Sommer 1996
»Kennen Sie Ihre eigenen Geister und Dämonen, Johanna?« Es war einer der seltenen Momente, in denen Sylvia ernst war. Ihre Stirn war gerunzelt, und sie blickte auf das, was sie in den Händen hielt. Es war eine Rose, die sie aus ihrer Zelle mitgebracht hatte. Die unteren Blütenblätter hatten sich geöffnet und das zarte Herz der Blume freigelegt. Die oberen, porzellanartigen Blätter versuchten es noch zu schützen, aber es war nur eine Frage der Zeit, wann auch sie aufgeben und das Herz dem Verfall preisgeben würden. Sylvia strich so zärtlich über die Blume, als wolle sie sie trösten.
»Was ist mit Ihren?«, fragte Johanna.
»Sie sind immer da. Schon als Kind waren sie mir vertrauter als mein eigenes Ich. Sie waren da, um mich zu quälen und zu trösten«, entgegnete Sylvia versonnen.
»Können Dämonen denn trösten?«
»Wenn sie verhindern, dass man verrückt wird, schon. Was ist mit ihren Dämonen?«
»Ich habe keine, glaube ich.«
»Komisch. Meine sind immer bei mir.« Sylvia war nachdenklich geworden und völlig in der Betrachtung des zarten Gebildes in ihren Händen versunken.
»Waren Sie auch bei Ihnen, als sie die beiden Männer töteten?« Johanna wusste, dass ihre Frage brutal klang, aber sie wollte Sylvia aus der Reserve locken. Sylvias Lippen verzogen sich zu dem spöttischen Lächeln, das Johanna schon so gut kannte.
»Natürlich. Sie haben sogar applaudiert.«
»Sprechen Ihre Dämonen mit Ihnen?«, versuchte Johanna weiter in ihre Patientin zu dringen.
Sylvias Lächeln wurde stärker, ihre Stimme klang sanft, als sie sagte: »Ich höre keine Stimmen, falls Sie das meinen. Nein, ich höre nur auf meine innere Stimme, die mir genau sagt, was ich tun soll.«
»Haben Sie Schuldgefühle?«, fuhr Johanna fort.
»Nein.« Sylvia schüttelte ihre honigblonde Mähne. »Es gibt keinen Grund, etwas zu bereuen. Bereuen Sie es, dass sie hier mit mir sitzen?«
»Nein, das tue ich nicht.«
»Aber Sie hassen es. Sie wollen nicht mit mir zusammen sein. Sie verstehen mich nicht. Sie denken immer nur an diese Männer«, sie machte eine wegwerfende Handbewegung, »an diese Männer, die nur bekommen haben, was sie verdienten.«
»Ist das denn wirklich Ihre tiefste Überzeugung, Sylvia?«
»Ja, und es ist schade, dass ich nur diese beiden gekriegt habe. Aber glauben Sie mir, es ist nicht aller Tage Abend, ich komme wieder«, sie lachte leise, »und ich werde Ihr Dämon sein.«
***
Sylvia hatte Recht behalten. Sie war tatsächlich Johannas Dämon geworden. Inzwischen war beinahe ein neuer Tag angebrochen. Johanna war so sehr in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie die Zeit vergangen war. Das Telefon klingelte wieder, und die ihr mittlerweile wohl bekannte Stimme meldete sich:
»Guten Morgen, mein Kind. Ich finde, wir sollten keine Zeit mehr verschwenden. Findest du nicht auch?« Es hörte sich so an, als wolle die Stimme sie zu einem vergnüglichen Sonntagsausflug mit guten Freunden einladen. »Hast du dich entschieden?«
»Ja, das habe ich, ich werde kommen.«
»Gut. Dann tu genau das, was ich dir sage. Und ich glaube nicht, dass ich noch extra betonen muss, dass wir keine Polizei benötigen, oder?«
»Nein, natürlich nicht«, bekräftigte Johanna schnell.
»Wenn ich recht sehe, hat dein Polizistenfreund das Haus ohnehin vor zwei Stunden verlassen«, kicherte die Stimme höhnisch.
Johanna schreckte hoch und sah sich hektisch im Zimmer um. Rainer nickte ihr lächelnd zu, aber von Diekmann war keine Spur zu sehen. Anscheinend war sie so vertieft gewesen, dass sie nicht mitbekommen hatte, wie er fortgegangen war. Sie versuchte, die in ihr aufsteigende Panik niederzukämpfen und gelassen zu bleiben. Sie schluckte. »Ja, scheint so.«
»In zehn Minuten setzt du dich in dein Auto und fährst in Richtung Eidelstedt. Alle weiteren Anweisungen später. Und keine Polizei! Hast du verstanden? Wenn ich etwas Verdächtiges sehe, ist unser Deal geplatzt und Markus tot. Verstanden?«
Johanna nickte, ohne daran zu denken, dass man das Telefon nicht sehen konnte. Doch der Anrufer hatte bereits aufgelegt, ohne ihre Antwort abzuwarten. Johanna hielt das Telefon noch einen Moment ans Ohr und hörte das Besetztzeichen. Sie war sich jetzt absolut sicher. Der Anrufer konnte nur Susanne Gebauer, Sylvias ehemalige Anwältin, sein. Johanna legte langsam den Hörer hin und stand auf. Es war so weit. Jetzt konnte sie nur noch beten.
