Verdacht als Unternehmenskultur
Ein Problem definieren heißt ein Problem konstruieren. An den folgenden Problemkonstruktionen kann der Leser seine persönlichen Reaktionen überprüfen und die Folgerungen erkennen. Das Problem heißt: »Menschen tun freiwillig nicht das, was sie tun sollen.«
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»Der Mensch hat eine angeborene Abneigung gegen Arbeit und versucht, ihr aus dem Weg zu gehen, wo immer er kann. Er sucht Lust ohne Anstrengung. Deshalb muss der Mensch unter Druck, Zwang, Strafandrohung und Kontrolle dazu gebracht werden, seinen Beitrag zur Erreichung der Organisationsziele zu leisten.« – Solange das Problem so »konstruiert« wurde, musste man den Hebel beim Mitarbeiter ansetzen und ihn zur Arbeit »anreizen«. Das Unternehmen hatte nur insofern ein Problem, als es sich die Mitarbeiter gefügig machen musste.
Später wurde das Problem umformuliert und konstruiert als eines, das durch den hedonistischen Zeitgeist geschaffen wurde: »Die Leistungsfreude stirbt aus!« Nun sah sich das Unternehmen nur insoweit in der Verantwortung, als es alle seine Anstrengungen auf die heldenhafte Aufgabe richtete, den Mitarbeitern ein entschiedenes »Nein« zum Zeitgeist beizubringen beziehungsweise den Geist der Zeit selbst durch allerlei PR-Arbeit zu beeinflussen.
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Das Problem kann aber auch wie folgt beschrieben werden: »Der körperliche und geistige Einsatz in der Arbeit ist für den Menschen ebenso natürlich wie Spiel und Ruhe. Wenn der Mensch Sinn in seiner Arbeit sieht, wenn die Ziele seiner Arbeit auch
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Jede dieser Problemformulierungen ergibt ein Bild, das man mag oder nicht – entsprechend dem eigenen Bewertungssystem. Die negativ belegte Problemkonstruktion wird rasch zurückgewiesen, aber in der Regel nicht durch ein Menschenbild begründet, sondern durch Rückgriff auf wissenschaftliche Beweise, wie »wissenschaftlich« der Beweis auch immer sein mag.
Die zentrale Frage
Eine ähnliche Problemkonstruktion steht im Hintergrund der Motivierung. Die zentrale Frage der Führungskraft lautet nämlich: Wie bekomme ich die ganze Arbeitskraft meiner Mitarbeiter?
Diese Frage beinhaltet unausgesprochen eine Voraussetzung: Die Mitarbeiter leisten aus sich heraus nicht das, was sie sollen, was sie vertraglich vereinbart haben und wofür sie bezahlt werden. Anthropologisch gewendet: Eigentlich wollen Menschen nicht arbeiten, nicht leisten; sie suchen nach Lust ohne Anstrengung, nach Entspannung statt nach Spannung im Leben.
Um es schärfer zu formulieren: Eigentlich – so die implizite Annahme – sind tendenziell alle Mitarbeiter Betrüger. Sie betrügen den Arbeitgeber um einen Teil der Arbeitskraft, die er bezahlt.
Ich glaubte kaum, dass das jemand in dieser Zuspitzung behaupten wollte – und wurde doch vom Altmeister der Managementtheorie eines Schlechteren belehrt: »Wenn Sie Chef sind, ist Ihr Mitarbeiter darauf aus, Sie zu betrügen«, ließ sich Peter F. Drucker vernehmen – entweder seine eigenen Erfahrungen projizierend oder sich wenig mühend, genauer hinzusehen.
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»Manche haben anderen das Betrügen beigebracht, weil sie fürchteten, betrogen zu werden«, wusste schon Seneca. Projektion: Misstrauisch sind vor allem jene, die enttäuscht wurden, denen das Leben übel mitspielte. Misstrauen ist die Intelligenz der Benachteiligten. Und schon in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts wies Morton Deutsch nach, dass ein Vorgesetzter nur dann dazu neigt, seinen Mitarbeitern zu misstrauen, wenn er sich selbst misstraut: Ein Chef, der sich selbst verdächtigt, wird entsprechende Erwartungen hegen und damit den Teufelskreis »Misstrauen – Kontrolle – Kontrollumgehung – Misstrauen« in Gang setzen. Peter F. Drucker kam wohl nicht auf die Idee, den Beitrag der Führungskraft am Verhalten des Mitarbeiters in Rechnung zu stellen.
