das wusste sie. Es gab nur eine Möglichkeit. Und auch wenn ihr diese Möglichkeit nicht behagte, musste sie ihren Stolz überwinden. Hier ging es schließlich um Markus und nicht um sie selbst. Sie seufzte.

»Also gut, ich denke, ich werde Diekmann anrufen.«

»Aber was ist, wenn ich mir umsonst Sorgen mache und Markus wieder auftaucht. Meinst du nicht, dass Diekmann dann sauer ist?« Johanna konnte Zweifel in Flos Augen sehen.

»Machst du dir nun Sorgen oder nicht?«, fuhr sie ihn ungehalten an und bereute es sofort wieder.

Ja, schon ...«

»Na, also. Hat Markus hier ein Telefonregister?«

»Er hat eine Liste mit den Nummern aller Kollegen, falls er zu einem Einsatz gerufen wird. Warte, ich hole sie schnell.« Flo sprang hektisch auf und lief zurück in den Flur. Aus der Schublade eines kleinen antiken Tischchens, auf dem auch das Telefon stand, holte er einen dünnen Hefter. Er kam zurück und reichte ihn Johanna, die noch immer auf dem Sofa saß. Er selbst stand händeringend vor ihr. Johanna klatschte mit einer Hand auf den Plastikeinband und versuchte möglichst ruhig zu wirken. Dann sagte sie:

»Bitte, Flo, setz dich. Versuche, dich zu beruhigen, ja? Du machst mich wahnsinnig, wie du da so rumläufst, und außerdem bringt es nichts, wenn wir jetzt beide in Panik geraten. Also setz dich hin.« Die letzten Worte sprach sie langsam und eindringlich, was tatsächlich Wirkung zu haben schien. Flo ließ sich wieder auf die Sofaecke sinken. Er wartete ab, die Hände fest ineinander verschränkt. Johanna blätterte in dem kleinen Ordner. Ihre Finger glitten von Name zu Name. Endlich hatte sie Diekmann gefunden.

»Hier ist er.« Sie nahm den Hörer auf und versuchte umständlich zu wählen und gleichzeitig die Seite mit Diekmanns Nummer mit der anderen Hand festzuhalten. Während sie darauf wartete, dass jemand abnahm, tippte sie nervös mit den Fingernägeln auf die Tischplatte. Nach einer kleinen Ewigkeit sprang Diekmanns Anrufbeantworter an. Seine Stimme klang ein wenig hohl und verzerrt durch die Technik. Auch Johannas Stimme klang auf dem Ansagetext ihres eigenen Gerätes immer ein bisschen verschnupft. Nach dem angekündigten Piepton, fing Johanna an zu sprechen.

»Herr Diekmann, hier ist Johanna Jensen. Ich bitte Sie, nehmen Sie ab. Ich bin bei Markus, der spurlos verschwunden ist. Herr Johannsen und ich machen uns große Sorgen. Wir brauchen Ihre Hilfe. Ich ...«

»Ja?«

Dieses kleine Wort reichte schon, um Johanna zu zeigen, dass Diekmann nicht gerade erfreut über ihren Anruf war.

»Herr Diekmann, Gott sei Dank, Sie sind zu Hause! Markus ist verschwunden.«

»Verschwunden?«

»Ja. Er wollte um kurz nach acht zu Hause sein und hat sich bis jetzt nicht gemeldet, was ganz und gar nicht seine Art ist.«

Diekmann sagte nichts. Als die Stille anfing, unangenehm zu werden, befürchtete Johanna, dass er aufgelegt hatte.

»Sind Sie noch da?«

»Ja, ja, ich überlege. Hat er vielleicht einen über den Durst getrunken?«

»Flo hat die Mannschaftskameraden angerufen, und die haben gesagt, dass er um halb acht aufgebrochen ist, um nach Hause zu gehen. Hier ist er aber bisher nicht angekommen.«

»Gut. Ich werde mich in den Krankenhäusern erkundigen. Ich melde mich so schnell wie möglich bei Ihnen. Sie bleiben bei Florian!«

Bevor Johanna etwas erwidern konnte, hatte er das Gespräch unterbrochen. Sie war unendlich erleichtert. Es war, als habe er ihr eine große Verantwortung von den Schultern genommen. Sie fragte sich, ob Diekmann das selbst auch als Verantwortung empfand, und schalt sich gleich darauf. Dieser Druck war nur entstanden, weil sie nicht recht gewusst hatte, was zu tun war. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hätte anfangen sollen. Bei Diekmann war das anders. Er als Polizist hatte andere Möglichkeiten, vielleicht kannte er auch dieses Gefühl von Hilflosigkeit nicht, von Machtlosigkeit, das einem die eigenen Grenzen aufzeigte. Sie drehte sich lächelnd zu Flo um und drückte ihm beruhigend die Hand.