***
Als Diekmann die Wohnung verließ, hatte er zuerst vorgehabt, Johanna Bescheid zu sagen, aber sie hatte so abwesend gewirkt, dass er beschlossen hatte, unbemerkt zu verschwinden. Vielleicht war es sogar besser so. Der Killer würde sich bei ihr melden, und er würde sie zwar nicht beobachten können, aber er würde sie trotzdem nicht verlieren. Das hoffte er zumindest. Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Wenn irgendetwas schief ging, waren vermutlich beide tot. Markus und Johanna. Aber daran wollte er jetzt nicht denken. Seine Leute hatten herausgefunden, dass einer Sylvia Marquardt ein Haus in der Nähe von Bargteheide gehörte. Diekmann zweifelte keinen Augenblick daran, dass Susanne alias Sylvia dort auch Markus gefangen hielt. Er ging davon aus, dass sie Markus nicht zu dem Treffen mit Johanna mitnehmen würde. Das wäre zu gefährlich, und wenn Markus sich tatsächlich in einer Art Dämmerzustand befand, weil er mit Drogen ruhig gestellt worden war, dann würde sich der Killer mit ihm bestimmt nicht belasten wollen.
Diekmann hatte alles genau durchdacht. Wenn sie sicher waren, dass sich niemand in dem Haus befand, würden sie es stürmen. Johanna würde von einem seiner Beamten beobachtet, der ihr, sobald sie das Haus verließ, in sicherem Abstand folgen würde. Es war ein riskantes Unternehmen, aber es war ihre einzige Chance. Wenn es schief ging, war er erledigt. Schnell wischte er die Gedanken wieder wie eine lästige Fliege beiseite.
***
Als sie den Hörer auflegte, zitterte sie am ganzen Körper. Endlich war er da, der Moment, und sie würde ihn auskosten. Sie würde Johanna zappeln lassen, ihr sagen, dass sie nicht anders handeln konnte, dass sie sich alles selbst zuzuschreiben hatte. Immer wieder musste sie an Sylvia denken, der einzige Mensch in ihrem Leben, der sie so genommen hatte, wie sie war, und den sie selbst rückhaltlos geliebt hatte. Sie waren eine Einheit gewesen, auch hinterher, trotz der Gefängnismauer. Sie hatten sich ohne Worte verstanden und immer gewusst, was in dem jeweils anderen vorging. Sie war es auch gewesen, der Sylvia alles erzählt hatte. Ihr, Susanne, hatte sie von den Männern erzählt, die sie ausgesucht hatte, und sie um ihr Urteil gebeten. Sie hatte Sylvia sogar ihre Hilfe angeboten, doch sie wollte es alleine machen. Aber hinterher hatte sie ihr alles erzählt und dabei kein Detail ausgelassen. Sie wusste genau, wie Sylvia die beiden Männer überrumpelt und gequält hatte und diese dann in Todesangst um ihr Leben gebettelt hatten. Nächtelang hatten sie sich die Szenen wieder und wieder ausgemalt, ein paar Trips geschmissen, Joints geraucht und sich stundenlang voller Leidenschaft geliebt.
Es war nur natürlich gewesen, dass Susanne als Anwältin Sylvias Verteidigung übernommen hatte. Kein anderer Anwalt wäre in der Lage gewesen, sie so zu beschützen wie sie. Kein anderer hätte sie verstanden. Sie hatte gekämpft – und sie hatte verloren. Alles hätte so gut geklappt, wenn nicht diese Psychologin gewesen wäre. Wieder stieg die Wut in ihr hoch und schnürte ihr den Hals zu. Sie sah noch die versteinerten Gesichter der Polizisten vor sich. Sie hatte ihre Verachtung gespürt, ihren Ekel gerochen, was sie maßlos erregt hatte. Sie hatte gesehen, dass die Männer sich die Bilder der Toten kaum ansehen konnten, ohne an ihre eigenen Schwänze zu denken. Doch sie hatte sich diese Bilder immer gerne angesehen. Sie hatte sie sogar kopiert und zu Sylvia in den Knast geschmuggelt, um ihr die einsamen Nächte zu versüßen.
Aber dann kam diese Psychologin, die Sylvia nie verstanden hatte und die Angst vor ihr gehabt hatte.
Dabei war sie sich so sicher gewesen, dass Sylvia in ein Krankenhaus eingeliefert und nach ein paar Jahren nach Hause zurückkehren würde. Aber diese Frau hatte alles zerstört. Sie hatte Sylvia auf dem Gewissen. Sie ganz allein hatte sie mit ihrem falschen Bericht getötet, als ob sie ihr selbst den Bademantelgürtel um den Hals gelegt und sie vom Stuhl gestoßen hätte. Sie hatte alles zerstört, woran Susanne und Sylvia geglaubt hatten.
Sie hatte nicht nur Sylvia das Leben genommen, sondern auch ihr, Susanne, die Zukunft geraubt. Sie drehte sich um und sah auf die Straße hinaus. Diese Wohnung war ihre beste Idee seit langem gewesen, auch wenn sie sich in letzter Zeit kaum noch ohne Verkleidung aus dem Haus getraut hatte. Aber es hatte sich gelohnt. In diesem Moment konnte sie sehen, wie Johanna in ihren Wagen stieg.
***
Johanna zitterte und ihre Knie waren weich, als sie in ihren Wagen stieg. Die Angst schnürte ihr so den Hals zu, dass sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Als sie im Auto saß, atmete sie ganz bewusst gleichmäßig ein und aus. Der Schock darüber, dass Diekmann im entscheidenden Moment nicht an ihrer Seite und auch telefonisch nicht zu erreichen war, ließ Übelkeit in ihr aufsteigen.
