Sommer 1996
Die beiden Frauen saßen sich gegenüber. Die eine ruhig, ein wenig belustigt, die andere nervös und beinahe grimmig. Die eine entspannt zurückgelehnt, die andere vornübergebeugt, die Arme kampflustig auf dem Tisch. »Frau Marquardt, haben Sie einen Freund?«
Die leicht lächelnde junge Frau beugte sich vor und drückte die Zigarette im Aschenbecher vor sich aus. »Nennen Sie mich ruhig Sylvia und ... Nein, ich habe keinen Freund.« Sie blickte ihrem Gegenüber fest in die Augen, lehnte sich entspannt zurück und faltete die Hände ruhig in ihrem Schoß. Nichts deutete darauf hin, dass sie das Monster war, das zwei Männer schauderhaft zugerichtet hatte. Dann beugte sie sich wieder vor und sagte: »Wie heißen Sie mit Vornamen? Darf ich Sie das fragen?«
Johanna nickte zögerlich und nannte ihren Vornamen.
»Johanna? Ein schöner Name. Ein altmodischer Name. Haben Sie einen Freund?«
Johanna musste ein paar Minuten verstreichen lassen, bevor sie in die freundlichen Augen der jungen Frau blicken konnte. Es war nichts Böses in ihnen zu erkennen, und doch war diese Frau die Bosheit in Person. Nichts Hinterhältiges ging von ihr aus, und doch hatte sie zwei Menschen eiskalt in den Tod gelockt.
»Kommen Sie schon. Sie wollen doch, dass ich Ihnen vertraue. Dann müssen Sie auch mir vertrauen. Also, haben Sie einen oder nicht?« Sylvia sah Johanna herausfordernd an.
»Nein, warum fragen Sie?«
»Ich möchte mir ein Bild von Ihnen machen, so wie Sie sich eines von mir machen wollen.«
Johanna schwieg einen Moment. Sie spürte, dass Sylvia sehr geschickt vorging und dass sie es schnell schaffen würde, sie zu manipulieren, wenn sie nicht aufpasste. Sie durfte nicht zu viel von sich offenbaren.
»Wie steht es mit ihrer Familie, Sylvia?«
Sylvia zuckte mit den Schultern. »Was soll mit ihr sein?«
»Wo sind Ihre Eltern?«
Wieder ein Achselzucken. »Keine Ahnung.«
»Leben Sie noch?«
»Meine Mutter schon. Glaube ich zumindest.« Plötzlich wirkte sie wie ein störrischer Teenager, den man beim Rauchen erwischt hatte.
»Welches Verhältnis hatten Sie zu Ihrem Vater? Oder lebt Ihr Vater noch?«
»Was für ein Verhältnis hat man schon zu seinem Vater?«, entgegnete Sylvia Marquardt.
»Sagen Sie es mir.« Johanna beobachtete fasziniert das Mienenspiel der anderen Frau. War sie eben noch ernst und verstockt erschienen, blühte sie jetzt förmlich auf. Ihr Gesicht wurde weich, die Augen funkelten vor Vergnügen, und das hübsche Barbiegesicht verzog sich zu einem kleinen spöttischen Lächeln.
»Sie schwitzen unter den Armen. Das sieht nicht schön aus.«
Der Schweiß lief Johanna tatsächlich in Strömen den Körper herunter. Der nasse Stoff ihres Hosenanzuges klebte unangenehm auf ihrer Haut, und ihr eigener Schweißgeruch stieg ihr penetrant in die Nase. Sie verfluchte sich, weil sie sich wie auf einem Prüfstein fühlte und diese Frau ihr gegenüber sie nach Strich und Faden verhöhnte.
»Wir sollten besser Schluss machen für heute.« Schnell raffte sie ihre Unterlagen zusammen und stand auf. Sylvia Marquardt blieb einfach sitzen. Unbeweglich, lächelnd, vollkommen entspannt.
»Bleiben Sie einfach ruhig, Johanna. Wir werden uns schon noch besser kennen lernen, und dann werden auch Sie entspannter. Leben Sie wohl.« Sylvia sah sie nicht an, als sie mit ihr sprach. Ungläubig starrte Johanna diese Frau einen Moment an. Eine Mörderin. Jetzt erst verstand sie, wie Sylvias Opfer in ihren Bann gerieten. Diese Frau hatte nicht nur die Kraft, andere zu manipulieren, sondern sie strahlte auch etwas aus, dem man sich nur schwer widersetzen konnte.
***
Das Klingeln des Handys brachte Johanna mit einem Schlag in die Gegenwart zurück. Sie musste tatsächlich eingenickt sein, obwohl die Szene, die sie geträumt hatte, schrecklich real gewesen war. Sie konnte sich, als wäre es gestern gewesen, an jedes Detail erinnern, sogar an Sylvias Geruch. Schlaftrunken griff sie nach dem Handy, das neben ihr auf der Decke lag.
»Hallo?«
»Diekmann hier. Ich habe den Namen. Die Anwältin von Sylvia Marquardt hieß Susanne Gebauer. Klingelt es da bei Ihnen?«
Für einen Moment tauchte vor Johannas geistigem Auge eine große, etwas plumpe Frau auf. Sie konnte sich noch an das mausbraune Haar erinnern, an ein schlecht sitzendes Kostüm und an ihre Streitsucht. Aber da war noch etwas anderes. Ihr fiel ein, dass sie den Eindruck gehabt hatte, die Anwältin empfinde beinahe zärtliche Zuneigung für ihre Mandantin, so sanft war sie mit ihr umgegangen.
»Ja, dunkel.«
»Gut. Ich bin gleich bei Ihnen. Wir werden einiges zusammen durchgehen müssen.« Diekmann legte auf, bevor sie etwas erwidern konnte.