»Es wird alles gut. Diekmann kümmert sich jetzt um alles und meldet sich hier so bald wie möglich.« Flo drückte ihre Hand. Er kniff die Lippen fest zusammen – vielleicht um seine Tränen zurückzuhalten, vielleicht aber nur, um so auszudrücken, dass es schon gut gehen würde. Johanna stellte verwundert fest, dass auch Flo, genau wie Markus, grenzenloses Vertrauen zu Diekmann zu haben schien.

Die nächsten Stunden zogen sich endlos hin. Flo kochte eine Kanne Kaffee nach der anderen und lief ansonsten unruhig auf und ab. Johanna gelang es zwischendurch, ihn zur Ruhe zu bringen, indem sie ein Kartenspiel vorschlug, aber schon nach einiger Zeit sprang Flo auf, warf die Karten auf den Tisch und nahm seine unruhige Wanderung durch die Wohnung wieder auf. Johanna erkannte, dass es nur noch eine Möglichkeit gab, Flo zur Ruhe zu bringen.

»Erzähl mir von euch beiden.«

Flo drehte sich um und sah Johanna erstaunt an.

»Was genau willst du wissen? Du weißt doch eigentlich alles, schließlich warst du diejenige, die unsere Beziehung gerettet hat?«

»Das mag sein, aber das war der berufliche Teil, und den kenne ich fast ausschließlich aus Markus' Sicht. Erzähl du mir etwas aus deiner Sicht, von deinen Empfindungen.«

Flo ließ noch für einen Moment seinen Blick auf Johanna ruhen, wandte sich dann ab und begann wieder auf beinahe manische Art auf und ab zu gehen. Johanna wollte sich gerade frustriert damit zufrieden geben, dass ihr Trick nicht fruchtete, als Flo plötzlich anfing zu sprechen.

»Als ich ihn damals zum ersten Mal sah, habe ich mich sofort in ihn verliebt. Er strahlte so eine Ruhe aus.« Flos Stimme klang zärtlich, und sein Blick war verträumt nach innen gekehrt. Er brach seine Wanderung ab und blieb plötzlich beinahe entspannt mitten im Raum stehen.

»Am Anfang war er sehr schüchtern, und ich bemerkte schnell, dass er sogar sich selbst gegenüber Schwierigkeiten hatte, einzugestehen, dass er schwul war. Aber, na ja, du weißt ja, wie so etwas läuft.« Flo kehrte zum Sofa zurück und ließ sich langsam nieder. Seine Bewegungen waren nicht mehr so hektisch, sein Atem ging ruhiger. »Ich dachte ›Florian, warte ab, du wirst ihn ändern, mit viel Liebe und blablabla‹.« Er lehnte sich mit im Schoß verschränkten Händen zurück und schien noch tiefer in sich hineinzuhorchen. Seine Augen verschleierten sich. »Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass er sich nicht nur schämte, schwul zu sein, sondern sich auch für uns, also für mich schämte.« Flo seufzte tief. »Es war eine schwere Zeit. Er war so hin und her gerissen. Auf der einen Seite liebte er mich, auf der anderen Seite wollte er nicht anders sein als die anderen. Ich glaube, wenn du nicht dazwischengegangen wärst, hätte er sich entweder umgebracht oder er hätte geheiratet und wäre Vater geworden.«

»Ja, und zwischendurch wäre er in schummrige Schwulenshops geschlichen und mit einem schlechten Gewissen wieder herausgekommen«, setzte Johanna hinzu. Flo nickte. Er überlegte eine Weile, doch dann fuhr er fort zu erzählen. »Ja, wahrscheinlich. Nun, auf jeden Fall ging er dann plötzlich zu dir. Zuerst habe ich gedacht, dass unsere Beziehung hiermit vorbei sei. Er wirkte noch ruhiger, zog sich noch mehr in sich selbst zusammen. Ich hatte das Gefühl, dass ich nie wieder Zugang zu ihm finden würde. Aber schließlich schien er regelrecht aus einem Dornröschenschlaf zu erwachen, und unsere Beziehung lebte wieder auf. Es ging langsam, aber ich merkte fast jeden Tag kleine Fortschritte. Es war fast wie ein Wunder.« Flo sah zu Johanna hinüber. In seinen Augen konnte Johanna die tiefe Dankbarkeit erkennen, die damals beide für sie empfunden hatten. Gott sei Dank war daraus Freundschaft geworden, denn sie hätte nicht mit ewiger Dankbarkeit leben können. So etwas war schon beinahe demütigend.

»Und wie ist es heute?« Johannas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie wollte die Ruhe, die eingekehrt war, nicht durch ein lautes Wort zerstören.