Sie legte das Handy neben sich auf den Beifahrersitz und vergewisserte sich zum hundertsten Mal, dass es auch eingeschaltet war. Sie ging davon aus, dass Susanne Gebauer sich telefonisch bei ihr melden würde. Sie war jetzt überzeugter denn je, dass der Killer die ehemalige Anwältin von Sylvia Marquardt war. Etwas anderes konnte sie sich nicht mehr vorstellen.
Sie startete den Motor und versuchte sich von nun auf den Verkehr zu konzentrieren. So wie es aussah, wurde sie nicht verfolgt. Sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte oder nicht. Insgeheim hatte sie aber doch gehofft, dass Diekmann irgendwo in der Nähe wartete und sie nun verfolgte, auch wenn das gefährlich war. Sie umklammerte das Lenkrad fester und gab etwas mehr Gas. Als ihr Handy klingelte, legte sie eine Vollbremsung hin und knallte dabei beinahe gegen den Bordstein. Das Hupen der Autofahrer hinter ihr registrierte sie kaum, so schnell riss sie das Handy an sich. Beim ersten Versuch, den richtigen Knopf zu treffen, fiel ihr das Handy aus der Hand. Schnell angelte sie es vom Boden und meldete sich.
»Ja?« Sie betrachtete sich im Spiegel. Ein bleiches, verzerrtes Gesicht blickte ihr entgegen. »Du weißt, dass ich es hasse, zu warten.«
»Bitte entschuldigen Sie, mein Handy war heruntergefallen«, keuchte sie atemlos.
»Ist schon gut. Beruhige dich und fahr weiter Richtung Autobahn. Dann überquerst du die Kieler Straße, hältst dich links und biegst noch einmal links ab. Hast du verstanden? Ich gebe dir genau zwanzig Minuten Zeit. Nicht eine Minute länger. Solltest du dich verspäten, wird es kein Treffen mehr geben und Markus wird sterben.«
»Ich werde da sein. Aber falls es Stau gibt, dann ...«
»Zwanzig Minuten, keine Sekunde länger. Das ist mein letztes Wort.«
Ein Knacken in der Leitung verriet, dass Susanne Gebauer aufgelegt hatte. Johanna warf das Handy auf den Beifahrersitz und umklammerte das Lenkrad so fest, dass die Knöchel ihrer Finger weiß hervortraten. Verbissen starrte sie durch die Windschutzscheibe und trat das Gaspedal durch, um es sofort erschrocken wieder los zu lassen. Sie konnte es sich nicht leisten, wegen überhöhter Geschwindigkeit von der Polizei angehalten zu werden. Zum Glück war der Verkehr noch nicht besonders stark. Es war noch zu früh für den Berufsverkehr. Nur einige Taxen, Lieferwagen und Polizeiautos waren unterwegs. Sie hatte das Gefühl, jede Ampel sprang just in dem Moment auf Rot, in dem sie sich näherte. Der Schweiß rann ihren Rücken hinunter, und sie klebte förmlich mit der Nase an der Windschutzscheibe, so verkrampft fühlte sie sich. Alle Versuche, sich zu entspannen, scheiterten. Die Angst beherrschte sie vollkommen. Wenn sie ehrlich war, verschwendete sie kaum noch einen Gedanken an Markus, sie hatte nur noch Angst um sich selbst. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das alles überleben sollte. Denn eines war klar, Susanne Gebauer wollte ihren Tod und war wild entschlossen, dieses Vorhaben eigenhändig durchzuführen.
***
»Haben wir sie?« Durch das Echo im Handy konnte Diekmann seine eigene Stimme den Bruchteil einer Sekunde später verhallen hören. Sie klang hohl.
»Ja, wir verfolgen das Signal. Es gibt auch keinen Grund, warum wir sie verlieren sollten. Sie weiß nichts von dem Sender.« Rainers Stimme klang sachlich. Ihn schien das alles nicht weiter anzufechten.
Diekmann holte tief Luft und trank noch einen Schluck der lauwarmen Kaffeebrühe, die er sich von McDonald's geholt hatte. Er saß schon seit Stunden im Auto. Dicht genug an Johannas Wohnung, aber weit genug entfernt, um von möglichen Verfolgern nicht entdeckt zu werden. Obwohl er fror, war er schweißnass, sein Hemd klebte am Körper. Er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen würde. Noch konnte er Johanna nicht hinterherfahren, er wusste nicht, ob und wie Johannas Feindin sie beobachten würde. Seine Leute waren in Bereitschaft, und er verließ sich voll und ganz auf Rainer, der ihm den Startschuss zur Verfolgung geben würde. Er trank den letzten Rest Kaffee aus seinem Styroporbecher und warf ihn dann aus dem Fenster. Nervös klopfte er seine Jacke nach einer Schachtel Zigaretten ab. Obwohl die Zigaretten, die er herausangelte, völlig zerdrückt waren, steckte er sich eine an und inhalierte tief. Er musste husten. Er konnte sich kaum vorstellen, dass er früher einmal fast vierzig Stück von diesen Dingern pro Tag geraucht hatte. Dann starrte er die Fahrzeugdecke an und versuchte sich zu beruhigen. Es gab nichts, was er tun konnte, außer Abwarten. Schon um Markus willen durfte er sich zu keiner überstürzten Handlung hinreißen lassen. Einen kleinen Erfolg konnten sie zumindest bisher verzeichnen. Sie hatten in der Nähe von Hamburg eine Kate in einem kleinen Dorf ausfindig gemacht, die angeblich Sylvia Marquardt gehörte. Seine Mitarbeiter hatten die ganze Nacht gebraucht, um das herauszufinden, aber bei einem der Grundstücksämter im Umland hatten sie schließlich Erfolg gehabt. Die kleine Hütte – Haus konnte man das kaum nennen – war vor ungefähr einem Jahr von einer Sylvia Marquardt gekauft worden. Auf den gleichen Namen war auch ein dunkler Kombi zugelassen. Das musste das Auto sein, in dem Markus verschleppt worden war. Ein Trupp des mobilen Einsatzkommandos wartete in der Nähe der Hütte auf seinen Einsatzbefehl. Dann würde alles sehr schnell gehen. Ob Markus sich tatsächlich in dieser Hütte befand, wusste niemand, sie konnten es nur hoffen. Aber wahrscheinlich war dies hier die einzige Chance, die sie hatten. Denn Sylvia würde – so weit glaubte er sie inzwischen zu kennen – Markus' Aufenthaltsort nicht verraten, selbst wenn sie sie lebend erwischten. Und das wäre Markus' sicherer Tod. Er schloss die Augen und zählte langsam bis zehn.