»Das zehrt sicher ganz schön an den Nerven, nicht wahr?«, meldete sich plötzlich Rainer zu Wort. Es war das erste Mal, dass er von sich aus ein Gespräch begann, und für eine Sekunde war Johanna sprachlos.
»Ich denke, dass Sie sich keine Sorgen machen müssen, Herr Diekmann wird schon alles regeln. Da bin ich sicher.« Innerlich seufzte Johanna. Schon wieder ein Mitglied der Diekmann-Fangemeinde. Plötzlich hatte sie eine Idee, und sie ohrfeigte sich innerlich selbst, dass sie nicht schon viel eher darauf gekommen waren.
»Sagen Sie, Rainer, können Sie feststellen, wie die Stimme in natura klingt? Ich meine, können Sie diese Stimme vielleicht entzerren oder etwas herausfiltern?«
Er lächelte ein wenig verlegen. »Das habe ich schon versucht, mit den begrenzten Mitteln, die ich hier zur Verfügung habe. Aber ich fürchte, ich bin Ihnen keine große Hilfe. Das ist eine harte Nuss.«
***
Diekmann hatte einige arbeitsame Stunden hinter sich. Er hatte in der Ermittlungsakte den Namen der Anwältin gefunden und ihre Adresse ausfindig gemacht. Dann war er persönlich hingefahren. Hinter der Adresse verbarg sich ein kleines Häuschen am Stadtrand. Obwohl ein unbekannter Name am Türschild stand, klingelte er. Eine junge Frau, Mitte zwanzig, mit strähnigem Haar und müden Augen, öffnete ihm.
»Ja, bitte?« Ihr war anzuhören, dass sie nicht gerade auf Besuch erpicht war. Nur mühsam bemühte sie sich um einen höflichen Tonfall.
»Guten Tag, mein Name ist Diekmann, Polizei Hamburg, Mordkommission. Ich bin auf der Suche nach einer Frau Susanne Gebauer.«
»Die wohnt hier nicht mehr.« Die junge Frau schien erleichtert zu sein, dass Diekmann kein Vertreter war, der ihr einen neuen Staubsauger verkaufen wollte. Im Hintergrund hörte Diekmann Kindergeschrei, das in hysterisches Weinen überging. »Ruhe dahinten«, brüllte die junge Frau, und beinahe augenblicklich verstummte das wütende Geheule.
»Können Sie mir dann vielleicht sagen, wo Frau Gebauer jetzt wohnt?«
»Nein, und ich interessiere mich auch nicht dafür.« Ihre Geduld schien erschöpft. »Wir haben das Haus vor ungefähr einem Jahr von ihr übernommen.«
»Heißt das, Sie sind Frau Gebauers Mieter?«
»Sie haben es erfasst.«
»Dann würde ich sie darum bitten, mir die Kontonummer Ihrer Vermieterin mitzuteilen.«
Die junge Frau zögerte merklich. Plötzlich schien sie misstrauisch. »Sie haben mir noch gar nicht Ihren Ausweis gezeigt.«
»Das stimmt. Bitte entschuldigen Sie.« Diekmann kramte in seiner Tasche und fischte seinen Dienstausweis heraus. Die junge Frau beäugte ihn skeptisch. Mehrmals wanderte ihr Blick zwischen Diekmann und seinem Foto auf dem Ausweis hin und her. Endlich gab sie ihm die kleine Ausweiskarte wieder zurück.
»Also gut. Warten Sie einen Moment.« Im Hintergrund war wieder bestialisches Geheul zu hören. Sie trat einen Schritt zurück und schloss die Tür vor seiner Nase. Ein paar Minuten später reichte sie ihm einen kleinen Zettel heraus.
»Hier. Das ist das Konto. Und hier steht ihre Adresse. Das scheint aber nur ihre Büroanschrift zu sein, denn wenn man da abends anruft, geht nie jemand dran. Brauchen Sie sonst noch etwas?«
»Nein, vielen Dank, sie haben mir sehr geholfen.« Kaum hatte er seinen Satz beendet, schlug sie auch schon die Tür zu, und er konnte gerade noch hören, wie sie ihre Kinder anschrie. Langsam drehte er sich um und ging zu seinem Wagen. Die vergangenen Tage machten sich langsam körperlich bemerkbar, seine Glieder schmerzten und die Augen brannten. Außerdem hatte er das Bedürfnis, endlich seine Kleider zu wechseln. Auch geschlafen hatte er kaum, so sehr nahm ihn die ganze Sache gefangen. Er wollte auf dem schnellsten Weg ins Präsidium zurück, um noch ein paar Angaben zu überprüfen, und dann zu Johanna Jensen zurückzukehren.
Irgendwie fing er plötzlich an, sie zu bewundern. Jetzt, wo sie zu wissen glaubte, was der Killer wollte, jetzt, wo ihr eigenes Leben in Gefahr war, wurde sie ruhiger, gelassener. Ruhiger als er. Sie schien plötzlich nichts mehr anfechten zu können. So paradox es klang, aber sie schien sich fast auf den nächsten Anruf des Mörders zu freuen, so als bräuchte sie die Kommunikation mit ihm, weil es ihr das Gefühl gab, etwas tun zu können. Ganz im Gegensatz zu ihm. Er fühlte sich wie gelähmt, konnte einfach nur dabeisitzen und abwarten.
Er dachte noch einmal an das Gespräch zurück, das er gerade eben mit dieser jungen Frau geführt hatte. Sie sagte, dass sie das Haus vor einem Jahr von Susanne Gebauer übernommen hatten. Das passte gut zusammen. Vor knapp einem Jahr hatte sich Sylvia Marquardt im Gefängnis erhängt. Das konnte doch kein Zufall sein. Diekmann stellte sich nach wie vor die Frage, wie das alles zusammenhing. Er machte sich im Geist eine Notiz, nachzufragen, wann die Anwältin ihre Mandantin zuletzt im Gefängnis besucht hatte.