»Heute? Ich bin fast sicher, dass wir den Rest unseres Lebens zusammenbleiben werden. Wie du weißt, wollten wir ja auch ›heiraten‹.« Er blickte Johanna leicht lächelnd an, doch dann kehrte wieder die Angst in seine Augen zurück. Sie erschraken beide, als die Türklingel laut bimmelte.

»Ich mach auf.« Johanna war schon aufgesprungen und auf dem Weg zur Tür. Sie nahm sich fest vor, Markus mit einer heftigen Ohrfeige zu begrüßen, falls er vor der Tür stehen sollte. Als sie aber die Tür schwungvoll aufriss, stand Diekmann vor ihr. Es regnete noch immer, und er hatte zum Schutz vor dem Regen den Jackenkragen hochgeschlagen. Das Wasser lief ihm bereits in den Nacken. Sein Haar war nass, und in seinen Augen spiegelte sich Besorgnis, was Johanna noch nie zuvor an ihm bemerkt hatte.

»Kann ich reinkommen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schob Diekmann sich an ihr vorbei ins Haus. »Und?« Flo war in den Flur getreten und sah Diekmann ängstlich an.

»Ob ich wohl einen Kaffee bekommen könnte? Es ist verdammt kalt und nass draußen.«

Ja, natürlich. Einen Moment bitte, Herr Diekmann.« Flo eilte in die Küche und setzte neuen Kaffee auf. Der alte, der in der Thermoskanne vor sich hin schwappte, war nur mehr eine ungenießbare Brühe.

***

Als das Telefon geklingelt hatte, war er hellwach gewesen. Er war am Fenster gestanden und hatte in den dunklen Sturm hinausgesehen. Es war eine jener Nächte, in denen er nicht schlafen konnte. Er hatte das manchmal nach schwierigen Fällen. Die Gesichter der Opfer und die Gesichter der Mörder ließen ihn dann nicht zur Ruhe kommen. So wie in diesem Fall. Er hatte im Geist die toten Frauen vor sich gesehen und sie mit dem leeren Blick und dem unbewegten Gesicht jenes Mannes, den sie als Mörder verhaftet hatten, verglichen. Es waren die Gesichter, die er nicht miteinander in Einklang bringen konnte. Irgendwie hoffte er, etwas zu finden, das die ganze Sache wenigstens im Ansatz erklären konnte. Sobald dieser Psychiater, Dr. Breutigam, es erlauben würde, wollte er sich Neuss mal zur Brust nehmen. Außerdem hatte er sich gefragt, ob die Gedanken dieses Mannes genauso stumpf wie seine Augen waren und ob ein Mörder eine Rechtfertigung brauchte, um weiterleben zu können. Außerdem hatte er daran gedacht, was die Jensen ihm gegenüber einmal über die eigene Realität von Serienmördern erwähnt hatte. Er hatte sich eine Art Parallelwelt vorgestellt, in der es kein Gut und kein Böse gab. Oder zumindest keinen Unterschied zwischen diesen beiden Komponenten einer funktionierenden Gesellschaft, die verhinderten, dass die Anarchie die Oberhand gewann. Manchmal glaubte er, dass es die falsche Entscheidung gewesen war, die Mordkommission zu übernehmen. Dabei ging es ihm nicht um Bandenkriege oder Milieumorde. Auch wenn es zynisch klang, aber in diesen Fällen kamen meist nur Menschen um, die es sich selbst zuzuschreiben hatten.

Es ging ihm um Fälle wie diesen. Fälle, in denen wehrlose, unschuldige Menschen umkamen, nur weil ein Irrer seine perversen Gelüste ausleben wollte. Oder Fälle, in denen Säuglinge, die irgendwo ausgesetzt worden waren, einen grausamen und einsamen Tod sterben mussten. Aber auch hierfür hatte diese verdammte Psychologin mit Sicherheit eine Erklärung. Er war froh gewesen, dass er sie endlich los war. Es hatte ihn förmlich angeekelt, wie sie trotz allem immer eine Entschuldigung gesucht hatte für das, was da draußen geschehen war.

Als der Anrufbeantworter angesprungen war und er die Stimme der Jensen gehört hatte, war er versucht gewesen, das Telefon an die Wand zu schmeißen – als könne er sie allein dadurch zum Schweigen bringen. So manches Mal hätte er sie wirklich erwürgen können. Aber da war etwas in ihrer Stimme gewesen, das ihn aufhorchen ließ. Es war um einen seiner besten Mitarbeiter gegangen, und er wusste, wie zuverlässig Markus war. Dass er einfach so mir nichts, dir nichts verschwand, konnte er sich nicht vorstellen. Er hatte ohnehin nicht schlafen können, also hatte er abgehoben.