Aber das ist doch die eigentlich interessante Frage: Was trägt die Führungskraft dazu bei, dass sich der Mitarbeiter so verhält, wie er sich verhält?
Der Ursprung der Motivierung
Damit also ist der Ursprung aller Motivierung identifiziert: Ursprung aller Motivierung ist eine behauptete oder beobachtete Lücke zwischen tatsächlicher und möglicher Arbeitsleistung.
Die zur Schließung dieser Lücke erfundene Motivierung stellt damit ein Handeln dar, dessen axiomatische Basis unübersehbar Verdacht und Misstrauen sind.
Das System der Motivierung ist methodisiertes Misstrauen.
Geröllhalde des Misstrauens
Spätestens an diesem Punkt der Überlegung wird deutlich (und das gilt auch für dieses Buch!), dass alle Rede über Motivation
|46|immer das jeweilige Menschenbild des Redners (zumeist unausgesprochen) mittransportiert, jenes Gemenge aus anthropologischen Grundannahmen, individuellen Erfahrungen und Zeitgeist, welches die persönlich und historisch unterschiedlichen Variationen des Themas bedingt. Über Motivation zu diskutieren heißt geradezu, Menschenbilder zu diskutieren.
Pessimistische zumeist: Bei Befragungen stuft die Mehrzahl der Führungskräfte selbst ihre engsten Mitarbeiter als arbeitsscheu ein, nur durch materielle Anreize angetrieben und durch Kontrollen diszipliniert. Interessanterweise bewerteten die meisten Führungskräfte ihre eigene Leistungsbereitschaft aber um ein Vielfaches höher. Hingegen gehen Manager – sofern sie selbst Untergebene sind – in ihren eigenen Beziehungen zu übergeordneten Vorgesetzten vom Gleichheitsprinzip aus. Zu nicht geringen Teilen schätzen sie sich sogar hinsichtlich Kreativität, Flexibilität und Innovationsbereitschaft ihren Vorgesetzten gegenüber überlegen ein.
Ich kann eine Erfahrung aus vielen Seminaren und Managementkongressen anfügen: Die Frage »Mit wie viel Prozent Ihrer möglichen Arbeitsleistung tun Sie Ihren Job?« beantworteten Führungskräfte aller (!) Hierarchieebenen unterschiedslos mit annähernd 100 Prozent. Das heißt: Selbstbild und Fremdbild klaffen ganz offensichtlich auseinander. – Auf die Frage »Wie möchten Sie von Ihrem Vorgesetzten motiviert werden?« reagieren Führungskräfte ebenfalls nahezu ausnahmslos ablehnend, halten bezeichnenderweise aber die Motivierung ihrer Mitarbeiter für unabdingbar – eine einigermaßen groteske Haltung, berücksichtigt man, dass fast alle Führungskräfte gleichzeitig auch wieder Mitarbeiter sind.
»Der Produktionsfaktor Mensch muss auf Trab gebracht werden«, sagte Wolfgang Röller, ehemals Chef der Dresdner Bank. Wer bringt Wolfgang Röller auf Trab? – Der Verdacht schielt offensichtlich immer von der Hierarchie hinab – nach »unten«, wo die Leistungsverweigerer, die Selbstpensionierten sitzen. Eine absurde Geröllhalde des Misstrauens.
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Verdachtskultur
Hier deutet sich schon zweierlei an. Erstens: Zum Motivieren gehört wesenhaft, dass es asymmetrisch, also von oben nach unten angewendet wird. Zweitens: Es offenbart sich die immanente Zweideutigkeit der Motivierung, die ihrerseits nur plausibel wird, wenn sie mit einem Bein auf der Seite des Leidens steht, gegen das sie zu kämpfen scheint.