Im Präsidium angekommen, beschloss er, die paar Stockwerke zu seinem Büro zu Fuß zu gehen. Als er oben angekommen war, war er vollends wach und außer Puste. Mit hochrotem Kopf traf er auf eine seiner besten Mitarbeiterinnen. Julika war blass und schien in letzter Zeit auch nicht viel Schlaf bekommen zu haben.
»Gut, dass ich Sie treffe, Julika, könnten Sie bitte das hier schnell für mich überprüfen?«
Er reichte ihr den Zettel, den er bekommen hatte. »Ich brauche das wirklich so schnell wie möglich.«
»Aber das mit der Kontonummer kann eine Weile dauern. Sie wissen doch, dass der Staatsanwalt erst zustimmen muss, Herr Diekmann.«
»Wie Sie das machen, ist mir egal, nur bitte machen Sie es, und zwar am besten sofort.«
Julika seufzte, drehte sich um und verschwand in ihrem Zimmer. Diekmann betrat ebenfalls sein Büro und öffnete den Schrank. Er hatte hier immer eine komplette Garnitur Kleidung hängen, falls er einmal gezwungen war, über Nacht im Büro zu bleiben. Er beförderte die alten Klamotten, die er seit Tagen trug, mit einem Tritt in den Schrank und kleidete sich mit einem Seufzer der Erleichterung neu an. Dann ging er denselben Weg zurück, den er gekommen war und steckte beim Hinausgehen noch einmal den Kopf in Julikas Zimmer.
»Julika, ich fahre jetzt wieder. Wenn was sein sollte, mein Handy ist eingeschaltet.«
»Ist gut, Chef.« Sie hatte den Telefonhörer zwischen Kinn und Schulter geklemmt und winkte ihm kurz zu.
***
Johanna und Rainer hatten versucht, ein Gespräch in Gang zu bekommen, doch schon nach kurzem wieder aufgegeben, da keiner von beiden sich richtig auf die Konversation konzentrieren konnte. Johanna dachte nach.
Das Bild der Anwältin wurde immer deutlicher, und sie fragte sich, ob an den damaligen Gerüchten etwas dran gewesen war. Man munkelte damals, dass die Anwältin und ihre Mandantin lesbisch gewesen seien und ein Verhältnis miteinander hatten. Aber sie wusste nur zu gut, dass viele solcher Behauptungen nichts als dummes Geschwätz waren. Gerade bei der Polizei kochte die Gerüchteküche auf Hochtouren. Sie erinnerte sich an die funkelnden Augen der Anwältin, die wie eine Furie darauf bestanden hatte, dass ihre Mandantin nicht schuldfähig sei. Dann dachte sie an Sylvia, die nur dagesessen und gelächelt hatte; und sie selbst hatte damals das Gefühl gehabt, dieser Mörderin nicht gewachsen zu sein.
Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Vielleicht war Sylvia Marquardt überhaupt nicht tot. Vielleicht war sie ja der geheimnisvolle Anrufer. Johanna schüttelte den Kopf. Das war doch Blödsinn, die Fantasie ging mit ihr durch. Sie rubbelte sich mit den Händen über ihr Gesicht, um die Blutzirkulation anzukurbeln. Als sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss und sich die Wärme in ihr ausbreitete, fühlte sie sich etwas wohler. Inzwischen war sie sich fast sicher, dass diese ganze ominöse Geschichte etwas mit Sylvia Marquardt und ihrem Tod zu tun hatte. Hoffentlich würde Diekmann schon mehr wissen, wenn er wiederkam. Vielleicht hatte er inzwischen schon mit der Anwältin sprechen können.
Als sie hörte, wie der Schlüssel in der Haustür herumgedreht wurde, blickte sie ihm erwartungsvoll entgegen. »Und?«, fragte Johanna und versuchte in seinem Gesicht eine Antwort auf ihre Frage zu lesen.
»Die Anschrift der Anwältin, die wir in den Akten gefunden haben, ist mittlerweile überholt. Sie hat ihr Haus an eine junge Familie vermietet. Ich habe allerdings eine Kontonummer und eine neue Adresse bekommen, die ich gerade überprüfen lasse. Das ist alles. Und hier?« Er sah sich um, als erwarte er Joachim wieder hier anzutreffen.