***

Diekmann hatte seine Jacke ausgezogen und sie über die Heizung gehängt. Sie war nicht nur außen, sondern auch innen nass geworden. Er ließ sich dabei viel Zeit, denn er wusste nicht genau, wie er Florian gegenübertreten sollte. All seine Nachforschungen waren erfolglos geblieben. Markus war in keines der Krankenhäuser eingeliefert worden, und keine der Polizeiwachen in Hamburg – er hatte sogar bis nach Bergedorf telefoniert –, wusste etwas von einem etwaigen Unfall. Flo kam mit einem Tablett sauberer Tassen aus der Küche und stellte es auf dem Wohnzimmertisch ab. Er drehte sich um und sah Diekmann hoffnungsvoll an.

»Und? Haben Sie etwas herausgefunden?«

Diekmann schüttelte den Kopf. Er kam langsam näher und blieb vor Flo stehen. »Es tut mir Leid, Florian. Ich kann Ihnen noch nichts Genaueres sagen. Auf jeden Fall ist Markus in keinem Krankenhaus und er hatte auch keinen Unfall. Aber ich denke, wir sollten uns setzen, ja?« Das krampfhafte Lächeln auf Flos Gesicht verschwand, und seine Angst, die für einen Moment von Hoffnung überdeckt gewesen war, kehrte zurück.

»Hören Sie, Florian. Ich habe eine Fahndung nach Markus erlassen. Ich befürchte, dass sein Verschwinden etwas mit seiner Arbeit zu tun haben könnte.

»Mit seiner Arbeit? Was soll das denn heißen?«

Diekmann ging nicht weiter auf Flos Frage ein, sondern stellte ihm seinerseits gleich ein paar Fragen.

»War Markus in letzter Zeit verändert? Ich meine, war er niedergeschlagen oder ängstlich oder so etwas?«

»Nein.« Florian schüttelte verständnislos den Kopf.

»Hatte er Feinde, die ihn vielleicht bedroht haben? Hat er sich irgendwie dahingehend geäußert?«

»Nein, aber ich verstehe nicht ...« Plötzlich runzelte Flo die Stirn und schien zu begreifen, in welche Richtung Diekmanns Fragen abzielten. »Sie meinen, er ist entführt worden? Das ist es doch, was sie glauben, nicht wahr?«

Diekmann blähte die Backen auf und atmete geräuschvoll aus.

»Ich befürchte es, ja.«

»Oh Gott.« Flo schlug beide Hände vors Gesicht. Johanna kam und kniete sich vor Flo. Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und streichelte ihm über das Haar, während sie beruhigend auf ihn einsprach. Flo schien sich im Moment nicht trösten lassen zu wollen, denn er hatte sich versteift und ließ sich nur widerstrebend von Johanna festhalten. Ganz langsam fing Florian zu weinen an. Plötzlich hob er den Kopf und rieb sich energisch die Augen trocken.

»Was werden Sie nun unternehmen?«

Diekmanns Stimme klang sanft, als er weitersprach. »Ich weiß es noch nicht genau. Eines scheint mir zumindest sicher: Markus lebt. Hätten seine Entführer ihn umbringen wollen, hätten wir seine Leiche schon gefunden. Ich habe den Weg zum Sportverein schon von ein paar Polizisten absuchen lassen. Sie haben nichts gefunden. Ich gehe davon aus, dass sich die Entführer bald melden werden. Deshalb möchte ich hier ein paar Gerätschaften aufbauen lassen, um das Telefon abzuhören und Gespräche zurückverfolgen zu lassen. Einverstanden?« Diekmann versuchte, beruhigend zu lächeln. Seine Stimme war fast zu einem Flüstern herabgesunken. Er berührte Flos Arm leicht und zwang ihn geradezu, ihm ins Gesicht zu sehen.

»Ja, sicher.« Flo hatte sich wieder gefasst und Diekmann konzentriert zugehört. Allein Diekmanns Vermutung, dass Markus noch am Leben war, hatte ihm Mut gemacht. Johanna fragte sich, ob das Diekmanns wahre Überzeugung war, oder ob er sich nur einer barmherzigen Lüge bedient hatte, um Flo zu beruhigen. Vielleicht klammerte er sich auch nur selbst an diese Möglichkeit, um nicht der Tatsache ins Auge sehen zu müssen, dass sich Gewalt, mit der sie beinahe täglich zu tun hatten, auch gegen sie selbst richten konnte. Plötzlich tat Diekmann etwas, womit Johanna nicht gerechnet hatte. Er fasste Florian bei den Händen und redete ruhig, aber eindringlich auf ihn ein.