***
Johanna blickte ständig auf die Uhr. Die Zeit zerrann ihr zwischen den Fingern. Sie hatte noch fünf Minuten, als sie an der Kreuzung angelangt war, in der die Kieler Straße auf den Sportplatzring traf. Als die Ampel grün zeigte, bog sie weisungsgemäß zweimal links ab und blieb stehen. Sie stellte den Motor ab und wartete. Sie befand sich in einer kleinen Stichstraße, in der einige Mehrfamilienhäuser standen. Parallel dazu verlief die Autobahn, was sie am Vorbeirasen der Autos hören konnte. Die Straße war nicht besonders lang, und sie stellte sich so hin, dass sie alles genau übersehen konnte. Noch eine Minute. Sie holte tief Luft und versuchte sich auf ihren Herzschlag zu konzentrieren, so dass sie das Taxi, das langsam heranrollte, zunächst nicht bemerkte. Sie schrie beinahe auf, als jemand leise an ihre Scheibe klopfte, und erblickte einen älteren Mann, der einen Zettel in der Hand hielt. Ein Blick in ihren Rückspiegel zeigte ihr, dass hinter ihrem Fahrzeug ein Taxi stand. Langsam und mit zitternden Fingern drehte sie ihre Scheibe herunter.
»Ja, bitte?« Ihre Stimme klang heiser und sie räusperte sich.
»Sind Sie«, der Mann hielt den Zettel ein Stück von seinen Augen entfernt, um ihn besser lesen zu können, »Johanna?«
Johanna Jensen, ja.«
»Ich soll Sie hier abholen.« Er betrachtete ratlos ihr Auto und versuchte sich sein Erstaunen darüber, dass jemand, der in einem Auto saß, ein Taxi brauchte, nicht anmerken zu lassen.
»Einen Moment.« Johanna drehte die Scheibe wieder hoch und stieg mit wackeligen Beinen aus. Sie versuchte den Taxifahrer anzulächeln, der sie neugierig beobachtete. Er schien sie für betrunken zu halten. Mit unsicheren Schritten folgte sie dem Fahrer zu seinem Auto und setzte sich hinten hinein. Er fuhr los, ohne den Taxameter einzuschalten. Johanna betrachtete ihn argwöhnisch, kam aber zu dem Schluss, dass es sich um einen normalen Taxifahrer handelte, der eine Fahrt ausführte, die ihm aufgetragen worden war. Er fuhr den Weg, den Johanna gerade gekommen war, zurück auf die Kieler Straße. Bevor Johanna sich richtig orientieren konnte, waren sie auf der Autobahn in Richtung Norden unterwegs.
***
»Verdammt. Ich habe sie verloren«, schrie Rainer auf.
»Was?« Diekmann saß kerzengerade auf seinem Sitz. »Was soll das heißen?«
»Dass ich sie verloren habe, verdammt. Der Kontakt reißt ab.«
»Wie konnte das denn passieren?«
»Ich weiß es nicht. Irgendetwas scheint das Signal zu überdecken.«
»Kriegen Sie das wieder hin?« Diekmann spürte, wie ihm der Schweiß nun in Strömen herablief, und er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er bemerkte, dass sein ganzes Gesicht schmierig war. Er hatte sich so lange nicht rasiert, dass die Bartstoppeln nicht einmal mehr hart waren, sondern sich wie weicher Flaum anfühlten.
»Ich versuche es. Das kann aber einige Zeit dauern, und es kann leider auch sein, dass ich das Signal gar nicht mehr finde.« Rainer klang verzweifelt.
»Mann, tun Sie endlich was, in Gottes Namen!«, schrie Diekmann ins Mikrofon. Wenn diese Aktion schief ginge, waren Johanna und Markus tot. Er betrachtete seine Hände und sah, wie sie zitterten. Sein ganzer Körper fing an zu beben. Er war den Tränen nahe, und er fühlte sich plötzlich wie ein hilfloses kleines Kind, das nach seiner Mutter suchte, nachdem es beim Einkaufen verloren gegangen war. Er erinnerte sich an ein Gebet, das er in seiner Konfirmandenzeit gelernt hatte, und begann die Fragmente, die er noch zusammenbekam, vor sich hin zu murmeln.