»Alles so weit ruhig.«
Diekmann ließ sich schwer in die Polster des Sofas fallen: »Es ist zum Auswachsen. Ich habe das Gefühl, wir jagen einem Phantom hinterher. Bisher haben wir immer geglaubt, dass es sich um einen männlichen Anrufer handelt. Das war vermutlich ein ganz entscheidender Fehler. Jetzt haben wir plötzlich diese Anwältin. Aber was machen wir, wenn das auch ein Fehlschlag wird?«
Johanna hielt die Augen starr auf den Tisch gerichtet. »Diesmal sind wir auf der richtigen Spur. Ich fühle es.«
»Weibliche Intuition, oder woher nehmen Sie auf einmal Ihre Sicherheit?«
»Kann man so sehen, ja. Ich habe versucht, mich ganz genau zu erinnern. Ich habe mich an ihre Augen erinnert, an ihr Gesicht, an ihre ganze Erscheinung. Sie hat um ihre Mandantin gekämpft wie eine Löwin um ihr Junges. Sie wollte Sylvia um jeden Preis vor dem Gefängnis bewahren, und ich hatte mitunter sogar den Eindruck, dass ihr jegliches Unrechtsbewusstsein fehlte. Zumindest ihrer Mandantin gegenüber. Ich weiß«, sie winkte ab, obwohl Diekmann gar nichts gesagt hatte, »ein guter Anwalt muss für seinen Mandanten einstehen, aber das ging mir doch manchmal ein bisschen zu weit.« Johanna seufzte und stellte den Becher ab. »Wenn ich ehrlich bin, hatte ich sogar manchmal das Gefühl, sie ist verrückt.«
»Was? Und das sagen Sie hier so einfach?«
»Ich weiß. Ich kann das nicht genau erklären. Aber ich hatte tatsächlich ein wenig Bammel vor ihr.«
»Hat Sie Ihnen gedroht?«
»Nein.« Johanna schüttelte den Kopf, »zumindest nicht mit Worten. Aber sie hatte etwas Autoritäres an sich, das ich kaum beschreiben kann. Wissen Sie, damals munkelte man, die beiden Frauen hätten etwas miteinander. Ich habe das seinerzeit als dummes Gewäsch abgetan, aber heute bin ich mir nicht mehr so sicher.« Johanna malte mit dem Finger kleine Kreise auf die polierte Tischplatte und grübelte weiter. – »Wir sollten uns noch mal hinlegen und Kraft schöpfen, solange wir nichts anderes tun können«, schlug Diekmann vor. »Wir wissen ja nicht, ob und wenn ja, was als Nächstes passieren wird.«
Johanna legte sich zurück und zog sich die Decke bis zum Kinn. Sie spürte genau, dass es nicht mehr lange dauern würde.
Sommer 1996
»Darf ich Johanna zu Ihnen sagen? Ich fände das nur gerecht. Schließlich sagen Sie auch Sylvia zu mir.«
»Sicher. Woher wissen Sie, dass ich Johanna heiße?«
»Sie haben es mir selber gesagt, wenn Sie sich recht erinnern.« Sylvia Marquardt lächelte spöttisch. Johanna war wütend und verlegen zugleich. Sie musste aufmerksamer sein, durfte sich keine Fehler oder Schwächen mehr erlauben. »Außerdem sprach einer der Polizisten Sie mit diesem Namen an. Ist er Ihr Freund?«, fuhr Sylvia Marquardt noch süffisanter lächelnd fort. Man konnte deutlich spüren, dass diese Frau hinterhältig und gemein sein konnte.
»Sie wissen doch, dass ich keinen Freund habe. Aber ist das jetzt wirklich wichtig?«
»Was? Ob Sie einen Freund haben oder nicht?«
»Nein, was gerecht ist und was nicht.« Johanna versuchte die ganze Zeit, Sylvia anzusehen. Sie durfte einfach nicht vergessen, dass sie einer Mörderin gegenübersaß. Aber diese Frau faszinierte sie. Sylvia schwieg einen Moment, dann fragte sie:
»Glauben Sie an Gott?«
Was sollte das jetzt.
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, fuhr Johanna sie an. »Die Frage, ob Sie an Gott glauben, ist aber doch fast eine Antwort auf Ihre Frage nach Gerechtigkeit, oder? Sehen Sie.« Sylvia drehte die Handflächen zur Decke und blickte nach oben, »ich denke, in jedem von uns ist Gott. Und Gott ist gerecht oder nicht. Gott belohnt und Gott straft.« Sie lächelte spöttisch.
»Haben Sie die beiden Männer im Namen Gottes bestraft?«
»Himmel, nein.« Diese Frage schien Sylvia Marquardt wirklich zu amüsieren, »ich habe nicht bestraft. Ich habe es nur getan.«
»Was haben Sie getan?«
»Getötet?« Sylvias Antwort war mehr eine Frage als eine Feststellung. Sie schien sich ehrlich zu amüsieren über Johannas Verhör.
»Warum?« Johanna versuchte auf den leichten Tonfall dieser Frau einzugehen. Aber es fiel ihr schwer, und ihr Mund wurde trocken. Wieder stieg Furcht in ihr auf, Furcht vor der Kraft dieser Frau. Sie war krank. Ganz eindeutig. Aber sie ließ nicht zu, dass man ihr zu nahe kam, etwas über ihre Vergangenheit, ihre Familie oder ihre Motivation erfuhr. Immer wenn die Fragen zu persönlich wurden, wich sie aus. »Warum?«, wiederholte Johanna. Sylvia zuckte die Schultern. »Es hat sich so ergeben. Es war spannend, zu sehen, wie weit sie gehen würden, um mit einer Frau zu ficken. Aber wie Sie sehen, die Kerle würden alles tun. Deswegen haben Sie es nicht anders verdient.« Plötzlich änderte sich ihr Tonfall und wurde eine Nuance tiefer, fast anzüglich: »Haben Sie schon mal mit einer Frau gefickt?« Johanna brach der kalte Schweiß aus. Sie hatte das Gefühl, in die Defensive gedrängt zu werden und die Kontrolle zu verlieren. Doch Sylvia hörte noch nicht auf.