»Ich verspreche Ihnen, ich werde alles tun, um Markus zu finden. Okay?«

»Mmh.« Flos Augen hatten sich wieder mit Tränen gefüllt, aber er nickte tapfer. Diekmann legte vorsichtig den Arm um ihn, als habe er Angst, ihm wehzutun. Florian ließ es sich einen Moment gefallen und richtete sich dann wieder auf.

»Ich danke Ihnen.« Er versuchte ein Lächeln.

Johanna hatte die Szene staunend beobachtet. Wieder etwas, was sie Diekmann nicht zugetraut hatte. Sie hätte schwören können, dass er Schwule in seinem tiefsten Inneren verachtete. Aber noch ein anderes Gefühl war während dieser Szene in ihr hochgestiegen. Ein Hauch von Eifersucht.

Wenn Johanna gedacht hatte, dass das Wohnzimmer in eine technische Kommandozentrale verwandelt wurde, dann hatte sie sich gründlich getäuscht. Anstelle der von ihr erwarteten Gerätschaften, wurden lediglich zwei Laptops aufgestellt. Das Telefon wurde aufgeschraubt und bekam eine Wanze eingesetzt. Dann wurden die Computer einigen Tests unterzogen.

Aber das war's dann auch schon. Die Techniker waren freundlich. Sie schienen nicht zu Diekmanns Leuten zu gehören, von denen in der Zwischenzeit auch schon einige eingetroffen waren. Sie waren alle blass und müde, aber die Tatsache, dass einer von ihnen wahrscheinlich in Schwierigkeiten steckte, verlieh ihnen Kräfte, die Johanna nur erahnen konnte. Sie erschienen ihr wie eine Herde Kühe, die ein Junges schützen wollte. Die Techniker hingegen blieben unter sich. Sie stellten die Geräte ein, hielten sich aber sonst abseits. Sie sprachen zwar leise miteinander, aber wie es schien nur über technische Fragen. Schließlich kam einer von ihnen zu Diekmann und verkündete, dass man fertig sei. Diekmann nickte. »Vielen Dank.« Er wandte sich an Florian. »Wenn es klingelt, gehen Sie ran. Wenn es die Entführer sind, müssen Sie versuchen, sie so lange wie möglich am Apparat zu halten. Verstanden? Egal, was passiert, versuchen Sie, sie in ein Gespräch zu verwickeln.«

Florian nickte. Er hing mit den Augen wie ein kleines Kind, das sich von einem Erwachsenen ein tröstendes Wort erhoffte, an Dickmann.

Dann wandte sich Diekmann an seine Leute. Er blickte einen nach dem anderen an und entschied sich für einen jungen blonden Hünen, der mit unerschütterlicher Miene und mit vor dem Körper verschränkten Armen zwischen seinen Kollegen stand. Johanna wusste, dass er noch nicht sehr lange zu Diekmanns Belegschaft zählte.

»Bernd, Sie werden die Fußballkameraden von Markus anrufen und versuchen, sich ein genaues Bild über den zeitlichen Ablauf zu verschaffen, ja?«

Der junge Mann nickte und wandte sich an Florian. »Könnten Sie mir bitte eine Liste all dieser Leute geben?« Er sprach betont höflich, vermied es aber dabei, Florian direkt in die Augen zu sehen. Johanna war sich sicher, dass dies nicht aus Anteilnahme mit dem am Boden zerstörten Flo geschah. Sie glaubte viel eher, dass der junge Polizist noch nicht sehr viel mit Schwulen zu tun gehabt hatte und möglicherweise Angst vor einem Angriff auf seine Männlichkeit hatte. Er schien sich als »richtigen« Mann zu betrachten und jetzt ein wenig verlegen zu sein, so als fürchte er, von Florian als Objekt taxiert zu werden. ›Geschieht dir recht‹, dachte Johanna. ›Jetzt kannst du mal sehen, wie es Frauen geht, die du vielleicht abends bierselig anglotzt und dir vorstellst, wie sie ohne Klamotten aussehen.‹

»Natürlich«, sagte Florian und wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln. Er griff nach dem kleinen Schnellhefter, der noch immer auf dem Tisch lag, wo Johanna ihn abgelegt hatte. Der junge Mann nahm ihn, wie es Johanna schien, mit spitzen Fingern entgegen. Diekmann kniete vor Florian und legte ihm eine Hand aufs Knie.

