13

Eine schallende Ohrfeige brachte sie wieder zur Besinnung. Diekmann sah sie mit gerunzelter Stirn an, und auch Rainer hatte sich unsicher von seinem Platz erhoben und sah sie besorgt an. Mühsam hob sie den zentnerschweren Arm und wischte sich wie ein Kind, das in Ermangelung eines Taschentuches den Rotz mit dem Ärmel im Gesicht verschmierte, den Speichel von Mund und Kinn.

»Ja?« Das Sprechen fiel ihr schwer. Sie sah sich verwirrt um.

»Was ist los mit Ihnen? Machen Sie mir ja nicht schlapp.« Diekmanns Stimme klang trotz der Besorgnis, die in ihr schwang, ungeduldig, obwohl er versuchte, dies so gut es ging zu verbergen.

Johanna griff hinter sich, bis sie Halt an einem kleinen Sessel fand, der hinter ihr stand. Sie krallte sich daran fest und zog sich mühsam auf die Sitzfläche. »Ich hatte Recht, er ist hier irgendwo.« Sie flüsterte und starrte an Diekmann vorbei auf das Telefon, als ginge von ihm eine schreckliche Bedrohung aus. Sie zog die Schultern hoch und umfasste mit beiden Armen ihren Oberkörper. »Er beobachtet uns und ist uns immer einen Schritt voraus. Wir haben keine Chance! Er wird ihn töten.« Ihre Stimme wurde tonlos.

»Nein, das wird er nicht.« Diekmann wurde lauter, um Johanna aus ihrer Depression zu reißen. »Wir werden ihm zuvorkommen, haben Sie verstanden, Johanna? Wir kriegen ihn, ganz sicher.«

»Aber er kennt uns, sieht jeden Schritt, den wir tun, und wir haben nicht die leiseste Ahnung, mit wem wir es hier zu tun haben.«

»Noch kennen wir ihn nicht, aber glauben Sie mir, wir kriegen ihn. Sie haben selbst gesagt, dass er Markus am Leben lassen wird, so lange wir Kontakt zu ihm halten.«

Sie schwieg. Sie konnte keinen logischen Gedanken fassen. Sie fror, und sie rollte sich zusammen, bis ihr Kopf fast ihre Oberschenkel berührten.

»Hören Sie mir überhaupt zu?« Diekmann klang nun zornig. Er packte sie an den Schultern und riss sie hoch. »Verdammt noch mal, reißen Sie sich endlich zusammen!« Er schüttelte sie, dass ihr Kopf wild hin und her flog. Plötzlich ließ er sie los und drehte sich um. »Wir dürfen jetzt nicht aufgeben, wir dürfen Markus nicht aufgeben. Lassen Sie uns lieber darüber nachdenken, was wir als Nächstes tun können.« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und holte tief Luft. Dann legte er den Kopf in den Nacken und versuchte sich zu sammeln.

»Wir können nur abwarten, reagieren. Aber sonst können wir doch nicht viel tun.« Johanna stand immer noch so da, wie Diekmann sie hingestellt hatte. Doch wenigstens schien nun wieder etwas Leben in ihre Augen zurückzukehren, auch wenn ihre Stimme noch brüchig und tonlos klang. Auf Diekmanns Ausbruch jedoch war sie nicht vorbereitet. Sie erschrak bis ins Mark, als er sich plötzlich umdrehte und wutentbrannt losschrie: »Jetzt halten Sie aber mal die Luft an! Was ist los mit Ihnen? Ist Ihnen als Kind die Holzwolle aus dem Teddy gefallen oder könnten Sie vielleicht mal einen Moment aufhören, nur an sich zu denken? Da draußen wartet jemand auf unsere Hilfe, und das Einzige, wozu Sie in der Lage sind, ist herumzujammern und hysterisch zu heulen. Sie sind ein Versager, Doktor. Ihr Täterprofil war Scheiße, und Ihre, ach so wissenschaftlich begründete und fundierte Arbeit hat dazu geführt, dass einer meiner Leute da draußen einem irren Killer in die Hände gefallen ist!« Er kam auf sie zu und blieb so dicht vor ihr stehen, dass seine Nasenspitze beinahe ihre Stirn berührte. »Ich habe noch nie jemanden erlebt, der solche Probleme hat wie Sie und diese dann auch noch wie einen Schutzschild vor sich herschiebt. Seht her; ich bin ein armes kleines Ding. Habt mich bitte alle lieb!«, äffte er Johannas Stimme nach. »Wissen Sie, was man über Sie redet? Man hält sie für ein frustriertes Frauenzimmer, das endlich mal einen Kerl braucht. Wussten Sie das? Man lacht über Sie, und jetzt weiß ich auch, warum. Sie scheinen mit ihren Haaren auch Ihren Verstand abgeschnitten zu haben. Aber wir brauchen Sie hier, verdammt noch mal! Ist es Ihnen möglich, dieses eine Mal nicht an sich zu denken, sondern an die Menschen, die Sie hier brauchen? Ist das etwa zu viel verlangt oder geht das endlich in Ihren blöden Puppenschädel rein?« Diekmanns Mundwinkel verzogen sich verächtlich nach unten. »Ich finde Sie zum Kotzen.« Er wandte sich ab und verließ Türen schlagend das Zimmer. Die Spannung, die noch vor einigen Augenblicken beinahe körperlich zu spüren gewesen war, war wie weggeblasen. Befreiende Stille breitete sich langsam in der Wohnung aus.