Die Wirkungen auf die Kultur eines Unternehmens sind unübersehbar. So bilden die Dienstleistungen des Misstrauens beinahe das allein gültige, konkurrenzlose Angebot, das heute allem Miteinander im Unternehmen aufgenötigt wird. Selbst da, wo von einem Expertenteam ein Transparenz gewährleistendes Management-by-Objectives-Führungssystem eingeführt, die MbO-»Philosophie« auf vielen Seminaren als ebenso ethisch überzeugend wie ziel- und steuerungsbezogen funktional ausgewiesen wird, selbst da wird dennoch unverdrossen weiter-»gelockt« und weiter-»verführt«. Warum? Doch wohl nur, weil Misstrauen das Verhältnis der Führung zu den Geführten nach wie vor beherrscht. Das Ergebnis: eine Verdachts-Organisation.
Ich wurde Zeuge eines Gesprächs zwischen den Topmanagern einer Vertriebsorganisation. Ein Bereichsleiter sagte: »Man müsste dem Außendienst mal so richtig in den … treten.« Das alles eher flüsternd. Wie ohnehin der Flüsterton offenbar der Komment der Motivierung ist. Vieles darf man nicht laut sagen. Das Wort »Antreiben« in Zimmerlautstärke? Im Kreise von Führungskräften wirft man sich oftmals Blicke stillen Einverständnisses zu, wenn Meinungen geäußert werden, Mitarbeiter seien im Allgemeinen antriebsschwach und initiativescheu (wobei man nicht erkennt, dass die alltäglichen, scheinbaren Bestätigungen dieses Menschenbildes zum guten Teil auf Selffulfilling-Prophecy-Effekte zurückzuführen sind).
Noch einmal selffulfilling Prophecy: Misstrauen, so der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann, besitzt die unabweisbare Tendenz, sich im sozialen Miteinander zu bestätigen und zu verstärken. Wenn ich misstrauisch bin, wird es sich bewahrheiten. Das daraus resultierende Kontrollsystem funktioniert aber nur so
|48|lange, bis Wege gefunden werden, die Kontrolle zu umgehen. Im Spanischen sagt man: »Hecha la ley, hecha la trampa.« (»Für jedes Gesetz findet sich ein Hintertürchen«). Und Robert K. Merton sekundiert: »Misstrauische Vorgesetzte werden es immer erleben, dass Mitarbeiter das Misstrauen durch ihr Verhalten nachträglich rechtfertigen.« Wenn Führungskräfte ihre Mitarbeiter für dumm, antriebslos und unselbstständig halten, dann verhalten sich diese auch so. Mindestens aber lassen die Wahrnehmungsfilter gar kein anderes Urteil zu. Es offenbart sich die für die Motivierung so typische Doppelung der Tendenzen, einerseits die Schließung der Motivationslücke zu begehren, sie andererseits zu hintertreiben, weil man erwartet, von einem fremden Willen getäuscht zu werden.
Man spricht ja auch von »Kontroll-Spannen«. Im Dunstkreis der Motivierung ist diese Wortschöpfung denn auch sinnvoll und stimmig, weil eine auf Verdacht aufgebaute Unternehmenskultur ein entsprechendes Kontroll-Verhältnis zwischen Chef und Mitarbeiter definiert. Im Zeichen immer flacherer Hierarchiepyramiden muss sich das Wort »Kontrolle« aber wohl von der »Spanne« lösen und durch die »Vertrauensspanne« ersetzt werden. Vergleichbare Organisationen – Orchester, Kirchen, Krankenhäuser, Partnerunternehmen – funktionieren trotz oft extrem hoher »Vertrauensspannen«, weil die Grundwerte bekannt sind und gelebt werden. Das heißt: Je flacher die Organisation, desto wichtiger ist eine auf Vertrauen gebaute Unternehmenskultur.