»Oder ficken Sie Ihren Freund?«
»Ich sagte schon einmal, ich habe keinen Freund! Außerdem geht es hier ja wohl nicht um Sex, oder?«
»Es geht immer um Sex. Das ganze Leben lang. Man kann sich nicht wehren. Sex ist Bestandteil des Lebens.« Für einen Moment verlor sich Sylvias Blick in der Ferne. Doch dann zuckte ihr Kopf, und sie sah schnell hoch, als ob sie sich vergewissern wollte, wo sie war. »Ich habe den Spieß einfach umgedreht, damit die Kerle mal wissen, wie das ist. So einfach ist das. Also, glauben Sie nun an Gott.«
»Meinen Sie, Gott will, dass wir töten?«
»ER ist gerecht und ER lässt uns Spiele spielen. Spiele, bei denen immer die anderen die Regeln bestimmen. Sie haben geschrien, wissen Sie.« Wieder stahl sich ein leichtes bösartiges Lächeln in ihr Gesicht. »Sie waren geknebelt«, widersprach Johanna. Sie kämpfte gegen Übelkeit, aber sie wusste, dass sie sich auf dieses Spiel einlassen musste. Ein Spiel, in dem Sylvia die Regeln bestimmte. »Stimmt. Ich habe sie geknebelt, aber ich konnte sehen, dass sie schreien wollten. Sie stöhnten und weinten wie Kinder. Hätten sie gekonnt, sie hätten um ihr Leben gefleht. Ich bin sicher, sie haben gebetet. Meinen Sie nicht?«
»Ich bin mir sicher. Ihr Spiel hat Ihnen also gefallen?«
Sylvia lehnte sich langsam zurück, streckte die Beine aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Ihre veilchenblauen Augen fixierten Johannas Blick, dann antwortete sie genüsslich mit Ja.
***
Johanna schreckte hoch. Wieder konnte sie sich nicht daran erinnern, eingeschlafen zu sein. Hatte sie etwas geweckt oder war es nur die Erinnerung an eine schreckliche Vergangenheit. Sie setzte sich auf und sah sich um. Diekmann saß noch immer in einem Sessel. Aber er hatte sich ausgestreckt, den Kopf angelehnt und schien zu schlafen. Rainer saß ausnahmsweise nicht auf seinem Stuhl. Er hatte es sich in seinem Schlafsack bequem gemacht und schnarchte leise. Johanna lehnte sich wieder zurück und starrte an die Decke. Langsam, ganz langsam kehrte die Erinnerung an die vergangenen Ereignisse zurück. Sie versuchte sich zu entspannen, atmete tief und gleichmäßig. Ihr Herzschlag beruhigte sich, aber das Gefühl blieb das gleiche wie damals. Dieses Unbehagen, das ihr den Schweiß aus den Poren trieb und ihr die Kehle abschnürte. Sie wusste nicht mehr, wann sie dieses Gefühl zum ersten Mal wahrgenommen hatte, aber es stand ganz deutlich in Zusammenhang mit ihrem Bruder und Sylvia Marquardt.
Sie hatte ihren Bruder insgeheim verurteilt, auch wenn es ihr schwer fiel, sich das einzugestehen. Mit dieser Schuld lebte sie noch heute. Damals hatte sie leicht ge- und verurteilt und über Dinge geurteilt, die sie nicht verstand und die sie auch nicht verstehen wollte. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, er hatte sich das Leben genommen. Auch bei Sylvia hatte sie eine Entscheidung getroffen. Sie fragte sich, ob Sylvia noch leben würde, wenn sie damals anders gehandelt hätte. Sie hatte schon damals gewusst, dass sie falsch handelte, aber sie hatte sich über ihre Moral, über das Gesetz und über ihr Gewissen hinweggesetzt. Doch danach hatte sie sich geschworen, dass so etwas nie wieder passieren durfte, und hatte dann versucht, die Sache zu vergessen. Jetzt musste sie feststellen, dass sie die Erinnerung an all diese Ereignisse nur jahrelang erfolgreich verdrängt hatte. Das Gefühl der Schuld war stärker denn je.
Sie schlug die Decke beiseite und stand leise auf. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Fenster und schaute durch die Lamellen der Jalousien nach draußen. Es war zwar schon dunkel, aber auf der Straße herrschte immer noch reger Betrieb. Sie selbst, Diekmann und wahrscheinlich auch Rainer hatten endgültig jegliches Zeitgefühl verloren. Sie lebten nur noch für den nächsten Augenblick. Als sein Handy klingelte, war Diekmann sofort wach. Er griff danach und hörte regungslos zu.
Julika war am Apparat.
»Die Kontonummer, die mir die junge Frau gegeben hat, lautet auf den Namen von Susanne Gebauer«, berichtete er anschließend, »unter ihrer Adresse ist ein Büroservice gemeldet, bei dem sie hin und wieder persönlich erscheint, um ihre Post abzuholen. Die gleiche Adresse hat sie auch bei der Bank angegeben.«
»Musste sie sich denn dort nicht ausweisen?«, fragte Johanna.
»Das hat sie bis heute nicht getan, und man hat sie schon mehrfach angemahnt deswegen. Da aber auf dem Konto ständig Bewegung ist, will man es ihr auch nicht sperren.«
»Kann man sie nicht zu diesem Büroservice locken und dort festnehmen?«
Diekmann hob den Kopf, so dass Johanna sehen konnte, wie frustriert er war. »Und mit welcher Begründung? Wir haben doch nichts als eine Vermutung. Und wenn sie es wirklich ist, dann wird sie uns nicht gerade auf die Nase binden, wo Markus ist. Was wird dann aus ihm? Können Sie mir das sagen?« Er war laut geworden. Mit einem Satz war er aus dem Sessel gesprungen und begann wie ein Tiger im Käfig auf und ab zu laufen. »Außerdem wird sie vermutlich wissen, wann die Post kommt, denn angeblich handelt es sich immer nur um amtliche Schreiben. Wir müssen jetzt rausfinden, wo sie wohnt oder wo sie Markus versteckt, zum Teufel. Aber warten Sie«, er war stehen geblieben und rieb sich mit der Hand die Stirn, »ich habe eine Idee. Wir werden jetzt schnell in Flensburg überprüfen lassen, ob irgendwo in Deutschland ein Auto auf ihren Namen gemeldet ist.« Noch bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, begann er wild Nummern in sein Handy zu tippen. Schon kurze Zeit später drehte er sich wieder zu Johanna um und sagte: »So, und jetzt können wir nur noch warten.«
»Darin haben wir ja schon Übung, oder?«, bemerkte Johanna trocken.
Für einen Moment sahen sie sich in die Augen. Beide schienen zu wissen, was der andere gerade dachte. Als das Telefon erneut klingelte, zuckte Diekmann zusammen. Diesmal war es Johannas Festanschluss. Nach dem dritten Klingeln nahm sie den Hörer ab.
»Hallo, mein Kind. Ich dachte, wir sollten noch ein paar Sachen klären, bevor wir uns sehen.« Auch wenn die Stimme immer noch künstlich klang, hatte sie jetzt, wo Johanna fast sicher zu wissen glaubte, wer dahinter steckte, ihren Schrecken für sie verloren.
»Sie wollen mich sehen?«
»Hatte ich dir das nicht neulich schon gesagt? Ja, natürlich will ich dich sehen. Wir sollten uns kennen lernen, findest du nicht? Ich meine, ich kenne dich ja bereits, aber hast nicht auch du das Bedürfnis, mich endlich kennen zu lernen?«
»Natürlich.« Johannas Stimme klang vollkommen ruhig. Sie hörte Diekmann scharf einatmen und konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie Rainer fieberhaft auf seiner Tastatur herumhämmerte. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er wieder wach geworden war.
»Das dachte ich mir. Deshalb sollten wir uns unbedingt treffen. Aber vorher musst du mir noch von dir erzählen.«
»Was genau wollen Sie wissen?«
»Wie geht es dir, wenn du daran denkst, dass du ein Menschenleben auf dem Gewissen hast?«
»Ich habe niemanden getötet.« Johannas Nackenhaare sträubten sich, und wieder spürte sie den Sog, den diese körperlose Stimme auf sie ausübte.
»Das habe ich auch nicht gesagt. Zumindest hast du es nicht mit deinen eigenen Händen getan. Trotzdem, wie fühlst du dich?«
»Ich habe viel darüber nachgedacht. Was ich damals getan habe, war falsch, das weiß ich jetzt.«
Aus dem Lautsprecher klang ein gespenstisches Lachen. »Jetzt? Erst jetzt? Hast du keine Albträume?«, fragte die Stimme scharf.
»Was wollen Sie von mir?«
»Gerechtigkeit? Rache? Was meinst du?«
»Aber was hat Markus mit alledem zu tun? Und was hatten die Frauen damit zu tun?«
»Was? Das weißt du immer noch nicht?« Wieder erklang blechernes, grausames Gelächter.
Johanna lief es eiskalt den Rücken herunter.
»Irgendwie musste ich dich ja aus der Reserve locken, und da es mit den Frauen nicht klappte, blieb nur noch eine Variante.«
Johanna war ganz still geworden. Es war also wahr. Die Frauenmorde hatten ihr gegolten. Doch warum? Immer noch war ihr nicht klar, worauf dieses Scheusal am anderen Ende der Leitung hinauswollte.
»Aber Markus hat niemandem etwas getan. Warum ziehen Sie ihn da mit hinein?«
»Die Frauen haben auch niemandem etwas getan, und dennoch habe ich sie mit hineingezogen.«
»Aber warum?«
»Warum nicht? Denk nach? Warum habe ich das wohl getan?«
»Sie haben mich damit gemeint. Sie haben es getan, weil Sie eigentlich mich töten wollen.«
»Du hast beinahe Recht. Ich will dich töten, aber nicht auf diese Weise. Ich wollte dir einfach nur ein Zeichen geben, mit dir in Kontakt treten, aber du hast leider nicht reagiert. Im Gegenteil, im Fernsehen hast du sogar von einem Kranken gesprochen, der für diese Morde verantwortlich sein sollte. Aber ich bin verantwortlich, genauso wie du! Und ich habe diese Frauen ausgewählt, weil sie dich erinnern sollen an das, was du getan hast, du Miststück!« Die Stimme des Killers war nun so schrill geworden, dass sie zu kippen drohte.
Johanna bekam Angst. So hasserfüllt, wie sich ihr Gegenüber anhörte, konnte Markus in akuter Lebensgefahr schweben. Sie musste dringend etwas unternehmen.
»Es tut mir Leid. Ich habe es nicht sofort verstanden, ich möchte es aber gerne verstehen.«
»Das solltest du auch. Du bist die Frau, die ich will, du bist diejenige, die die Leiden der armen Frauen und meiner Sylvia am eigenen Leibe erfahren soll. Du allein bist der Schlüssel zu allem, und du wirst mit deinem Leben dafür bezahlen.«
»Und was passiert mit Markus?«
Am anderen Ende herrschte Schweigen, nur das Atmen des Mörders war zu hören. Gleichmäßig, ruhig.
»Sein Leben gegen dein Leben. Komm zu mir und er wird leben. Markus bedeutet mir ebenso wenig wie diese Frauen.« Die Stimme am anderen Ende der Leitung wurde allmählich wieder ruhiger. Johanna atmete insgeheim auf, und der Schweiß, der ihr plötzlich auf der Stirn gestanden war, trocknete langsam.
»Denk darüber nach«, flüsterte es an ihrem Ohr, »ich gebe dir bis morgen Zeit.« Johanna legte das Telefon behutsam auf den Tisch zurück. Sie hatte keine Zweifel mehr über die Identität des Mörders und dachte mit leichtem Schaudern an den Fanatismus und den Hass, der ihr damals aus diesen brennenden Augen entgegengeschlagen war. Was sie die ganze Zeit über schon geahnt hatte, war nun Gewissheit geworden.
»Ich habe die Nummer und den Anschlussinhaber. Es ist ein Handy«, meldete sich Rainer triumphierend. Diekmann und Johanna drehten sich überrascht um. Rainer agierte so unauffällig, dass man seine Anwesenheit immer wieder vergaß. »Einen Moment noch ... der Name der Person ist ... aber das gibt's doch nicht ...!«
»Was ist denn. Jetzt reden Sie schon«, herrschte ihn Diekmann an.
»Die Person, die das Telefon angemeldet hat, heißt Sylvia Marquardt.«
Johanna war nicht besonders überrascht. »Das habe ich mir fast gedacht. Das passt genau in das Bild, das ich mir von ihr gemacht habe. Sie hat Sylvias Identität angenommen.«
»Wer ist sie? Susanne Gebauer? Vielleicht könnten Sie mir freundlicherweise mal erklären, was, zum Teufel, hier eigentlich vor sich geht? Was war das vorhin? Ich hatte das Gefühl, Sie beide kennen sich schon seit Jahren.« Johanna fröstelte. Langsam machten sich Müdigkeit und Erschöpfung vehement bemerkbar. Diekmann stand vor ihr, die Hände wie ein keifendes Waschweib in die Hüften gestützt. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte Johanna hysterisch aufgelacht.
»Ich habe Ihnen schon einmal von Sylvia erzählt, vor ein paar Tagen, als wir zusammen Mittag gegessen haben, erinnern Sie sich?« Da Diekmann nicht reagierte, sprach sie weiter. »Nachdem sie damals verhaftet worden war, wurde ich beauftragt, mit ihr zu sprechen. Ich sollte mir ein Bild von ihr machen, klären, ob sie schuldfähig war oder nicht. Erinnern Sie sich, das war die Frau, die zwei Männer bestialisch gequält und bei lebendigem Leibe abgeschlachtet hat, indem sie ihnen Penis und Hoden abschnitt und sie ihnen in den Mund stopfte. Dann hat sie zugesehen, wie sie langsam verbluteten. Es muss schrecklich gewesen sein. Ich habe mir den Tatort nie angesehen. Aber ich hatte ein paar Sitzungen mit ihr, und es stellte sich schnell heraus, dass sie schwer traumatisiert war. Obwohl sie so gut wie nie von ihrer Kindheit oder ihren Eltern sprach, war klar, dass ihr Trauma aus dieser Zeit herrührte. Sie war als Kind von ihrem Vater sexuell missbraucht worden, zumindest vermutete ich das aufgrund ihrer hasserfüllten Bemerkungen über Sex oder sexuelle Beziehungen. Irgendwann hat sie dann Rache genommen, obwohl der Vater damals schon längst tot war und sie sich von ihrer Mutter distanziert hatte. Wir haben damals versucht, ihre Mutter ausfindig zu machen, doch sie weigerte sich, ihre Tochter zu sehen. Ich denke, ihre Mutter wusste von dem Missbrauch und hat, wie viele Frauen in dieser Lage, ihre Tochter verstoßen, weil sie ihr die Schuld daran gab. Viele Frauen sehen nämlich tatsächlich in der misshandelten Tochter Konkurrenz und verstoßen sie. Das konnte ich damals, obwohl ich wusste, dass es so sein konnte, schwer verstehen.«
Diekmann sah Johanna noch immer stirnrunzelnd an, sein Ärger war jedoch verschwunden. Er unterbrach sie nicht, nickte ihr hin und wieder zu, fortzufahren. »Sie war eindeutig krank, aber sie war auch eiskalt und konnte Menschen manipulieren; auch ich erlag anfangs ihrer Ausstrahlung. Sie hatte etwas, das man nur schwer erklären kann. Wahrscheinlich wusste sie von frühester Kindheit an, wie sie sich durchschlängeln konnte, was sie tun musste, damit die Menschen das taten, was sie wollte.« Sie machte eine Pause, da sie nicht genau wusste, wie sie den Rest der Geschichte erzählen sollte. Es gab nichts, was ihr Verhalten entschuldigen würde. Diekmann konnte seine Ungeduld nur mühsam zügeln. Johanna seufzte und schlang die Arme fester um ihren Oberkörper.
»Ich erstellte ein falsches Gutachten. Die Berichte, die ich schon vorher angefertigt hatte, ließ ich verschwinden und schrieb neue. Das endgültige Gutachten wurde dann von Professor Trautmann und den Gegengutachtern gegengezeichnet und Sylvia wurde verurteilt.« Sie schloss die Augen und machte sich auf ein Riesendonnerwetter gefasst. Diekmanns Stimme klang rau, als er fragte: »Was genau bedeutete das?«
»Ich attestierte ihr geistige Gesundheit und erklärte, dass sie zwar gefühlskalt, aber auf jeden Fall schuldfähig sei. Den von mir vermuteten Missbrauch erwähnte ich mit keinem Wort.«
Für einen Moment lastete unheilvolles Schweigen über der kleinen Gruppe. Dann packte Diekmann Johanna plötzlich an den Schultern und riss sie zu sich herum, so dass sie beinahe gefallen wäre. Er schüttelte sie. Sein schmerzhaft verzerrtes Gesicht zeigte nicht nur Ärger, sondern auch Entsetzen. »Sind Sie wahnsinnig? Sie haben eine kranke Frau, ohne mit der Wimpern zu zucken, in den Knast geschickt, obwohl sie vermutlich mehr als irgendjemand sonst eine Therapie gebraucht hätte. Was sind sie bloß für eine Psychologin?«
»Was hätten Sie denn getan? Sie wäre in die Psychiatrie gekommen und nach ein paar Jahren wieder entlassen worden. Sie war in meinen Augen viel zu verstört, um noch therapiert zu werden, und ich war mir sicher, und das bin ich heute noch, dass sie nach ihrer Entlassung weitergemordet hätte. Verdammt noch mal, sie hat den Männern ihre Eier und ihre Schwänze abgeschnitten. Was, zum Henker, hätte ich denn tun sollen?« Sie hatte sich losgerissen und funkelte ihn wütend an. »So war ich wenigstens sicher, dass sie mindestens fünfzehn Jahre weggesperrt blieb. Außerdem, was soll Ihr Getue? Sie sind es doch, der uns Psychologen und Psychiater dafür verurteilt, dass wir Leute in die Klapsmühle bringen.« Sie bohrte ihm den Finger in die Brust und schubste ihn. »Sie sind es doch, der uns dafür verantwortlich macht, wenn Mörder nach ihrer Entlassung zu Wiederholungstätern werden. Und Sie sind es doch, der hier als Einziger zu wissen glaubt, was man mit Straftätern machen sollte. Sie sind verbohrt, borniert und ungläubig engstirnig.« Ihre letzten Worte klangen verächtlich, und man merkte ihnen an, dass sie ihrer aufgestauten Wut auf ihn und auf sich selbst freien Lauf ließ. »Sie mit Ihrer Selbstgerechtigkeit, wissen Sie was? Sie kotzen mich an. Ist doch alles nur Heuchelei und verlogenes Gerede.« Für einen Moment herrschte Schweigen. Johanna und Diekmann standen sich wie zwei Kampfhähne gegenüber. Sie konnte aus dem Augenwinkel sehen, dass Rainer zu einer Salzsäule erstarrt war. Es sah so aus, als hätte er zu atmen aufgehört. Diekmann brach als Erster das Schweigen.
»Es tut mir Leid. Ich fürchte, ich habe nicht das Recht, Sie zu verurteilen. Sie haben im Prinzip nur das getan, was ich immer gefordert habe. Solche Verbrecher gehören meiner Meinung nach in den Knast und nicht ins Krankenhaus.« Er machte einen Versuch, versöhnlich zu lächeln. »Sylvia Marquardt ist aber doch im Gefängnis gestorben. Heißt das, wir haben es tatsächlich mit ihrer Anwältin Susanne Gebauer zu tun?«
»Mir tut es auch Leid. Ich glaube, die Pferde sind gerade mit mir durchgegangen«, nahm Johanna Diekmanns Entschuldigungsversuch an, »ich fürchte, unser Anrufer ist Susanne Gebauer.«
Johanna wandte sich ab und entfernte sich ein paar Schritte von Diekmann. Sie fühlte sich erschöpft, ihr ganzer Körper schien förmlich in sich zusammenzufallen. Alle Kraft war plötzlich aus ihr gewichen, und bleierne Müdigkeit übermannte sie.
»Wir müssen uns jetzt gut überlegen, wie wir weiter vorgehen.« Diekmann hatte sich wieder beruhigt, und Johanna merkte, dass er die Situation zu entkrampfen versuchte. Er bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass sich die Spannung zwischen ihnen endlich wie in einem reinigenden Gewitter entladen hatte, und plötzlich bekam Johanna ein schlechtes Gewissen. Lange hatte sie mit dem Schicksal gehadert, und als endlich jemand kam, der ihre Ängste und ihre Zweifel beim Namen nannte, war sie ausgerastet. Er hatte ja Recht, es war ihre Schuld, dass sie jetzt alle hier standen und um das Leben von Markus kämpften.
»Haben Sie eine Idee?«, fragte Johanna, den Tränen nahe. Und sie drehte sich auch nicht um, als Diekmann ihr die Frage zurückgab, sondern antwortete: »Ich denke, wir sollten auf den Deal eingehen, den sie uns anbietet. Ich bin fast sicher, dass sie Markus nichts tun wird. Ich werde zu ihr gehen. Natürlich vertraue ich darauf, dass Sie zum rechten Zeitpunkt wie der Ritter in der schimmernden Rüstung angaloppiert kommen und mich retten werden. Was meinen Sie?«
»Ist das Ihr ganzer Plan?«
»Haben Sie einen besseren?«, fauchte Johanna zurück, und ihre Stimme klang schon wieder bissig.
»Na ja, vielleicht sollten wir jetzt erst einmal überprüfen, ob die gute Frau auch ihre Wohnung oder ihr Auto auf den Namen ihrer ehemaligen Mandantin angemeldet hat. Das wäre zumindest ein kleiner Hoffnungsschimmer.« Johanna hatte ihren Kopf an die Wand gelehnt und die Arme vor den Körper verschränkt. Ihr Kopf fühlte sich vollkommen leer an, und alles, was sie spürte, war ein dumpfer Schmerz tief in ihrem Innern, der immer stärker wurde. »Sie sollten etwas essen.« Diekmanns Stimme klang erstaunlich sanft. Er stand jetzt genau hinter ihr, und sein Atem streifte beim Sprechen ihr Haar.
»Ich kann jetzt nichts essen, aber einen Whisky könnte ich vertragen.« Sie hörte, wie er sich umdrehte und zu dem kleinen Schrank ging, wo sie ihre alkoholischen Getränke aufbewahrte. Kurze Zeit später hielt er ihr ein Glas hin, das bis zum Rand Mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt war.
»Hier, vielleicht hilft Ihnen das, zur Ruhe zu kommen. Wenn ich die Frau richtig verstanden habe, wird das morgen ein harter und langer Tag für Sie.«
»Ja, da mögen Sie Recht haben.« Johanna nahm das Glas von Diekmann entgegen, trank einen kräftigen Schluck und spürte augenblicklich, wie der Alkohol ihre Muskeln entspannte und sich wohlige Wärme in ihrem Körper ausbreitete. Sie lächelte. Ihre alkoholgefährdeten Patienten warnte sie immer vor dieser entspannenden Wirkung des Alkohols. Aber trotz des Whiskys ging ihr Sylvia Marquardt nicht mehr aus dem Sinn.