»Machen Sie sich nichts draus. Er ist nun mal so. Er wird sich schon wieder beruhigen«, sagte Rainer, den Johanna beinahe vergessen hatte. Erst jetzt bemerkte sie, dass er Diekmanns Ausbruch mitbekommen hatte. Sie drehte sich erstaunt um. Rainer lächelte zaghaft und war anscheinend darum bemüht, sie aufzuheitern. »Ich hatte anfangs auch Probleme mit ihm, das ist nun mal so mit starken Persönlichkeiten. Er kann aber auch ein sehr guter Freund sein.«

***

Diekmann fühlte sich auf verlorenem Posten. Mit diesem Jammerlappen, den man ihm aufs Auge gedrückt hatte, konnte er nicht viel anfangen. Er warf noch einen Blick zu den beleuchteten Fenstern von Johannas Wohnung, dann stieg er in sein Auto. Beinahe wütend drehte er den Schlüssel im Zündschloss herum und trat dann kräftig das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf, als wolle er sich über die brutale Behandlung beschweren. Mit quietschenden Reifen fuhr er vom Bordstein herunter und drehte zunächst aus sicherer Entfernung ein paar Runden um besagte Telefonzelle. Als er sicher war, dass er nicht beobachtet wurde, stellte er den Wagen ab und stieg aus. Nervös klopfte er seine Jackentaschen nach einer Schachtel Zigaretten ab. Er brauchte jetzt dringend einen kräftigen Zug. Nachdem er nachdenklich ein paar Minuten geraucht hatte, betrachtete er die Zigarette in seiner Hand und dachte daran, dass er eigentlich vorgehabt hatte, das Rauchen aufzugeben. Jedes Mal fand er wieder eine Ausrede. Seine Gedanken schweiften zurück zu dieser Psychologin. Wenn er ehrlich war, dann hatte er es sogar genossen, sie zu ohrfeigen. Eigentlich hatte es ihm schon die ganze Zeit in den Fingern gejuckt, sie einmal kräftig durchzuprügeln. Gleichzeitig war er entsetzt über seine gewalttätigen Fantasien, die er sonst nur Gewaltverbrechern zugestand. Aber er konnte einfach diesen wehleidigen Gesichtsausdruck nicht mehr ertragen. Manchmal fürchtete er, sie könne jeden Moment in Tränen ausbrechen. Es machte ihn krank. Er stocherte mit der Schuhspitze in der Erde, die sich in den Ritzen des Bürgersteigs befand, herum. Es war zum Auswachsen. Er hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, wie weit er ohne ihre Hilfe, mit den Ermittlungen gewesen wäre, aber er war fast sicher, dass die jetzige Entwicklung einzig und allein auf ihr Konto ging. Außerdem war er felsenfest davon überzeugt, dass Frauen wie sie es nur darauf angelegt hatten, es Männern wie ihm schwer zu machen. Er inhalierte noch einen letzten Zug seiner Zigarette, bevor er sie wegschnippte und ihr zusah, wie sie langsam verglühte. Dann hörte er ein Fahrzeug herankommen und erkannte ein Team der kriminaltechnischen Untersuchungsabteilung. Der ältere der beiden Männer war ihm bekannt, mit ihm hatte er schon oft zusammengearbeitet. Sein Kollege war jünger und schien neu im Team zu sein.

»Guten Tag, Herr Diekmann«, grüßte der beleibte ältere Mann und watschelte auf Diekmann zu. Dabei zog er seine Hose hoch, die jedoch sofort wieder unter seinen mächtigen Bauch rutschte. Sein rotes, etwas feistes Gesicht glänzte vor Schweiß. »Hallo, Reinhard. Schön, dass Sie gekommen sind.«

»Als ich hörte, wer unsere Hilfe braucht, habe ich beschlossen, selbst zu kommen. Sie wissen ja, das junge Volk hat einfach keine Geduld, geschweige denn Erfahrung.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Hey, Frank, beweg dich.« Dabei machte er sich nicht einmal die Mühe, sich umzudrehen, sondern spuckte seine Worte förmlich über die Schulter. Diekmann musste daran denken, dass etwa fünfundneunzig Prozent der Kollegen, die an Reinhards Dienststelle arbeiteten, ihren Job schon seit mindestens zehn Jahren verrichteten; Reinhards Meinung nach waren alle, die nicht, wie er, bereits seit fünfundzwanzig Jahren dabei waren, Grünschnäbel.

»Also, Herr Diekmann, was gibt es dieses Mal? Hör gut zu, Junge, damit du nicht ständig nachfragen musst.« Die letzten Wogte richtete er an den Jüngeren, der gerade alle Utensilien neben ihm auf den Boden gestellt hatte. Diekmann schätzte ihn auf Mitte dreißig. Er deutete mit dem Daumen auf die Telefonzelle und sagte: »Fingerabdrücke an Tür, Gerät, Hörer, das volle Programm. Ich warte solange hier.« Reinhard nickte zur Bestätigung und rollte dann schwer atmend auf das kleine Telefonhäuschen zu.

Diekmann sah noch einen Moment zu, wie Reinhard Anweisungen erteilte und dann konzentriert zu arbeiten begann. Mit riesigen puscheligen Pinseln fuhren sie schnell über die Oberflächen, als wollten sie die Zelle neu streichen. Dabei machten sie merkwürdig kreisende Bewegungen mit dem Handgelenk, die Diekmann einmal versucht hatte, nachzuahmen. Vergeblich. Nach dem dreißigsten Versuch, war ihm der Pinsel in den Dreck gefallen.

Er beschloss, sich ein wenig umzusehen. Die Telefonzelle stand noch in dem Teil des Tinsdaler Heidewegs, der zum Stadtgebiet Hamburg gehörte. Ein paar hundert Meter weiter überschritt man die Landesgrenze nach Schleswig-Holstein. Rundherum befanden sich Felder. So weit das Auge blickte, Felder. Das nächste Haus, das eine ganze Ecke entfernt stand, war von so hohen Büschen umgeben, dass mit Sicherheit niemand gesehen haben konnte, wer hier in die Telefonzelle gegangen war. Er lauschte einen Moment. Das Einzige, was hier zu hören war, war der Wind, der sich in den umstehenden Bäumen verfing. Ein leises Rauschen, das einem das Gefühl gab, nur von Einsamkeit umgeben zu sein. Ansonsten war es still. Die meisten Vögel waren schon gen Süden gezogen oder hatten es sich in geschützten Nischen bequem gemacht. Der Wind fuhr durch seine Haare. Fast automatisch hob er die Hand, um sie zu ordnen. Dies hier war ein idyllisches Fleckchen Erde. Mitten in der Stadt, obwohl man sich beinahe auf dem Land fühlte. Man konnte sich inmitten der Natur und der wenigen gediegenen Häuschen, die sich hier befanden, kaum vorstellen, dass hier ein Irrer herumlief. Für einen Moment betrachtete er die Häuser in einiger Entfernung, die durch den Wind von Bäumen und Hecken freigegeben wurden. Es sah alles so friedlich aus, aber man wusste ja nie, was sich hinter den Fassaden tatsächlich abspielte. Auf einmal hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden, und für den Bruchteil einer Sekunde konnte er sich vorstellen, wie es Johanna ergangen war, als sich der unheimliche Anrufer das erste Mal bei ihr gemeldet hatte. Aber er verscheuchte den Gedanken schnell wieder, denn Mitleid oder Verständnis für diese Frau waren wirklich das Letzte, was er wollte..

»Herr Diekmann?« Der junge Mann, der zusammen mit Reinhard gekommen war, stand in einiger Entfernung und winkte ihm zu. Diekmann straffte die Schultern, dann ging er rasch auf die beiden zu. Reinhard schüttelte unzufrieden den Kopf.

»Tut mir Leid, Herr Diekmann, aber dieses Mal kann ich Ihnen leider nicht helfen. Es gibt keine einzige Spur. Die Scheibe rund um den Griff, der Hörer und der Kartenschlitz sind abgewischt worden. Die übrigen Spuren bestehen aus verschiedenen, ich würde sogar sagen, älteren und sich überlagernden Fingerspuren, die wir nicht mehr sichern können. Ihr Mann hat ganze Arbeit geleistet.« Diekmann tätschelte Reinhard beinahe tröstend den Arm.

»Ist schon gut, Reinhard, mir tut es Leid, dass ich Sie umsonst bei diesem Wetter rausgejagt habe. Trotzdem, vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Das ist doch selbstverständlich. Für Sie würde ich sogar nachts von meiner Frau runterrollen.« Nach seinen letzten Worten verfiel Reinhard in wieherndes Gelächter, und Diekmann sah, dass der jüngere Assistent genervt die Augen verdrehte. Einen Moment hatte Diekmann Mitleid mit ihm. Aber nur für einen Moment.

»Dann noch einen schönen Abend euch beiden, und nochmals Danke.«

Diekmann hob grüßend die Hand und sah den beiden noch hinterher, als sie schon längst verschwunden waren. Erschöpft lehnte er sich dann an die Motorhaube und steckte sich noch eine Zigarette an. Nachdem er eine Weile lang nachgedacht hatte, tippte er seine Büronummer in sein Handy.

Julika? Diekmann hier. Ich möchte Sie um etwas bitten. Bis auf weiteres sollen sich ein paar zivile Dienstwagen im Bereich Rissen und Wedel aufhalten und unauffällig Patrouille fahren. Unauffällig! Verstanden? Ich glaube, unser Mann ist hier irgendwo, und ich fürchte, dass demnächst alles ziemlich schnell gehen muss. Ich melde mich dann wieder.«

Er klappte das Handy zu und schob es entschlossen in seine Jackentasche zurück. Auf keinen Fall würde er diesem Weib das Ruder überlassen. Jetzt konnte das Spiel beginnen.

***

Nun endlich war es so weit. Und alles war viel besser als erwartet.

Am Telefon war sie ja regelrecht hysterisch geworden. Sicher, man hatte einen Umweg nehmen und erst einmal diesen Bullen entführen müssen, aber das ließ sich nun mal nicht mehr ändern. Diese Frau hatte anscheinend kein schlechtes Gewissen und nicht die leiseste Ahnung worum es sich wirklich drehte. Sie konnte sich offensichtlich wirklich nicht erinnern, aber jetzt ... ja, jetzt war man auf dem richtigen Weg. Schließlich hatte man bei der Planung diese Art Unwegsamkeiten nicht voraussehen können. Wer hätte denn schon wissen können, dass es sich als so schwierig gestalten sollte, diese Frau zum Nachdenken zu bringen. Und so hatte die Entführung des Polizisten eben improvisiert werden müssen.

Die ganze Sache musste überhaupt wie eine schnelle Fahrt über Land gesehen werden.

Eine Fahrt, bei der man eine Landstraße entlangfuhr, auf eine Baustelle stieß, der Umleitung folgte, um dann irgendwann wieder auf den richtigen Weg zurückzukommen.

Das Gesicht im Spiegel nickte zufrieden. Ja, genauso musste man es sehen. Eine Umleitung. Mehr nicht.

Eigentlich konnte jetzt nichts mehr schiefgehen. Egal wie viele Leute aufpassten, am Ende würde diese Frau verlieren, und keiner würde das verhindern können.

Wie einfältig sie waren! Glaubten sie doch allen Ernstes, man hätte Fingerabdrücke in der Telefonzelle hinterlassen!

Das Gesicht im Spiegel verzog sich zu einem amüsierten Grinsen. Eine Hand legte sich vor den Mund, als aus dem Kichern ein vergnügtes Glucksen wurde.

Also wirklich! Fast ein bisschen beleidigend. Man hatte bisher keinen Fehler gemacht, warum also sollte man jetzt damit anfangen? Diese Leute waren wirklich zu dumm. Das machte die ganze Sache ja so schwierig. Wenn die Psychologin nicht so dumm wäre, wüsste sie längst, worum es ging, oder etwa nicht? Aber so waren nun mal viele Frauen. Hinter ihren hübschen Puppengesichtern war nichts als Hohlraum. Meistens jedenfalls. Das Gesicht im Spiegel wurde traurig. All das führte wieder zum Ausgangspunkt zurück.

Das Gesicht verzog sich zu einer hässlichen, bösen Grimasse, als es langsam die Zähne fletschte und die Hände, verborgen unter dem Spiegel, zu Fäusten ballte. Ein Knurren stieg tief aus der Kehle empor. Diese Frau, sie hatte alles verraten, alles, was gut und teuer war. Sie war bereit gewesen, Menschenleben zu verraten und zu opfern.