Dem pessimistischen Menschenbild aber entspricht, dass die losgelassene Menschennatur hier und jetzt keinen Optimismus, kein Vertrauen verdiene. Dieses Denken gibt sich hierin positivistisch. Es erklärt sich mit Erfahrung. Betrüger werden als Beleg dafür angeführt, wohin man kommt, wenn man sentimental wird und »modischen Ideologien« nachgibt. Ohne zunächst nach den Zusammenhängen zu fragen oder gar die Selbstbezüglichkeit der Phänomene zu sehen, registriert es, dass Menschen sich oft genug vereinbarungswidrig, habgierig und gemeinschaftsfeindlich verhalten. Ja, darum war und ist für die konservative Managementlehre das missbrauchte Vertrauen so überaus wichtig – weil es den schlagenden Beweis für eine pessimistische Menschenauffassung
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Es »gibt« aus dieser Sicht also bereits Betrüger, Antriebslose und Leistungsverweigerer von Natur aus – genau wie es Bäume, Tiere und Sterne gibt. Dieses Denken ignoriert, wie der Mensch wird, was er sozial ist. Das tatsächliche Vorkommen von betrügerischen, gierigen, antriebslosen Menschen beweist aber über deren Wesen noch gar nichts. Die Universalität eines Phänomens ist grundsätzlich kein Beweis, dass es zum Beispiel eine genetische Basis gibt – wie es auch kein Beweis gegen eine genetische Basis ist, wenn hier und da eine Ausnahme in der scheinbar universellen Regel gefunden würde. Denn gewissermaßen einprogrammiert ist dem Menschen kein Verhalten. Angeboren ist immer nur eine »Blaupause«. Damit aus ihr ein Merkmal wird, müssen zu bestimmten Zeiten bestimmte Umweltfaktoren gegeben sein. Dieses Denken ignoriert, dass sich über die hochvernetzten Prozesse die misstrauische Prognose immer selbst erfüllt. Und es ignoriert vor allem den eigenen Anteil am Stein des Anstoßes: Die »Motivationslücke« wird von einer behaupteten zur beobachteten.
Die Folge dieses Denkens ist in vielen Unternehmen eine Verdachtskultur, in der das Misstrauen stets sprungbereit lauert. Ein Klima, das Verantwortung oligopolisiert und dadurch Initiative und Ideenentfaltung lähmt, in dem schlechtes Informationsverhalten, einsame Entscheidungen und Cliquenwirtschaft die Tagesordnung bestimmen, in dem alles geregelt und – immerzu (und gerade deshalb!) – motiviert wird. Die misstrauische Führungskraft wird flugs zur leistungsorientierten umgelogen. Und es entsteht ein für heutige Unternehmen charakteristisches Zwielicht – der allseitige Betrugsverdacht, Misstrauen als Prinzip, Führungskräfte, die ihren eigenen möglichen Betrug projizieren, weil sie sich selbst nicht trauen, auch anderen nicht trauen; kurzum jene Lage, in der Betrüger Betrüger Betrüger nennen.
Was bleibt übrig? Die Doktrin des Verdachts. Sie geht davon aus, dass Leute ihren Job grundsätzlich nicht gerne tun, sondern besonders angestachelt werden müssen, damit sie ihn über
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aus Gründen demotiviert sind. Sondern man unterstellt genau umgekehrt, dass sie grundsätzlich nicht gerne arbeiten und man ihnen zusätzliche Gründe liefern muss, damit sie überhaupt … Eine Glaubensfrage? Ich denke, es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die erste, optimistische Überlegung problematisch ist, Schwächen hat und eine auf ihr gründende Unternehmenskultur unvollkommen bleibt. Ein Unternehmen, das auf die zweite Annahme baut, steht aber auf dem Flugsand einer unlösbaren Paradoxie. Das funktioniert niemals. In einer Führungslehre, die mehrere Auflagen erlebte, heißt es entsprechend, von jedem Zweifel ungetrübt: »Motivierte Mitarbeiter sind das Ergebnis, nicht der Ausgangspunkt des Führungshandelns.« Nein! Ich werde zeigen, dass vielmehr motivierte Mitarbeiter der Ausgangspunkt, demotivierte Mitarbeiter das Ergebnis dieses Denkens sind. In einem Wort:
Alles Motivieren ist Demotivieren.