»Florian, ich muss Sie bitten, hier im Wohnzimmer zu bleiben. Wir müssen sicherstellen, dass Sie das Gespräch sofort entgegennehmen, wenn das Telefon klingelt. Entführer schätzen es nicht, lange zu warten, und ich möchte diese Leute nicht reizen. Verstehen Sie, was ich meine?«

Florian nickte. »Sicher. Ich könnte jetzt ohnehin nicht allein sein.« Er lehnte sich in die Polster des zierlichen Sofas zurück und schloss für einen Moment die Augen. Johanna saß neben ihm und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wollte Florian trösten, wusste aber, dass es für ihn jetzt keinen Trost gab. Sie konnte nur dasitzen und abwarten. Und für Flo da sein, wenn er sie brauchte. Plötzlich legte er eine Hand auf ihren Arm, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

»Würdest du bitte bei mir bleiben, Johanna?«

»Sicher.« Johanna atmete erleichtert auf und entspannte sich ein wenig. Gemeinsam saßen sie da und warteten. Johanna betete zu Gott, dass nicht das Unaussprechliche eingetreten war.

Die Stunden flossen zäh dahin. Niemand meldet sich außer ein paar Freunde von Markus und Flo, die wissen wollten, ob sie etwas tun konnten oder ob es etwas Neues gab. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, kam Bewegung in die kleine Gruppe Menschen, die verstreut im Zimmer vor sich hin dösten. Die einen starrten angespannt auf das Telefon, die anderen richteten sich auf und machten sich an den Computern zu schaffen. Johanna selbst hielt jedes Mal die Luft an.

Florian schien mit der Zeit immer ruhiger zu werden. Bei jedem neuen Anruf zitterte seine Stimme weniger. Irgendwann stand er auf und machte sich in der Küche zu schaffen. Er versuchte sich abzulenken – Johanna ließ ihn gewähren. Sie wusste, dass er das jetzt brauchte, und beließ es dabei. Es hätte ihn wahrscheinlich nur zusätzlich aus der Fassung gebracht, wenn sie ständig hinter ihm her geschlichen wäre, um ihm mit mitleidigem Blick beizustehen.

Während Flo sich zusehends entspannte, machte sich in Johanna immer größere Nervosität breit. Sie begann im Zimmer auf und ab zu laufen und beobachtete die anderen. Die Techniker unterhielten sich leise oder spielten Karten. Einer von Markus' Kollegen ließ unablässig ein Jo-Jo auf und nieder schnellen. Diekmann saß auf dem Sessel und hatte den Kopf auf die Rückenlehne gelegt. Er schien zu schlafen, aber Johanna erkannte, dass er angespannt war und nur auf diese Weise versuchte, Kraft zu schöpfen. Er schien sich bewusst darüber zu sein, dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm war. Die anderen hatten es sich so weit wie möglich auf zusammengeschobenen Stühlen oder auf dem Fußboden bequem gemacht. Keiner sprach ein Wort.

Johanna versuchte, sich auf das regelmäßige Ticken der hässlichen alten Standuhr zu konzentrieren, deren Schläge die Stille durchbrachen. Sie glaubte, das gleichmäßige Geräusch körperlich zu spüren, und obwohl es ihre Nervosität noch steigerte, hatte sie ständig Angst, dass die Uhr stehen bleiben könnte – so als ob dann alles zu Ende sein könnte.

»Frühstück.« Flos Stimme riss sie aus ihren Gedanken, und sie zuckte zusammen. Auf einmal rückte das Geräusch der Uhr in weite Ferne, und Johanna schien es, als ob sie aus einer Art Trance erwachte. Die anderen bewegten sich mit leisem Gemurmel. Alle hatten anscheinend Hunger gehabt, aber keiner schien sich getraut zu haben, das auch laut zu sagen. Florian hatte so ziemlich alles zubereitet, was in seiner Küche vorhanden war, und auch wenn es eine merkwürdige Mischung war, stürzten sich alle hungrig auf die Teller. Florian ging herum und schenkte überall dort Kaffee nach, wo die Becher leer waren. Er selbst aß und trank nichts. Auch Johanna stocherte nur in ihrem Essen herum, und als sie fertig war, ging sie zu Florian in die Küche.

»Wie geht es dir?«

Flo seufzte und wischte emsig seine Arbeitsplatte sauber. »Soweit ganz gut.« Er drehte sich auf einmal ruckartig zu Johanna um.

»Sie werden ihm doch nichts tun, oder? Sonst hätte die Polizei ihn doch schon ...«, er schluckte, »... ich meine, dann hätte man doch ...«

»Nein, ich glaube auch, dass Markus am Leben ist. Du musst Vertrauen haben. Hörst du?« Johanna strich ihm über das Haar. Sie konnte sich nur im Ansatz vorstellen, wie es ihm ging. Aber die Angst schnürte auch ihr die Kehle zu.