***
Der Taxifahrer fuhr verschiedene Umwege und Schleifen, so dass Johanna davon ausging, dass ihm die Route von seinem Auftraggeber genau vorgegeben worden war. Schließlich hielt er vor einem verwahrlosten Gelände. Und wenn Johanna sich nicht täuschte, befand es sich bereits hinter der Landesgrenze in Schleswig-Holstein.
»So, da wären wir.« Der Fahrer drehte sich leicht um und lächelte Johanna an. »Was macht das?« Sie fingerte nervös in ihrer Handtasche herum, auf der Suche nach ihrem Portemonnaie.
»Ist alles schon erledigt. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
Da er keine Anstalten machte, ihr beim Aussteigen behilflich zu sein, zog Johanna am Türgriff und stieg zögernd aus. Sie sah sich um und stellte fest, dass es sich um ein verlassenes Fabrikgrundstück handeln musste. In etwa hundert Meter Entfernung sah sie einen verfallenen alten Backsteinbau, das Gelände drumherum war übersät mit verrosteten Eisenteilen und kleinen Mauersteinen. In der Ferne konnte sie einige Neubauten erkennen, die jedoch zu weit weg waren, um ihr Trost oder Hoffnung zu spenden. Das Grundstück lag ruhig vor ihr. Nichts schien darauf hinzuweisen, dass außer ihr noch jemand hier war. Nichts störte den Frieden der Landschaft bis auf das Zwitschern einiger Vögel, die hier ein Zuhause gefunden hatten. Aber es war eine trügerische Ruhe, und Johanna war klar, dass sie im Inneren des Gebäudes erwartet wurde. Der Dunst des Morgens hatte sich ein wenig gehoben, aber so wie es aussah, würde es wieder ein verhangener und verregneter Tag werden. Sie setzte sich langsam in Bewegung und stolperte, ohne den Blick auf den ausgetrampelten Pfad vor sich zu richten, auf ein verwittertes Holztor zu, das in rostigen Angeln hin und her schwang. Sie blieb einen Moment stehen, wartete ab. Das Tor war geöffnet, so dass sie einen Blick in das Innere des Gebäudes werfen konnte, aber alles, was sie sehen konnte, war ein dunkles, finsteres Loch, das nichts von dem preisgab, was sie darin erwartete.
***
»Was tun Sie da eigentlich?«, bellte Diekmann in sein Mikrofon. Er kratzte sich unaufhörlich am Kinn. Es war schon ganz wund und knallrot, der Schweiß brannte an diesen Stellen wie Feuer.
»Ich kann nicht hexen.« Rainers Stimme klang mittlerweile ebenfalls ungeduldig.
»Das sollten Sie aber, schließlich geht es hier um zwei Menschenleben.« Diekmann konnte sich kaum noch beherrschen. Er rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her, am liebsten wäre er ausgestiegen. Sein Körper fühlte sich an, als ob er unter Strom stünde. Wenigstens hatte das Zittern inzwischen weitgehend aufgehört. Und auch seine Müdigkeit war endgültig verflogen; er wünschte sich, er könnte irgendetwas tun, damit das Gefühl, zu spät zu kommen, aufhörte.
»Es wird noch eine Zeit dauern. Ich finde den Störfaktor einfach nicht. Gedulden Sie sich noch einen Moment, bitte.« Rainer versuchte beruhigend auf seinen Chef einzuwirken, aber Diekmanns feines Gehör hörte jede Nuance Ungeduld und unterdrückten Ärger heraus. Seine Gedanken schweiften ab. Bizarrerweise musste er an seine Putzfrau denken und an das Chaos, das sie vor ein paar Tagen in seiner Wohnung vorgefunden hatte. Er wusste nicht mehr, wann er zuletzt in seiner Wohnung gewesen war, zumindest hatte er in den letzten Tagen keine Unordnung machen können, so dass die angedrohte Kündigung seiner Zugehfrau vermutlich erst einmal abgeschmettert war. Ein Auto fuhr laut hupend an ihm vorbei, und er erwachte wieder aus dieser Art Tagtraum. Er setzte sich aufrecht hin und beobachtete konzentriert durch den Außenspiegel die Fahrzeuge, die mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbeibrausten. Einige fuhren so schnell, dass der Fahrtwind an seinem Auto rüttelte. Sein Blick schweifte ab zu dem Schild, das diese Gegend als Dreißiger-Zone auswies. Wieder ließ er sich ablenken, ohne es zu wollen. Er schaffte es einfach nicht, seine Gedanken zu sammeln. Erst als Rainer ihn ein zweites Mal anrief, schrak er aus diesem merkwürdigen Zustand hoch.
»Herr Diekmann, sind Sie noch da?«
Ja. Sprechen Sie.«
»Ich hab das Signal, aber es bewegt sich nicht mehr. Es ist zum Stillstand gekommen.« In Rainers Stimme schwang Panik mit. Diekmann hatte das Gefühl, seine Haare stünden ihm zu Berge. Für einen Moment setzte sein Herz aus, dann traf er eine Entscheidung.
***
Johanna ging langsam durch das Tor. Es dauerte einen Moment, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Sie stand auf nacktem Zementboden. So wie es aussah, handelte es sich um eine ehemalige Maschinenfabrik. Sie erblickte lange eiserne Bänke, die wie Wäschemangeln aussahen, verschiedene verrostete Werkzeuge lagen herum und aus einem kleinen gläsernen Kabuff an der Rückseite des Raumes waren große Glasstücke herausgebrochen. Einige scharfe Kanten ragten noch aus dem brüchigen Fensterkitt. Sie sah nach oben zur Decke und bemerkte, dass auch hier ein Teil weggebrochen und in die große Halle hinabgestürzt war, so dass man das Dach sehen konnte. Eine große schmutzige, ölig glänzende Pfütze hatte sich am Boden gebildet. Die ganze Halle wirkte, als hätte man überraschend aufgehört, darin zu arbeiten. Niemand schien sich in der Zwischenzeit darum gekümmert zu haben, das Inventar wegzuräumen. Man hatte alles dem langsamen Verfall anheim gegeben.
»Du bist pünktlich. Ich mag das«, hallte die Stimme durch das Gebäude, aber so sehr Johanna auch suchte, sie konnte niemanden entdecken. Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse, die Stimme schien von überall gleichzeitig zu kommen. Sie fasste ihre Tasche fester und sah sich weiter fieberhaft um.
»Gib dir keine Mühe, du wirst mich sehen, wenn ich will, dass du mich siehst. Wir sollten uns erst einmal unterhalten, nicht wahr?«
Johannas analytischer Verstand gewann langsam wieder die Oberhand, und sie glaubte nun, dass Susanne Gebauer gern über ihre Taten sprechen wollte, weil sie bisher keine Gelegenheit dazu gehabt hatte. Also versuchte sie, sie aus der Reserve zu locken.
»Warum haben Sie all diese Frauen umgebracht?« Sie blickte unablässig nach oben, in der Hoffnung, irgendwo einen Hinweis zu entdecken.
»Wie sollte ich dich sonst herausfordern?«
»Sie wollten mich herausfordern?«, fragte Johanna erstaunt.
»Ja, ich weiß eine Menge über dich. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Ich wusste, dass du bei der Polizei arbeitest und bei bestimmten Fällen zur Beratung hinzugezogen würdest.«
Johanna hatte so etwas bereits vermutet, aber als sie es aus dem Mund dieser Frau hörte, war sie trotz allem erschüttert.
»Sie haben diese Frauen allen Ernstes getötet, nur um mich auf die Szene zu bringen?« Sie hörte selbst, wie ungläubig sie klang. Ihr Entsetzen darüber, dass sie praktisch schuld am Tod der Frauen war, vertrieb für einen Moment sogar ihre Angst.
»Das war der eine Grund.« Die Stimme klang nun sanft und freundlich. »Aber es gab noch einen weiteren. Sylvia war so schön«, die Stimme nahm einen schwärmerischen zärtlichen Tonfall an, »und du hast sie aus dem Leben gerissen. Ich habe sie geliebt. Dann hast du dieses Gutachten geschrieben, und all deine Kollegen haben es sogar noch bestätigt. Aber Sylvia war zu zart für das Gefängnis. Zu empfindsam.« Die Stimme begann zu zittern, und Johanna spürte, dass Susanne Gebauer kurz davor war, die Fassung zu verlieren. »Wir hatten eine wunderbare Beziehung, die man schwer beschreiben kann. Sie hat mit diesen Männern doch nur gemacht, was sie verdient haben. Sie haben sie immer nur benutzt.« Der Ton war bitter geworden, und Johanna erkannte, dass Susanne davon sprach, wie Sylvia als Kind missbraucht worden war. »Die toten Frauen waren auch schön, so schön wie meine arme Sylvia, hast du das denn nicht gemerkt? Und auch diese Frauen hast eigentlich du getötet. Du hast sie wie Sylvia einfach aus dem Leben gerissen.«
Johanna war für einen Moment sprachlos. Sie ließ ihre Tasche fallen und fuhr sich mit beiden Händen entsetzt durch ihr kurzes Haar. Sie zog an einigen ihrer Strähnen, als hoffe sie, endlich aus dem Albtraum zu erwachen.
»Aber diese Frauen haben Ihnen nichts getan!« Ihre Stimme klang erstickt.
»Nein, natürlich nicht«, antwortete Susanne Gebauer. »Sie haben mir auch nichts bedeutet. Es ging um Sylvia, um dich und um mich. Verstehst du das denn nicht?« Ihre Stimme klang nun wie die einer Lehrerin, die einem besonders begriffsstutzigen Kind das Einmaleins beizubringen versuchte.
»Aber, wie um alles in der Welt, sind Sie vorgegangen? Erklären sie es mir bitte. Was war zum Beispiel mit Maike Behrens?«
Die Frau lachte leise und verächtlich. »Ich habe mir die Namen nicht gemerkt. Sie waren so unwichtig. Mit der einen habe ich zusammen in einem Verein Sport getrieben. Unter falschem Namen natürlich. Eine andere habe ich in einem Kochkurs kennen gelernt. Die Dritte habe ich aufgegabelt, als sie mit einem dünnen Abendkleid durch den Regen ging. Sie hat geweint, und ich fuhr gerade mit dem Taxi durch die Nacht. Du musst nämlich wissen, dass ich nicht mehr als Anwältin praktiziere, sondern Taxi fahre. Als ich sie ansprach und ihr anbot, sie nach Hause zu bringen, ließ sie sich arglos darauf ein, vermutlich weil ich eine Frau war.«
Das Lachen, das ihren eigenen Worten folgte, war amüsiert und verächtlich zugleich. Sie zählte ihre Taten so beiläufig auf, als ob sie eine Einkaufsliste vorlas. Johanna erinnerte sich blitzartig an die Diskussion, die sie mit Flo und Markus geführt hatte.
»Und was war mit der vierten Frau?«, fragte sie.