Modelle, Theorien
Es geht mir hier um die Wirkung der Motivierung. Für dieses Vorhaben ist es völlig unnötig, sich im Dickicht der pseudorationalen Motivationstheorien zu verirren. Sie kommen und gehen – sind so vergänglich wie nahezu jede Modellbildung im Management. Calzaferri hat das verwirrend-erheiternd so ausgedrückt: »Wir arbeiten in Strukturen von gestern mit Methoden von heute an Problemen von morgen vorwiegend mit Menschen, die in den Kulturen von vorgestern die Strukturen von gestern gebaut haben und das Übermorgen innerhalb der Unternehmung nicht mehr erleben werden.«
Ob man nun zwischen »Motivatoren« und den »Hygienefaktoren«, der sprachschöpferischen Großtat Frederick Herzbergs,
|51|mühsam differenziert, ob man die Angemessenheit von Theorie »X« oder Theorie »Y« (McGregor) beziehungsweise Theorie »Z« (Ouchi) wiederzubeleben sucht, ob man auf einem zur Karikatur verkürzten Abraham H. Maslow (der Mensch als hierarchisch gestaffeltes Bedürfnisbündel!) die abenteuerlichsten Bedürfnis-Befriedigungs-Konstruktionen sattelt – das scheint mir, was die Logik der Motivierung angeht, einigermaßen gleichgültig. (Wobei die nach Maslow benannte Pyramide trotz wissenschaftlich längst erwiesener Unhaltbarkeit auch heute noch von Beratern weltweit als Schlüssel zur Mitarbeiter-Motivierung zelebriert wird, wohl auch, weil sie so »schön plausibel« und der Hierarchiepyramide der Organisationen so ähnlich ist. Es wäre in diesem Zusammenhang interessant zu untersuchen, inwieweit dieses Modell die herrschende Auffassung von der ganz oben stehenden, selbstentfalteten und motivierten Führungskraft und der antriebslosen, auf niedriger Bedürfnisebene vegetierenden und also zu motivierenden Mitarbeiterschaft geprägt hat.)
Auch wenn man neuerdings die »Erwartungs-Wert-Theorie« der Verhaltenswissenschaft bevorzugt: die unendlichen Variationen der Motivierungslehre, die alle nichts Neues unter der kalten Sonne der Veführungstechnik bringen, scheinen auf Paul Feyerabends Wissenschaftsauffassung hinauszulaufen: Anything goes. Alle sind durch ein hohes Maß an Beliebigkeit und Willkür gekennzeichnet. Ihr wissenschaftliches Ansehen ist – so szientistisch sie sich auch gebärden – außerordentlich dürftig. Und sie »funktionieren« alle nicht, weil zum einen die Übertragbarkeit derartiger Modelle auf die Arbeitswelt organisatorische Bedingungen voraussetzt, die ähnlich utopisch konsequent und rational sind wie etwa Max Webers Modell der idealen Bürokratie. Zum anderen aber deshalb nicht, weil sie im Mitarbeiter nicht einen erwachsenen, gleichberechtigten Partner sehen, sondern einen manipulierbaren Reiz-Reflex-Apparat; weil sie Mitarbeiter nicht wirklich als Verhandlungspartner ernst nehmen; weil ihr Kern nach wie vor Misstrauen und Manipulation ist. Und vor allem, weil sie die Spät- und Nebenfolgen ihrer Anwendung ignorieren. Da steht der Blätterwald schweigend.
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Bedürfnisbefriedigung?
Müssen wir uns noch lange mit Maslow und den Folgen aufhalten? Da noch immer unzählige Motivierungsexperten ihn zurate ziehen, nur einige kurze Bemerkungen.