»Florian, pass auf, ich muss kurz nach Hause, ein paar Sachen holen. Wenn du nichts dagegen hast, komme ich wieder und bleib hier, bis Markus wieder da ist, okay?«

»Das wäre lieb. Beeil dich, ja?«

»Klar.« Johanna versuchte ein leichtes Lächeln und strich Florian noch einmal über die Wange. Sie spürte seine Bartstoppeln über ihren Handrücken kratzen. Dann wandte sie sich ab und ging zurück ins Wohnzimmer, um ihre Tasche zu holen. Die Kollegen wirkten nun alle ein bisschen frischer und gestärkt. Sie saßen zusammen und besprachen die nächsten Fahndungsmaßnahmen. Ständig klingelte irgendwo ein Randy, wenn neue Nachrichten eintrafen. Niemand hatte etwas gesehen, niemand hatte etwas gehört und, was vielleicht das Wichtigste war, niemand hatte Markus' Leiche gefunden. So ruhig es in diesem Wohnzimmer im Moment auch war, es war eine trügerische Ruhe, das wusste Johanna. Draußen lief die Suche auf Hochtouren.

Sie raffte schnell ihre Tasche und ihre Jacke zusammen und verließ unbeobachtet das Haus. Leise zog sie die Haustür hinter sich ins Schloss. Das Stimmengemurmel verebbte langsam, und sie hatte den Eindruck, als würde sie zusammen mit der Geräuschkulisse auch einen Teil der Spannung zurücklassen.

Mittlerweile war es Tag geworden, nasse Kälte empfing sie. Sie hatte noch nicht einmal auf die Uhr gesehen. Einen Moment lang blieb sie noch vor der Tür stehen, dann holte sie ein paarmal tief Luft. Sie lockerte ein wenig ihre verspannte Nackenmuskulatur und ging dann zu ihrem Wagen, der noch genauso dastand, wie sie ihn letzte Nacht verlassen hatte. Nur die Auffahrt war jetzt voller. Die Polizeibeamten, die zuletzt gekommen waren, hatten ihre Fahrzeuge zum Teil auf dem Rasen abstellen müssen. Johanna musste ziemlich lange rangieren, bis sie schließlich quer über den Rasen zur Straße fahren konnte. Sie dachte daran, dass ihr Flo deswegen wahrscheinlich irgendwann die Hölle heiß machen würde, und notierte sich im Geiste, dass sie die neue Rasensaat bezahlen würde. Auf dem Weg nach Hause löste sich ihre Anspannung immer mehr. Ihre Erschöpfung war so groß, dass sie ihre Müdigkeit kaum noch wahrnahm. Der tote Punkt war überwunden, aber die geistige Erschöpfung lähmte den Verstand. Sosehr sie es auch versuchte, sie konnte doch keinen klaren Gedanken fassen. Der Blick zur Uhr bestätigte ihr, dass sie sich durch die Rushhour quälen musste. Es war erst halb neun. Schließlich stellte sie den Wagen vor ihrer Haustür ab und ging mit schweren Schritten zum Eingang. Vor der Tür lag ein kleines Päckchen. Wahrscheinlich hatte niemand den Paketboten reingelassen, so dass er gezwungen war, seine Fracht auf die Matte vor der Tür zu legen. Johanna bückte sich ein wenig, um den Adressaten zu entziffern. Erstaunt stellte sie fest, dass auf dem Karton ihr Name stand. Sie hob es auf und drehte es um. Ein Absender war nicht zu erkennen.

In ihrer Wohnung warf sie zuerst ihre Jacke auf den Garderobenständer und ging dann in die Küche. Dort legte sie das Paket auf den Tresen und sah es eine Zeit lang an. Schließlich nahm sie ein Küchenmesser aus dem Messerblock und begann, das Klebeband, das die Pappe umschloss, sorgfältig aufzuschneiden. Als sie eine Seite des Kartons gelöst hatte, quoll ein wenig Seidenpapier hervor. Sie zog das Papier ganz heraus und wickelte es auf. Eine mit roten Flecken übersäte, zusammengerollte Plastiktüte kam zum Vorschein. Sie rollte sie auf und blickte hinein. Als sie realisierte, was da so sorgfältig eingewickelt vor ihr lag, erstarrte sie einen Moment. Dann ließ sie das Ding entsetzt fallen und stieß sich vom Küchenschrank, an dem sie gelehnt hatte, ab. Dabei kam sie ins Straucheln und fiel auf den Boden. Irgendwo hörte sie jemand stöhnen und schluchzen zugleich. Es dauerte einen Moment, bis sie ihre eigene Stimme erkannte. Plötzlich überkam sie Panik, und sie zog sich schnell hoch und stolperte mehr, als dass sie lief, ins Wohnzimmer. Sie zuckte zusammen und hörte sich selbst aufschreien. Tränen liefen ihr über das Gesicht, als sie auf allen vieren zum Telefon krabbelte. In dem Moment, in dem sie zum Hörer greifen wollte, klingelte es.