»Lass mich überlegen.« Johanna hatte den Eindruck, dass die Frau näher gekommen war. »Ach, die klingelte an der Haustür und wollte für behinderte Kinder sammeln.« Johanna sah im Geiste die Bilder der toten Claudia Beckmann vor sich. Sie konnte sich gut vorstellen, wie diese junge Frau mit der Sammelbüchse von Tür zu Tür gegangen und vertrauensvoll in die Wohnung einer Frau eingetreten war, aus der sie dann nicht mehr herauskommen sollte.
»Woher hatten Sie das Medikament?«
»Ach das«, die Frau lachte ein glockenhelles, vergnügtes Lachen, »das bekommt man überall. Am Hauptbahnhof zum Beispiel. Ich war ziemlich verärgert, als ihr diesen Idioten, diesen kranken Einfaltspinsel festgenommen habt. Ich war sehr wütend. Das war nicht richtig von euch.« Jetzt wollte Johanna alles wissen. Das Bild von Gudrun Spengler kam ihr in den Sinn, die Frau, die als einzige Fesselungsspuren an den Handgelenken aufgewiesen hatte. »Was haben sie mit Ihrem letzten Opfer gemacht?«, fragte sie.
»Ach Gott, war das die, die ich heulend aufgegabelt habe? Nun, die sah genauso aus, wie ich es mir vorgestellt hatte, und weil ich Angst hatte, dass ich so schnell kein passendes Exemplar mehr auftreiben würde, habe ich sie sozusagen auf Vorrat mitgenommen. Natürlich musste ich sie erst einmal eine Weile aufbewahren. ja, ja«, die Stimme seufzte, als hätte sie an einer schweren Bürde zu tragen, »es war schon ein Jammer. Sie hat leider kleine Verletzungen davongetragen und so mein perfektes kleines Werk zerstört. Hat es dem Gesamtbild sehr geschadet?« Die Stimme wandte sich fragend an Johanna. Sie konnte die Gefühlskälte dieser Frau kaum noch ertragen, die mit ihrer Besorgnis um das »Gesamtbild« geradezu grotesk auf sie wirkte.
»Sie sind krank«, sagte Johanna leise und voller Abscheu. Susanne Gebauer lachte leise. »Weißt du, was mir besonders Spaß gemacht hat? Ich war dir einmal so nahe, dass ich dich anfassen konnte. Erinnerst du dich noch? ›Wieschen, wieschen‹?«
Johanna stockte der Atem, als Susanne Gebauer ihre Stimme verstellte. Sie klang jetzt hoch und ein wenig unsicher, und sie konnte sich erinnern, diese Stimme und diese Worte schon einmal gehört zu haben, aber wo genau war das gewesen? Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen! Die Putzfrau im Präsidium!
»Sie, Sie waren die Putzfrau!« Vor ihrem geistigen Auge erschien wieder die unförmige Gestalt, die mit Kopftuch und unsauberem Lappen in ihrem Büro herumgefuhrwerkt hatte. An die Gesichtszüge dieser Frau konnte sie sich aber trotz allem nicht mehr erinnern.
»So, genug geplaudert.« Susanne Gebauer klatschte in die Hände. Johanna hörte Schritte auf sich zukommen. Sie stand mit dem Rücken zu den gebrochenen Glasfenstern und blickte nach draußen zum Tor, das unverändert offen stand. Als die Stimme plötzlich hinter ihr auftauchte, fuhr sie erschrocken herum. »Es wird Zeit, mein Kind. Auf diesen Moment habe ich lange gewartet.«
***
Als Markus die Augen aufschlug, sah er mehrere vermummte Gestalten über sich gebeugt. Sie sagten kein Wort, sondern rüttelten nur an seiner Schulter. Der Nebel in seinem Kopf lichtete sich ein wenig, aber nicht genug, um die Situation zu erfassen. Es war nicht die gleiche Maske wie sonst, es waren verschiedene. Bisher war es immer nur eine gewesen. Sie zerrten ihn plötzlich hoch und versuchten ihn auf die Füße zu stellen, doch sie wollten ihm nicht gehorchen und sackten immer wieder unter ihm weg. Er spürte, wie seine Beine hinter ihm her schleiften, als er weggetragen wurde, aber es kümmerte ihn nicht weiter. Er schloss die Augen und ließ das Kinn auf die Brust sinken.
Unerträglicher Gestank weckte ihn wieder, und er fragte sich, ob er der Einzige war, der ihn wahrnahm. Er versuchte den Kopf zu heben, um sehen zu können, aus welcher Richtung der Gestank kam. Doch sein Versuch, den Kopf zu heben, misslang, aber er konnte durch seine halb geöffneten Augen Licht sehen. Es tat so weh, dass er die Augen wieder schloss. Erst als er geohrfeigt wurde, drehte er den Kopf herum und hörte ganz entfernt, wie sein Name gerufen wurde. Lange hatte er ihn nicht mehr gehört – es klang beruhigend.
***
Susanne Gebauer hatte plötzlich eine Pistole in der Hand und zielte damit auf Johannas Magen. Wie gebannt starrte Johanna die Waffe an und fragte sich, wie diese Frau wohl so ohne weiteres an eine Waffe gekommen war. Sie hatte immer schon die abgedrehtesten Gedanken gehabt, wenn sie sich in Gefahr gefühlt hatte.
»Keine Angst, ich will dich nicht erschießen. Ich habe etwas viel Schöneres mit dir vor. Du sollst Sylvia folgen, und zwar detailgetreu. Wenn du dich aber wehren solltest, muss ich dich leider erschießen.«
Johanna betrachtete die Frau. Sie war noch plumper, als sie sie in Erinnerung hatte, aber die Augen war die gleichen. Durchdringend, beinahe irr, blickte sie Johanna an. Das Haar war mittlerweile grau geworden und hing strähnig an ihrem Kopf herunter. Es war dünn und machte einen ungepflegten, schlampigen Eindruck. Susanne Gebauer hatte den Kopf geneigt und sah sie lächelnd an. Trotz allem schien Ruhe von ihr auszugehen. Johanna zweifelte keinen Moment, dass diese Frau sich ebenfalls das Leben nehmen würde, sobald sie Johanna getötet hatte. »Ich denke, wir gehen jetzt.« Sie begann zu flüstern und legte einen Finger an die Lippen, als befürchte sie, jemanden zu wecken. Johanna löste sich aus ihrer Starre und rammte mit einem verzweifelten Aufschluchzen ihren Kopf in den Magen der anderen Frau. Sie hörte, wie die Frau ächzend aufstöhnte und dann nach Atem rang. Als sie den Schuss hörte, ließ sie sich mit geschlossenen Augen zu Boden fallen und wartete auf den Schmerz.
Eine tröstliche Dunkelheit umfing sie.
»Na, alles in Ordnung?« Wie aus weiter Ferne hörte Johanna Fußgetrappel und eine Kakophonie aus Stimmen. Sie öffnete die Augen und sah Diekmanns ernstes Gesicht. »Was ist los?«, fragte sie, und versuchte sich auf einem Arm zu stützen, der sofort unter ihrem Gewicht nachgab. Diekmann legte beide Arme um ihren Oberkörper und zog sie hoch. Er schleifte sie zu einer Wand, lehnte sie vorsichtig dagegen und ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung neben ihr nieder. Sie starrten auf das Durcheinander vor ihnen. Uniformierte Polizisten sicherten mit gezogenen Pistolen den Eingang, eine Person, um die sich ein Ring von Menschen versammelt hatte, lag auf dem Boden.
»Was ist hier los?«, fragte Johanna matt. Diekmann sah sie nicht an, als er antwortete. »Ich habe Susanne Gebauer erschossen.«
»Sie ?« Johanna konnte es nicht glauben. Irgendwie fehlte ihr ein Teil ihrer Erinnerung.
»Ja, ich kam gerade noch rechtzeitig, als Sie mit ihr in einen Kampf verwickelt waren. Das war ziemlich knapp, ist Ihnen das bewusst?«
Johanna wusste, was er meinte. Um ein Haar wäre er zu spät gekommen. »Und was ist mit Markus?«, hakte sie weiter nach.
»Er steht unter Drogen, kommt aber wieder in Ordnung.«
Beide schwiegen eine Zeit lang und sahen dem Treiben um sich herum zu. Polizeifotografen machten Bilder von der Leiche, nachdem um Susanne Gebauer kleine Nummernschilder aufgestellt worden waren. Danach wurde der Umriss ihres Körpers mit Kreide auf den Boden gemalt. Irgendjemand drückte Johanna einen Plastikbecher mit Kaffee in die Hand.
»Wie haben Sie mich gefunden?«, fragte sie Diekmann ungläubig.
»Wir hatten Ihnen einen Sender installiert.«
»Einen Sender?« Sie sah ihn erstaunt von der Seite an.
»Ja. Rainer hat einen Sender in das externe Bedienungsgerät ihrer Zentralverriegelung gesetzt. Sie wissen schon, das Ding, das an ihrem Autoschlüssel hängt. Leider hatten wir sie einige Zeit verloren.«
»Ich bin in einem Taxi gefahren.«
Diekmann nickte. »Die Funkgeräte haben dort wahrscheinlich unser Signal überlagert.« Irgendwie fand Johanna es tröstlich, dass Diekmann die ganze Zeit über da gewesen war. Zumindest beinahe. Sie wusste nur nicht, warum man es ihr nicht vorher gesagt hatte. »Mussten Sie sie denn erschießen?«
Diekmann sagte lange Zeit gar nichts. Dann sah er sie an. »Mussten Sie denn das Gutachten fälschen?«
Johanna betrachtete den Becher in ihrer Hand und nahm einen Schluck von dem heißen Getränk. »Ja, das musste ich.«
»Sehen Sie«, sagte Diekmann gedankenverloren.
Die Stimmung in der Halle entspannte sich zusehends. Ruhig und routiniert machten die Beamten ihren Job.
»Susanne Gebauer konnte nicht anders, wissen Sie«, meldete sich Johanna noch einmal zu Wort. Noch immer saßen sie an der Wand gelehnt. Diekmann hatte die Beine angezogen und seine Hände locker um seine Knie gefaltet. Johanna schlürfte in kleinen Schlucken ihren Kaffee, den Sanitäter, der sie ansprach, nahm sie kaum wahr. Sie winkte ab, und zu ihrer Erleichterung verschwand er wieder. Irgendjemand kam und legte ihr eine Decke um die Schultern. Sie lächelte mechanisch zum Dank und konzentrierte ihren Blick dann wieder auf die Leiche, die ein paar Meter von ihr entfernt lag.
Als Diekmann wieder zu sprechen ansetzte, klang seine Stimme rau. »Ich weiß, wir hatten keinen guten Start. Lassen Sie uns noch einmal von vorne beginnen.« Er räusperte sich und hielt ihr seine Hand entgegen. »Mein Name ist Sven.«
Johanna sah ihn an und ergriff seine Hand. »Ich bin Johanna.«