Alle Motivationspsychologie geht aus von dem Streben der Lebewesen nach Bedürfnisbefriedigung. Die Motivierung bearbeitet dann den Raum, der durch die menschliche Wunschproduktion abgesteckt wird. Die älteren, nichtsdestoweniger unvermindert aktuellen Denktraditionen fußen auf der Vorstellung, dass der Mensch sich selbst für etwas sehr Sinnloses hält, ein nahezu reines Bedürfniswesen ist, welches man über diese Bedürfnisse und das Angebot, sie zu befriedigen, zu so ziemlich allem bewegen kann, wenn nur kein Bedürfnis verletzt wird. Mit zynisch-provokantem Unterton, der sich für intelligent hält: »Alles ist käuflich; alles nur eine Frage des Preises.« Die analoge Theorie lässt sich auf die Gleichung bringen: festgestelltes Bedürfnis + entsprechender Anreiz = erwünschtes Handeln.
Diese Gleichung ist kein Popanz, den ich aufbaue, um effektvoller auf ihn einschlagen zu können, sondern tatsächlich ein Denken, das bis heute die Führungsstrategie eines weiten Sektors der Industrie stark beeinflusst.
Um die Abneigung des Durchschnittsmenschen gegen die eigene Arbeit zu überwinden, verfährt die Führungskraft nach dem Motto »Zuckerbrot und Peitsche«. Als man merkte, dass das Zuckerbrot immer über die Peitsche siegte, suchte man das ursprünglich variationsarme Anreizarsenal aus Einkommen und Status um weitere Verlockungen zu vervollständigen. Maslows Bedürfnispyramide und Herzbergs Zwei-Faktoren-Theorie kamen da zur Simplifizierung der komplizierten Zusammenhänge gerade recht. Nur konnten die genannten Konzepte der wissenschaftlichen Überprüfung nicht lange standhalten. So wurde Neues geboren. Zum Beispiel:
Das sagt Ihnen nichts? Es ist nur die Motivationsgleichung zur »Weg-Ziel-Theorie« der Führung. Oder (ich hoffe, Sie können
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Alles klar? Dieser etwas böswillig konstruierte Satz beschreibt (natürlich völlig unzureichend) den »Dernier Cri« der Motivationspsychologie: die »Erwartungs-Wert-Theorie«. So ist leicht nachvollziehbar, wenn ein Autor schreibt, »dass Mitarbeiter zu motivieren keine leichte Aufgabe ist!«
Aufklärungsmanöver
In der bescheideneren Praxis hat man sich zunächst darauf verlegt, Bedürfnisse zu »wecken«, was auf eine intrapsychische PR-Kampagne hinauslief, deren Verführungstendenz überdeutlich war. Man ging dabei von der Annahme aus, dass alle Bedürfnisse potenziell angelegt sind, man müsse sie nur entsprechend anregen und aktualisieren, schon rennen alle begeistert los.
Führungskräfte, die so führen wollen, erfreuen sich dabei der Komplizenschaft der Psychologie. Insofern hat die Psychologisierung aller Lebensverhältnisse auch zu der umgreifenden Verdachtskultur beigetragen: Sie behauptet ja eine Metaebene, auf der ein »Eigentlich« hinter den beobachtbaren Phänomenen verborgen steuert. Dieses aufzuspüren sei dann die Kunst des Führens. Typisierungen, die von der Psychologie in allen Schattierungen angeboten und von den Führungskräften dankbar aufgegriffen werden, scheinen die komplexe und verwirrende Vielgestaltigkeit der Mitarbeitermentalitäten zu einem versteh- und vor allem handhabbaren Spektrum zu ordnen. Ist das Chaos der Individualitäten erst einmal zu Typen verdichtet und übersicht
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Nicht zuletzt die Kuschelkulturen und chronischen Bedürfnisdebatten der 68er-Generation sind die Wurzeln der allseits hohen Empfänglichkeit für Bedürfnismodelle aller Art. Das ist vertrautes Gelände. Der Sinn-Hunger dieser Generation war es wohl auch, der das Feld für diese spezifische »Motivationsarbeit« in unseren Unternehmen bereitet hat. Aber selbst da, wo sich diese Raster als zu grob erweisen, ist die Psychologie noch hilfreich, wenn sie mit hierarchisierten Bedürfnismodellen um die Ecke kommt. Man weiß: »Jeder Mitarbeiter steht an einem anderen Bahnhof«; also muss man an den unterschiedlichen Bedürfnissen anknüpfen. Heraus kommt die bekannte »Am-Bahnhof-Abhol-Methode«, um die Einflussgrößen der Motivation der Mitarbeiter identifizieren und steuern zu können.