Aber alles hatte seinen Preis. Jetzt war es an ihr, dafür zu bezahlen!

***

Eigentlich hatte Johanna angenommen, dass sie Diekmann schon von seiner schlechtesten Seite kannte, aber da hatte sie sich gründlich getäuscht. Ausdruckslos starrte sie Rainer an und machte einen Schritt in den Flur hinaus. Sie blickte die Wohnungstür an, als könne sie ihr eine Antwort geben. Für einen Moment versuchte sie sich einzureden, dass Diekmanns Reaktion nur die Folge der Sorgen war, die er sich um Markus machte. Schnell kam sie jedoch zu dem Schluss, dass Diekmann echte Abneigung gegen sie hegte. Für einen Moment verharrte sie reglos im Flur, dann seufzte sie tief. Er hatte ja Recht, sie hatte versagt. Da hatte sie endlich ihre Chance bekommen, und was tat sie?! Sie setzte sie mit Pauken und Trompeten in den Sand. Ein echter Schuss in den Ofen. Großartig. Sie hatte sich verrannt. Verrannt in ihren Ärger über Diekmann, verrannt in die Idee, es sich wieder einmal beweisen zu müssen. Koste es, was es wolle! Nur dieses Mal hatte nicht sie selbst den Preis dafür bezahlt, sondern jemand anderes. Jemand, der ihr nahe stand, der ihr wichtig war. Und es lag an ihr, die Sache wieder gerade zu biegen. Es tat weh. Aber eines war zumindest klar, etwas in ihrem Leben musste sich verändern. Oder besser gesagt: Alles in ihrem Leben musste sich ändern. So konnte es jedenfalls nicht weitergehen. Selbst sie hatte den Blick für das Wesentliche verloren, sofern sie ihn überhaupt je besessen hatte, weil sie in ihre eigenen Probleme und Problemchen verstrickt gewesen war. Auch wenn sie nicht bereit dazu war, ihr Leben zu ändern, ihr Leben würde sich zwangsläufig ändern, denn Diekmann würde nach dieser Sache bestimmt dafür sorgen, dass sie gefeuert wurde. Sie lächelte freudlos vor sich hin. Und genau das galt es, zu verhindern.

Sie holte tief Luft und sah an sich hinunter. Noch immer stand sie im Flur. Unverändert, bewegungslos. Dann drehte sie sich langsam um.

»Ich bin gleich wieder da, ich gehe mich nur kurz etwas frisch machen.«

Rainer nickte und hob die Hand. Er lächelte zaghaft. Mitleid, schoss es ihr durch den Kopf. Mitleid war nun wirklich das Letzte, was sie brauchte. Sie straffte die Schultern und ging hoch erhobenen Hauptes aus dem Zimmer. Also gut, bringen wir es hinter uns. Gehen wir in die letzte Runde.

So laut und unheilschwanger Diekmanns Abgang gewesen war, so leise und friedlich war seine Rückkehr. Johanna schreckte hoch, als sie die Haustür leise zuklappen hörte. Sie hatte in einer Zeitung geblättert, um die Zeit totzuschlagen. Ihr kurzes Haar war bereits getrocknet, und sie hatte eine frische Jeans und ein T-Shirt übergestreift. Sie sah kurz zu Rainer, der es sich in einem Sessel bequem gemacht hatte und nun mit zurückgelegtem Kopf leise vor sich hin schnarchte. Für ihn war das Ganze nur ein Job unter vielen. Für einen Moment beneidete ihn Johanna.

Plötzlich stand Diekmann im Raum, mit verkniffenem Mund und den Händen tief in den Jackentaschen vergraben.

Johanna blickte kurz hoch, widmete sich dann jedoch sofort wieder ihrer Zeitung. Leichtes Herzklopfen erinnerte sie daran, dass sie sich nicht gerade im Guten getrennt hatten, und sie überlegte, wie sie einen einigermaßen neutralen Zustand herstellen konnte.

»Haben Sie etwas gefunden?«

Diekmann sah sie einen Moment lang stumm an. Seine Falten auf der Stirn wurden noch tiefer, schien es Johanna, und nach einer beinahe endlosen Pause antwortete er widerwillig: »Nein. Es war alles weggewischt. Und hier? Alles ruhig?« Er deutete mit dem Kopf eine Bewegung an, die den ganzen Raum umschloss.

»Sie brauchen sich nur Rainer anzusehen«, antwortete Johanna.

Diekmann wippte einen Moment unschlüssig auf den Fersen und starrte seine Zehen an. Dann kam langsam Bewegung in seinen Körper. Er ließ sich neben Johanna auf das Sofa fallen.

»Er hat keinen einzigen Fingerabdruck hinterlassen, sondern alles sorgfältig abgewischt.«

»Kann ihn vielleicht jemand dabei beobachtet haben?«

Diekmann schüttelte leicht den Kopf. »Schwerlich. Die Telefonzelle wird anscheinend nicht mehr viel genutzt. Kein Wunder, im Zeitalter der Handys. Jedenfalls steht sie gut verborgen in einem ziemlich ausgestorbenen Winkel der Straße. Wenn da nicht gerade jemand mit seinem Hund auf dem Weg in die Feldmark vorbeikommt, kann man unbemerkt jede Menge Unfug treiben. Irgendjemand hat auch schon, wie es aussah, vor einiger Zeit versucht, die Telefonzelle anzuzünden.«

Sie beide vermieden es, auszusprechen, was zuvor zwischen ihnen geschehen war. Diekmann schien jedoch bemüht zu sein, sein Verhalten wenigstens etwas wieder gutzumachen, indem er versuchte, freundlich zu sein. Und Johanna gab sich alle Mühe, nicht beleidigt zu wirken.

»Und was schlagen Sie jetzt vor?« Johanna hatte ihre Zeitung beiseite gelegt und die Arme vor der Brust verschränkt. Diekmann richtete sich leicht auf und rieb sich einmal kräftig über das Gesicht. »Ich weiß es nicht. Ich fürchte, wir müssen abwarten. Er wird sich mit Sicherheit bald wieder melden. Ist Ihnen inzwischen vielleicht etwas eingefallen?«

»Möglich. Wir sollten uns das Tonband noch einmal anhören. Ich glaube, mir ist da etwas aufgefallen.«

Bevor sie fortfahren konnte, bekam Rainer plötzlich einen Hustenanfall. Er hatte anscheinend das Atmen während des Schlafens vergessen und keuchte. Er blinzelte. Dann sah er Diekmann auf dem Sofa sitzen.

»Oh, 'tschuldigung. Muss wohl eingeschlafen sein.« Er setzte sich aufrecht hin. Leichte Röte stieg ihm in die Wangen. Es schien ihm peinlich, für einen Augenblick Mittelpunkt des Geschehens zu sein.

»Ist schon okay«, Diekmann lächelte, »nun sind Sie ja wieder wach, und wir sollten uns gemeinsam das Band noch einmal anhören.«

Dankbar sprang Rainer auf, ging zum Esstisch zu seinen Geräten und spulte das Band zurück. Diekmann nickte ihm zu. Wieder hörten sie die künstliche Stimme durch das Zimmer hallen. Dann hörten sie Johannas Antwort, vorsichtig und etwas steif.

»Bist du allein?«, fragte die Stimme.

»Ja.«

»Du lügst, mein Kind. Dieser gut aussehende Polizist ...«

»Stopp.« Johannas Stimme klang energisch. Rainer drückte den Knopf, und augenblicklich war es wieder still in dem Zimmer. »Haben Sie das gehört?«

»Was?« Diekmann schien irritiert, aber ausnahmsweise nicht verärgert.

»Er nennt mich mein Kind und spricht davon, dass Sie gut aussehend sind.«

»Stimmt.« Diekmann überlegte einen Augenblick. Dann schien er zu verstehen, was sie damit auszudrücken versuchte. »Sie meinen, das könnte bedeuten, dass es sich um einen älteren Mann handelte, der möglicherweise schwul ist?«

Johanna nickte triumphierend.

»Genau das meine ich.«

»Finden Sie das nicht etwas weit hergeholt? Aber egal, wir müssen alle Möglichkeiten durchgehen. Was machen wir jetzt?« Diekmann sah albern aus, wie er da mit offenem Mund stand und laut nachdachte.

»Gute Frage. Ich schätze, wir sollten mal mit Flo sprechen. Vielleicht fällt ihm dazu etwas ein.«

»Dann müssen wir ihm aber sagen, was passiert ist.« Diekmann presste die Lippen zusammen. Er überlegte kurz. »Okay, wir warten noch einen Anruf ab und sprechen dann mit Flo.«

Als das Telefon klingelte, zuckte Johanna erschrocken zusammen. So schnell hatte sie nicht mit einem weiteren Anruf gerechnet. Das Läuten des Telefons erschien ihr plötzlich bedrohlich und aggressiv. Nachdem sie sich gemeldet hatte, erklang wieder die ihr inzwischen wohl bekannte blecherne Stimme.

»Ist er wohlbehalten wieder zurückgekehrt?«

Johanna streifte Diekmann, der angespannt wirkte und sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet hatte, mit einem Seitenblick.

»Ja. Herr Diekmann ist hier.«

Die blecherne Stimme lachte leise. Es war mehr ein Kichern als ein Lachen, das Johanna kalte Schauer über den Rücken jagte.

»Ich habe ihn gesehen«, sagte die Stimme mit beinahe zärtlichem Unterton.

»Hat er seinen Leuten gesagt, das sie nach mir suchen sollen? Hofft er am Ende, dass ich immer von derselben Telefonzelle anrufe?«

Die Stimme schwieg, als erwarte sie eine Antwort. Johanna sah sich ratlos um.

»Antworte mein Kind.« Die Stimme wurde nun scharf und klang ungeduldig und bösartig. In Diekmanns Gesicht zuckte kein Muskel. Johanna beeilte sich zu antworten. Sie musste an das denken, was Diekmann ihr gesagt hatte. Man ließ einen Entführer niemals warten.

»Ich weiß es nicht.«

»Das solltest du aber. Schließlich geht es um Markus' Leben.«

»Wie geht es ihm?«

»Gut. Er schläft viel und isst kaum.« Trotz des Stimmenverzerrers hatte diese Stimme etwas hypnotisches, das Johanna vollkommen in Bann zog.

»Ist Markus gesund?«

»Ich sagte doch, dass es ihm gut geht«, bellte die Stimme ungeduldig, »und ich sage nur noch einmal: Versucht nicht, mich zu finden, sonst TÖTE ICH MARKUS.« Hast du mich verstanden?« Die Stimme kippte nun beinahe über vor Wut, die sie nur mühsam zu unterdrücken schien. Es war unheimlich.

»Ja ... ja, ich habe verstanden. Entschuldigung. Es tut mir Leid.« Johanna spürte Panik in sich aufsteigen. Da war jemand, der sie alle bedrohte, jemand, der ganz nah war und gleich doch so fern.

»Hör gefälligst auf, dich zu entschuldigen, du wirst später noch Zeit dazu haben. Schlaf gut.«

Die Stimme flüsterte jetzt, und Johanna hatte plötzlich merkwürdigerweise den Eindruck, als spräche eine Mutter zu ihrem Kind, das aus einem Albtraum erwacht war und wieder in den Schlaf gewiegt werden sollte. Nach einer kleinen Pause war ein leichtes Knacken zu hören. Der Anrufer hatte aufgelegt. Johanna drehte sich zu Diekmann um.

»Was haben Sie Ihren Leuten gesagt, um Gottes willen?«

Diekmann wich ihrem Blick aus. Er hatte immer noch seine Jacke an, und als Johanna ihn näher betrachtete, sah sie, dass seine Gesichtsmuskeln vor Müdigkeit ganz schlaff waren. Seine Haut war grau, und er sah auf einmal zehn Jahre älter aus. »Ich habe lediglich die Anordnung gegeben, dass sich eine Reihe von Zivilfahndern in der Gegend aufhalten sollen.«

Johanna presste die Lippen zusammen. »Sie scheinen nicht ganz begriffen zu haben, dass es unserem Mann verdammt ernst ist. Blasen Sie die Aktion ab. Sofort.« Ihre Stimme vibrierte nun selbst vor verhaltener Wut.

»Außerdem sollten wir endlich mit Flo sprechen, meinen Sie nicht auch?« Johanna fixierte Diekmann scharf, der müde seine Augen mit einer Hand bedeckte. »Ja, Sie haben Recht, er muss endlich die Wahrheit erfahren. Ich sorge dafür, dass Flo schnell herkommt.« Er zog sein Handy aus der Tasche und tippte eine Nummer ein. Johanna konnte in Diekmanns Gesicht lesen, was sie selbst empfand. Irgendetwas war passiert. Irgendwann war die Sache außer Kontrolle geraten, und keiner konnte genau sagen, wann das geschehen war. Sie fragte sich, was passiert wäre, wenn man sie nicht zu den Ermittlungen hinzugezogen hätte. Eines war klar: Der Killer wollte sie sprechen, er wollte mit ihr verhandeln. Was hätte er aber gemacht, wenn sie nicht da gewesen wäre? Was wollte er von ihr? Im Nachhinein war ihr klar, dass der ganzen Sache ein perfekt durchdachter Plan zugrunde liegen musste. Die Polizei, genauer gesagt, Diekmann, hatten zu keinem Zeitpunkt auch nur den Hauch einer Chance gehabt. Der Mörder hatte gehandelt und sich dann entspannt zurückgelehnt, um zu beobachten, was passierte. Sie dachte an die toten Frauen, die sich alle so ähnlich sahen. Wie passte Markus da hinein? Wie passte sie selbst dazu? Und warum rief er gerade sie an? Fühlte sich der Mörder wirklich so unerreichbar, so unantastbar und sicher, wie er tat? Wenn dem so wäre, würde er über kurz oder lang immer wagemutiger werden und irgendwann einen Fehler machen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Bisher gab es keinen Hinweis auf den Täter. Die Nachforschungen der Polizei hatten nichts ergeben. Mörder, die vor Jahren verurteilt und inhaftiert worden waren und nun wieder auf freiem Fuß leben, waren entweder in der Zwischenzeit gestorben oder hatten ein einwandfreies Alibi. Sie wusste, dass Diekmann jemanden abgestellt hatte, um alte Fälle zu sichten. Fälle, bei denen Frauen getötet worden waren. Ehefrauen, Töchter, Schwestern. Es war eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Aber es musste eine Antwort geben, eine Antwort, die nur in einem kranken Hirn geboren sein konnte. Sie ging zum Fenster und drückte ihre heiße Stirn gegen die kühlen Scheiben. Sie fühlte sich fiebrig. Einen Moment lang versuchte sie ihre Gedanken und ihr Bewusstsein auszuschalten. Wolken jagten am Himmel dahin, dunkel und unheilschwanger schossen sie wie im Zeitraffer hintereinander her. Sie wirkten wie schmutzige Watte, die zum Trocknen aufgehängt worden war. Es wurde bereits dunkel. Wie ein schwarzes Laken legte sich die Dämmerung über den Tag. Sie sah ein paar Menschen auf der Straße umherhasten, die sich schnell vor dem Regen ins Warme flüchten wollten. Sie wünschte, sie wäre auch jemand, der einfach nach Hause gehen und seine Probleme vergessen konnte. Fast wünschte sie sich in ihre Einsamkeit zurück und sehnte sich nach den kleinen Problemen, die sie bisher so wichtig genommen hatte. Zu wichtig. Ihre Stirn fühlte sich taub an, und die Kälte breitete sich auf ihren Wangen aus. Sie wandte den Blick ab, um nicht weiterhin Menschen beneiden zu müssen, die sie nicht kannte.

»Flo kommt her. Ihr Freund bringt ihn her.« Diekmanns Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

»Mein Freund?« Sie hatte nicht bemerkt, dass er mittlerweile wieder neben ihr stand. Diekmann hatte seine Jacke ausgezogen, so dass man die Schweißränder unter seinen Achseln sehen konnte. Er sah sie nicht an, als er weitersprach. Seine Stimme klang heiser, aber Johanna war nicht mehr überrascht darüber, Angst aus seinen Worten zu hören. Er hatte Angst. Angst um Markus, und um ein Haar hätte sie tröstend seinen Arm gedrückt.

»Joachim. So heißt er doch?«

»Ja, aber er ist nicht mein Freund.« Sie starrte wieder aus dem Fenster.«

»Was ist er dann?«

»Geht Sie das was an?«

»Nein.« Es entstand eine Pause zwischen ihnen, aber ausnahmsweise warteten sie beide nicht auf einen Fehler oder ein Schwächezeichen des anderen. Sie standen einfach nur da und schwiegen.

»Ich habe Joachim bei Markus und Flo kennen gelernt, weil Flo mich verkuppeln will.« Sie wusste nicht genau, warum sie ihm nun eine Erklärung gab, aber sie hatte plötzlich das Bedürfnis danach. Sie zog ihre Schultern hoch, als wolle sie sich in sich selbst verkriechen.

»Ich dachte, sie seien liiert?«

»Ja, das dachte ich auch.« Sie lachte leise auf, verbittert und amüsiert zugleich. »Alle dachten das. Aber ich schätze, das ist inzwischen überholt.«

»Lieben Sie ihn denn nicht mehr?«

»Finden Sie Ihre Fragen nicht eine Spur zu persönlich?« Johanna wandte sich ihm zu und zeigte mit Daumen und Zeigefinger eine mikroskopisch kleine Spanne an. Dabei lächelte sie ihn an, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie es nicht ernst meinte. Er verzog keine Miene, sie konnte aber sehen, wie es in seinen Augen schalkhaft aufblitzte. »Nein, eigentlich nicht.«

»Gut.« Sie wandte sich wieder dem Fenster zu und sprach weiter: »Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht so genau, was Liebe ist. Ich fand ihn einfach charmant. Sie wissen schon: amüsant, galant, gut aussehend ...«

»Gut im Bett?«

»Nein. Er war im Bett eine Niete.«

Diekmann begann zu grinsen und lachte schließlich lauthals auf. »Sie sind mir ja eine! Sagen Sie, sind Sie immer so ehrlich?«

»Nein«, gestand sie, »leider nicht. Das heißt, eigentlich schon, aber ich halte meistens den Mund. Wenn ich dann allerdings was sage, kann ich ziemlich brutal sein.«

Die Türklingel ließ beide hochschrecken. Für einen Moment hatten sie sich eine Art Nische geschaffen, die es ihnen erlaubte, wieder Kraft zu tanken und sich auf das vorzubereiten, was unweigerlich auf sie zukommen würde.

»Das werden sie sein. Ich mache schnell auf.« Diekmann drehte sich um und verschwand in Richtung Flur. Kurz darauf hörte sie die Tür und ein paar Stimmen, die sich dem Wohnzimmer näherten. Sie stand noch immer am Fenster, unfähig, ihre Stellung aufzugeben, als wäre dieser Platz ein Symbol für den Freiraum, den sie für ein paar Minuten genutzt hatte. Als Erstes erschien Florian, Joachim folgte ihm. Sein Gesicht war ernst, und seine Augen suchten Johannas. Sie nickte ihm kurz zu, dankbar, dass er ebenfalls gekommen war. Johanna sah sofort, dass Florian erschöpft war. Man sah ihm die Sorgen und durchwachten Nächte deutlich an. Er hatte schwarze Ringe unter den geschwollenen Augen, und Johanna war sich sicher, dass diese nicht nur vom vielen Weinen kamen. Er schien Kopfschmerzen zu haben. Johanna glaubte bei seinem Anblick das dumpfe Pochen in seinem Kopf selbst zu hören und vor allen Dingen auch zu fühlen. Als er näher kam, sah Johanna, dass er am Ende seiner Kräfte war. Seine ganze Körperhaltung signalisierte Resignation, selbst wenn Johanna glaubte, einen Funken Hoffnung in seinen Augen aufglimmen zu sehen, als er sie ansah. Sie ging langsam auf ihn zu und nahm lächelnd seine Hände in die ihren.

»Markus geht es gut, Flo. Wir haben mit dem Kidnapper gesprochen.«

»Wisst ihr, schon, warum er Markus entführt hat?« Florian blickte Johanna hoffnungsvoll an, doch sie schüttelte nur den Kopf.

»Nein, das wissen wir noch nicht.«

»Herr Diekmann hat gesagt, dass er die Aktion bei uns zu Hause abbrechen will, da er davon ausgeht, dass sich der Entführer nicht bei uns melden wird. Stimmt das?« Er hatte Johanna seine Hände entwunden und war einen Schritt zur Seite getreten. Johanna hatte das Gefühl, als hätte sie zwei Eiszapfen in den Fingern gehalten, die ihr nun entglitten waren. Florian schien im Moment körperliche Nähe, auch wenn sie tröstend gemeint war, unangenehm. Wahrscheinlich war sie ihm genau deshalb unangenehm, weil sie tröstend war, schoss es Johanna durch den Kopf.

Ja, das stimmt. Der Kidnapper scheint Kontakt zu mir zu suchen.

»Warum?« Flo stand nun mit dem Rücken zu ihr.

»Das wissen wir noch nicht genau. Vielleicht hat er mich im Fernsehen gesehen und findet es nun reizvoll, es mit mir aufzunehmen.«

»Ja, aber warum?«

»Ich weiß es nicht.« Johannas Arme baumelten kraftlos herunter, als gehörten sie nicht länger zu ihr. »Ich vermute, er will uns zeigen, dass er besser ist als wir und dass er mit uns spielen kann.«

»Denkst du, dass es dieser Frauenmörder ist?«

»Ich fürchte, ja. Er ist recht ungeduldig. Aber ich weiß leider immer noch nicht, was er genau will.« Sie sah unsicher zu Diekmann. »Keiner weiß das«, schob sie abschließend hinterher.

»Wie soll es jetzt weitergehen?«

»Er hat mit uns Kontakt aufgenommen, und ich bin mir sicher, dass er bald seine Forderungen stellen wird.« – »Wie auch immer sie aussehen werden«, dachte Johanna im Stillen. Doch das sagte sie lieber nicht laut. Die Situation schien ihr schon ausweglos genug.

»Und du bist sicher, dass es Markus gut geht? Er ist nicht verletzt?«

Florians Frage warf Johanna für einen Moment aus der Bahn. Sie sah schnell zu Diekmann hinüber, der kaum merklich den Kopf schüttelte.

»Er ist okay.« Johanna hasste sich für die Lüge, aber wem nützte es, wenn sie Flo an dieser Stelle die Wahrheit über Markus' Finger sagte? Florian ganz bestimmt nicht.

Flo hatte sich ruckartig umgedreht und sah Johanna fest in die Augen. Sie verschränkte ihre Finger ineinander und holte tief Luft.

»Wir wollen dich etwas fragen, Flo, und ich möchte, dass du dir etwas anhörst.«

Florian schwieg und machte es Johanna damit noch schwerer. »Ist das okay für dich?«

Er schwieg immer noch, dann richtete er sich ein wenig auf und nickte leicht. Er hatte Distanz zwischen sich und Johanna geschaffen, doch Johanna konnte noch nicht abschätzen, ob Misstrauen der Grund hierfür war oder ob Florian einfach nur versuchte, seine Fassung zu wahren.

»Also gut. Wir haben Grund zu der Annahme, dass es sich bei dem Täter um einen Homosexuellen handelt. Habt ihr ... ich meine ... die Kneipen, in denen ihr ...«

»Wir verkehren nicht in Schwulenkneipen, wenn du das meinst. Wir trinken unser Bier in den gleichen Lokalen wie du.« In Florians Augen schlich sich eine Kälte, die Johanna bis dato unbekannt war.

»Gibt es jemanden, der vielleicht in einen von euch beiden vernarrt ist? Gab es Ärger in letzter Zeit?« Johanna ließ sich von Florians Blick nicht beirren, der inzwischen durch sie hindurchging und auf einen Punkt zwischen ihm und Johanna gerichtet zu sein schien. Er wirkte abwesend und frustriert zugleich.

»Florian?«

»Du meinst eine Art Dreiecksbeziehung?« Nur langsam hob er den Blick und sah sie durchdringend an. »Nein, wir hatten keine derartigen Probleme.«

»Hör dir bitte etwas an.« Johanna gab Rainer ein Zeichen, damit er das Band zurückspulte. Wieder hallte die Stimme des Mörders durch das Zimmer. Johanna ließ das Band an der gleichen Stelle stoppen wie zuvor.

»Es ist mir klar, dass du diese verzerrte Stimme nicht wiedererkennst, aber fällt dir vielleicht irgendetwas auf? Ich meine, vielleicht an der Wortwahl, oder so?«

»Nein.« Florians Stimme war zu einem Flüstern geworden. Für einen Augenblick sagte niemand ein Wort. Dann räusperte Flo sich und sagte: »Wenn es ein Schwuler gewesen ist, warum vergreift er sich dann an Frauen? Das ist doch unsinnig, oder?« Für einen Augenblick sah er Johanna fest in die Augen. Irgendetwas war in seinem Blick, das Johanna nicht recht zu deuten wusste, aber schließlich fiel es ihr ein: Florian machte ihr Vorwürfe.

»Florian, vielleicht hätten Sie ein paar Minuten Zeit für mich?« Diekmann mischte sich ein und forderte Flo auf, zu ihm zu kommen. Johanna verschwand in der Küche. Ein Kaffee konnte nicht schaden. Als sie gerade dabei war, den benutzten Kaffeefilter in den Müll zu werfen, stand Joachim stirnrunzelnd und mit vor der Brust verschränkten Armen vor Johanna.

»Was geht hier eigentlich vor sich?«

»Florian macht mir Vorwürfe.« Johanna seufzte.

»Und warum?«

»Ich habe ihm versprochen, bei ihm zu bleiben. Dann bin ich einfach mir nichts, dir nichts verschwunden, und als er jetzt hierher gekommen ist, musste er feststellen, dass wir hier ohne sein Wissen eine Art Kommandozentrale aufgebaut haben. Wie würdest du darauf reagieren? Er fühlt sich verraten.« Sie schaufelte Kaffee in den frischen Filter und füllte kaltes Wasser in die Maschine. Dann klappte sie den Deckel runter und legte den Schalter am unteren Ende der Maschine um. Jede ihre Bewegung wirkte mechanisch. Sie stand vor dem Schrank, hörte einen Moment lang zu, wie das Wasser zu kochen begann, und wunderte sich, dass sie in einer solchen Situation in der Lage war, sich auf Alltägliches zu konzentrieren. Beinahe genoss sie das Gluckern der Maschine.

»Und was ist hier sonst noch passiert?« Joachim ließ sich nicht so leicht abschütteln. Johanna blickte nur kurz zu ihm hinüber, um gleich wieder ihre volle Aufmerksamkeit dem Kaffee zu widmen. »Ich weiß nicht, was du meinst?«

»Komm schon, hier liegt doch etwas in der Luft?« Er hatte seine Arme ausgebreitet und fuhr sich ungeduldig durch das Haar. Johanna stieß sich seufzend vom Kühlschrank ab.

»Diekmann und ich kommen nicht miteinander klar. Er macht mir insgeheim Vorwürfe, dass es überhaupt so weit gekommen ist, und wenn ich ehrlich bin, mache ich ihm ebenfalls Vorwürfe, weil ich wiederum glaube, dass er für die Entwicklung verantwortlich ist. Gut, ich habe Fehler gemacht, weil ich einfach gut sein wollte, und dann ist alles aus der Bahn geraten. Aber er ist ja zuvor schon nicht zurechtgekommen und eine bessere Idee hatte er ja auch nicht.« Sie merkte, wie Angst und Wut langsam die Oberhand gewannen, denn ihre Kehle war auf einmal wie zugeschnürt. Heiße Tränen brannten in ihren Augen. »So ist das eben. Ihr seid eine Art Notgemeinschaft.« Joachims Stimme war ruhiger geworden und ein wenig mitfühlend. Johanna nickte. Aus Sorge, gleich wieder in Tränen auszubrechen, sagte sie lieber nichts. Aber Joachim kam einen Schritt auf sie zu und nahm sie behutsam in den Arm. »Wenn das hier alles vorbei ist, gehst du dann mit mir essen?« Sie nickte wieder, ihr Gesicht an seiner Brust, und spürte den rauen Stoff seines Jacketts an ihrer Wange. Der Geruch von feuchter Kleidung stieg ihr in die Nase. Sie schloss einen Moment die Augen. »Regnet es draußen immer noch?« Johanna versuchte ein Lächeln, das gründlich missglückte, weil sie noch immer mit den Tränen kämpfte.

»Ja.« Joachims Stimme hatte einen leicht belustigten Tonfall angenommen. Er hielt sie an den Schultern fest und sagte: »Hör zu. Wenn dir hier alles zu viel wird, rufst du mich an, okay? Ich bin bei Flo, und meine Handynummer hast du ja. Ich verspreche dir, dass ich so lange bei ihm bleiben werde, bis alles ausgestanden ist. Ich muss mir doch schließlich meinen Frisör warm halten.« Der letzte Satz sollte lustig klingen und Johanna zum Lachen bringen. Sie putzte sich die Nase und verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Ich danke dir.«