Sie riss das Mobilteil von der Basisstation und schrie in den Hörer: »Hilfe, bitte helfen Sie mir!« Sie kniete immer noch auf dem Boden und schluchzte.

»Ah, schöne Frau, ich nehme an, du hast es gefunden?« Die Stimme am anderen Ende hörte sich merkwürdig verfremdet an. Johanna spürte, wie sie vor lauter Entsetzen am ganzen Körper zu zittern begann.

»Wer ist da?« Sie konnte plötzlich nur noch flüstern.

»Du hast es gefunden, ja? Sag, dass du es gefunden hast.« Die Stimme hörte sich unwirklich an. Sie war metallisch und irgendwie künstlich. Und sie klang bedrohlich.

»Wer sind Sie?« Johanna merkte selbst, wie sie langsam hysterisch wurde.

»Erkennst du es?«

Johanna warf das Telefon von sich, als ekle sie sich davor, und rutschte dann so weit wie möglich von dem Gerät weg. »Nein, nein, nein!« Sie hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu.

»Johanna? Bist du da? Mach sofort auf.« Wie durch einen Nebel, der sich langsam lichtete, registrierte sie, dass jemand gegen die Tür trommelte.

»Mach auf. Was ist los, Johanna?«

Mit einem Schrei rappelte sie sich auf, und stürzte zur Tür. Sie riss die Tür auf und fing sofort wieder an zu schreien.

»Da ... in der Küche ... das Telefon.« Erst jetzt erkannte sie, wer an ihre Tür getrommelt hatte. Joachim stürzte an ihr vorbei in die Küche. Sie hörte ihn stöhnen. Dann kam er rückwärts wieder heraus.

»Was, zum Teufel, ist das?« Er sah sie entsetzt an und zeigte mit der Hand in Richtung Küche. Er war kreidebleich geworden und schluckte krampfhaft. Johanna merkte, wie sie selbst mit einem Schlag ruhiger wurde. Sie wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht und ging langsam auf ihn zu.

»Ein Finger. Das ist Markus' Finger.«

Wilde Träume hatten ihn geweckt. Nur mit großer Mühe bekam er die Augen ein Stück auf. Er hatte das Gefühl, wach zu sein, aber seine Augenlider ließen sich nicht öffnen. Seine Zunge klebte am Gaumen, dick und geschwollen. Er versuchte sich an das zu erinnern, was geschehen war, aber er wusste nicht einmal, wo er sich befand. Tiefe Dunkelheit herrschte ringsherum, und er konnte nichts erkennen. Die Erinnerung fiel schwer. Plötzlich überlief ihn ein eisiger Schauer. Er konnte sich nicht einmal an seinen Namen erinnern. In jäher Panik wollte er aufspringen, aber er schaffte es nicht, sich zu bewegen. Erst jetzt bemerkte er, dass er an Händen und Füßen gefesselt war. Nur langsam erwachte sein Bewusstsein. Er hob den Kopf und sah an sich herunter. Eine Kanüle steckte in seinem rechten Arm. Es war so dunkel, dass er seine Füße fast nicht mehr sehen konnte. Vorsichtig bewegte er seine Zehen, einen nach dem anderen, damit das Blut wieder zirkulieren konnte. Konzentriert versuchte er jeden Muskel, jedes Glied zu bewegen. Es war, als könne er mit dem Gefühl auch seine Erinnerung zurückrufen. Schließlich konnte er seine Füße, seine Beine und seinen Hintern wieder fühlen. Er zählte die Finger seiner linken Hand. Finger für Finger kehrte Leben in seine Hände zurück. Kalt waren sie. Die Fesseln waren eng, zu eng. Dann stutzte er. Seine rechte Hand fühlte sich anders an. Sie war verbunden. Unter dem Verband versuchte er den Daumen zu bewegen, den Zeigefinger zu krümmen. Er streckte den Mittelfinger, versuchte den schmalen Reif an seinem Ringfinger zu spüren. Und dann ...

Heiße und kalte Schauer überliefen ihn. Die Angst schwappte über ihn hinweg wie eine riesige Welle. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Beweg dich, kleiner Finger, beweg dich. Aber so sehr er sich auch bemühte, der kleine Finger rührte sich nicht. Er begann zu stöhnen wie ein verwundetes Tier. Es war kalt, und er fror. Er hatte Angst. Das erste Mal seit langer Zeit sprach er leise ein Gebet. Keine Litanei, sondern Worte, die ihm gerade in den Sinn kamen. Wirr, voller Angst. Seine Lippen baten lautlos um Hilfe. Gott, lass mich nicht allein.