Die Führungskraft, eben noch ganz verzweifelt, dass ihre verschiedenen Mitarbeiter nicht alle in gleicher Weise auf die Anreiz- und Kanalisierungsinstrumente des Unternehmens reagieren und geschlossen durchstarten, darf also Hoffnung schöpfen. Die radikale Individualisierung der Anreizprofile verspricht die erwünschten Reaktionen. Der Vorgesetzte muss sich jetzt »nur noch« in den Lebensstil, in die Ziele und Motive jedes einzelnen Mitarbeiters sensibel einfühlen und den je wechselnden Bedürfnislagen, ja ganzen Bedürfnisbündeln in ihrer Sprunghaftigkeit, Gleichzeitigkeit und schwankenden Intensität hinterherhecheln.
Man sieht sie förmlich vor sich, diese Führungskräfte, wie sie dasitzen und den lieben langen Tag nichts anderes tun, als mit Fernrohren in die inneren Milchstraßen ihrer Mitarbeiter zu blicken. Mehr oder weniger unauffällig beobachten sie, auf welcher »Bedürfnisebene« diese gerade sind. Die Typentaxonomie wird abgeklopft, und dann weiß man genau, wie dieser Mitarbeiter nach vorne zu bringen ist. Flugs wird ein entsprechender Appetithappen zubereitet und dem Mitarbeiter vor die Nase gehängt.
Das weniger verdeckte »Motivationsgespräch« gleicht dann einem Aufklärungsmanöver, bei dem (in einem Wort von Rolf Balling) »auf alle Büsche geklopft wird, um herauszukriegen,
|55|an welcher Motivationsschraube man beim Mitarbeiter drehen kann«. Es gilt hier die Überzeugung, dass man nur diese richtige Schraube (das richtige Bedürfnis) beim Mitarbeiter finden muss, um dessen Motivation den eigenen Vorstellungen entsprechend justieren zu können – und dass derjenige ein schlechter Chef ist, dem das nicht gelingt. So »einfach« ist das in Zeiten wachsender Führungsspannen und unter dem Diktat der Alltagshektik. Wer kann sich die Zeit für diese fortwährende Mitarbeiterbeobachtung nehmen? Wer will sich noch auf die permanent wechselnden Bedürfnisse einstellen, wo doch das Marketing seit geraumer Zeit den »paradoxen« Kunden kennt, der kaum mehr einheitlich-typenbezogenes Kaufverhalten zeigt? Muss man nicht auch mit einem »paradoxen« Mitarbeiter rechnen? Die Veränderungsgeschwindigkeit hat doch auch bei Werthaltungen und Einstellungen stark zugenommen, vor allem in der jungen Generation, abgeschwächt auch in der älteren Generation und so, dass man nicht wie früher von konstanten Werthaltungen ausgehen kann, die, einmal analysiert, die stabile Grundlage der Motivierung bilden können. Und was immer man unter »kooperativem Führungsstil« verstehen mag: Gehen
so Kooperationspartner miteinander um?
Auf Seminaren wird jetzt »Menschenkenntnis als Voraussetzung der Persönlichkeits- und Verhaltensdeutung« trainiert. (So manche Führungskraft bleibt da lieber gleich bei Geld- und Statusanreizen. Da kennt man sich aus; die »ziehen« bei jedem.) Richtig daran ist: Nicht alle Mitarbeiter sind in gleicher Weise zu führen. Je nach Reifegrad des Mitarbeiters ist eine »situative Führung« sicher angemessen. Aber Persönlichkeits- und Verhaltens
deutung? Psychologische Aufklärungsmanöver? In Bedürfnisprofilen herumwühlen? Nur eine Bemerkung zu diesen Trainings: »Ich weiß eine Menge über dich« ist eine der verständigungsfeindlichsten Behauptungen überhaupt.
Wissen über … schafft Überlegenheitsgewissheit; es schafft und bewahrt Herrschaft über den anderen, anstatt Beziehung zu suchen und Verstehen anzustreben. »Aber ich muss doch jemanden verstehen, wenn ich ihn richtig nehmen will«:
Jemanden nehmen, ja, das ist etwas ganz anderes. – Es gibt halt immer wieder Menschen, die Fliegenklatschen für Denkmodelle halten.
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Wie aber kommt man an die Bedürfnisse seiner Mitarbeiter heran? »Jeder weiß, dass es etwas gibt, was seine Entschlüsse in Bewegung setzt; was es ist, weiß er allerdings nicht. Er weiß auch, dass er eine antreibende Kraft in sich hat; welcher Art sie ist und woher sie kommt, weiß er jedoch nicht«, so der Alt-Psychologe Seneca und nimmt damit einiges von dem vorweg, was heute wieder ins allgemeine Bewusstsein sickert: dass uns wahrlich verschiedenartige, widersprüchliche Motive mal gleich-, mal nachrangig, mal gleich-, mal nachzeitig beschäftigen (ich spreche bewusst nicht von »steuern«). Passen sie überhaupt zusammen?
Ja, warum nicht? Fast niemals gehört die Eindeutigkeit, fast immer der Zwiespalt, die Vielfalt, ein Gewirr der Antriebe zum Menschen. Daran ändern auch Aussagen von Mitarbeitern nichts, die zum Beispiel mit ihren als vergleichsweise niedrig eingestuften Gehältern Unzufriedenheit und Suchneigung begründen. Ebenso wenig, wenn die regelmäßig veröffentlichten Umfrageergebnisse irritierend hartnäckig Gehaltserhöhungen als Motivierungsmittel beweiskräftig machen wollen. Hält man andere Statistiken dagegen, erweisen sich plötzlich zahlreiche Mitarbeiter als intrinsisch motivierte »Sinnsucher«. Diese unterschiedlichen Ergebnisse hängen – das wissen wir heute mit hinreichender Sicherheit – in hohem Maße von den Fragestellungen ab. Und was ist das: »Zufriedenheit«? Und sind Bedürfnisse – die Grundannahme der Motivationspsychologie – überhaupt zu »befriedigen«? Solange man der Bedürfnisbefriedigung nachjagt, hat man sie noch nicht. Wenn man sie hat, entwertet sie sich schnell. Für jedes Ziel, das erreicht wird, ist sie schon keine mehr. Sie gehört der Vergangenheit an. Wo liegt die Zukunft?
Keine Befriedigung ist je so vollständig, dass sie nicht durch die nächstgrößere oder andere oder einfach noch nicht vorhandene überholbar geblieben wäre. Also los! Überholen wir sie. Doch halt. Was ist das für eine Zufriedenheit, dass wir sie, kaum kam sie an, möglichst schnell wieder in die Zukunft abschieben? Sie schreitet andauernd fort von dem, der sie gerade erreicht hat. »Hinterm Horizont geht’s weiter«, sang einer der letzten deutschen Philosophen mit breiter Publikumswirkung, Udo Lindenberg.
In Abwandlung eines bekannten Freud-Zitats möchte man sagen, dass die Fähigkeit, dass Menschen wirklich Bedürfnisse
|57|befriedigen, im Plan der Schöpfung nicht enthalten ist. Bedürfnisbefriedigung ist ein episodisches Phänomen mit grundsätzlich flüchtigem Charakter. Die Vorstellung annähernd stabiler Bedürfnisbefriedigung ist Illusion, vor allem, wenn die Wunschproduktion von neurotisierenden Entbehrungserlebnissen in der Kindheit in Gang gesetzt wurde. Baut man darauf, wird Führen zum Topfschlagen: Man weiß nie, was darunter ist.
Zusammengefasst sieht das Menschenbild der Motivierung also etwa so aus: