Beziehungskisten
Führen ist vor allem das Vermeiden von Demotivation.
Chef und Mitarbeiter stehen vor der Grafik der Umsatzkurve, die zwischen ganzjährig linearem Verlauf eine steile Extrasystole im Sommer nach oben hat. »Das war der Monat, wo Sie Urlaub hatten, Herr Direktor …!«
Die Szene ist altgedient. Sie fängt aber schlaglichtartig ein, was in seiner Tragweite für das Leben in unseren Organisationen, die Unternehmenspolitik und vor allem für die Managementausbildung noch immer nicht hinreichend erkannt wird:
Den größten demotivierenden Einfluss auf Mitarbeiter übt der direkte Vorgesetzte aus. Kein anderer unternehmensrelevanter Faktor demotiviert stärker. Selbst andere Forschungen, die – zum Beispiel nach dem Herzberg-Konzept – auch noch den positiv-»motivierenden« Einfluss des Vorgesetzten zu reklamieren versuchen, veranschlagen den demotivierenden Anteil etwa drei- bis viermal höher. In den von mir durchgeführten Untersuchungen wird der Faktor »Beziehung zum direkten Vorgesetzten« insgesamt für 56 Prozent aller Fälle von Demotivation verantwortlich gemacht. Der bekannte Witz enthält einen ironisch-bitteren Unterton: Im Unternehmen gibt es zwei Menschentypen – signierende und resignierende. Das Problem ist also zunächst nicht die unzureichende Motivation der Mitarbeiter, sondern das demotivierende Verhalten vieler Führungskräfte.
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Die Beziehung zum direkten Vorgesetzten ist die Achillesferse der Job-Zufriedenheit. Das kann den Leser nicht mehr verwundern, wurde doch das »motivierende« Antreiberverhalten der Vorgesetzten als ein wesentlicher Impulsgeber für Demotivation identifiziert. Völlig schief wird das Bild allerdings (ich deutete es schon oben an), wenn man sich vor dem Hintergrund dieses Befragungsergebnisses die immer wiederkehrende Frage von Führungskräften vergegenwärtigt: »Was muss ich tun, um meine Leute zu motivieren?« Gerade hier zeigt sich: Die Frage ist völlig falsch gestellt.
Die Absurdität liegt so nahe, dass man sie kaum sieht. Anstatt – wie es doch eigentlich zu erwarten wäre – zunächst nachzudenken über mögliche Gründe für Demotivation, anstatt nachzufragen, warum Mitarbeiter innerlich gekündigt haben oder leistungsschwach sind, wollen diese Führungskräfte sofort etwas »tun«. Sie forschen nach Wegen, wie dieser Mitarbeiter »zurückgeholt« werden kann. Sie wollen wissen, wie sie ihn wieder »motivieren« können (und diese Fragen kreisen nicht selten monoton um die Architektur der Bezahlungssysteme). Diese Führungskräfte gleichen dabei in ihrem Verhalten abgewiesenen Liebhabern, die darüber nachdenken, wie sie die begehrte Frau zurückerobern können, nicht, warum sie ging.
Mehr noch: Es geht vielen Führungskräften oft nicht wirklich um ihre Mitarbeiter, die ihnen doch vom Unternehmen anvertraut wurden. Es geht ihnen vor allem um ihr Image als Führungskraft, um ihre Führungsqualifikation, um ihre Souveränität in der Kontrolle der Mitarbeiter. Kurz: Es geht ihnen um Macht. Es ist, als fürchteten sie den Vorwurf, ihre Leute nicht »im Griff« zu haben, mehr als das innere Abtauchen eines vom Unternehmen bezahlten Angestellten.
Was bedeutet diese Haltung für den demotivierten, leistungsschwachen Mitarbeiter, jenen, den wir »Misserfolgsvermeider« genannt haben? Kein Zweifel: Diese Haltung wertet ihn ab. Sie belässt ihn demotiviert. Sie nimmt die Gründe seiner Unzufriedenheit nicht ernst. Diese liegen offenbar nur allzu oft bei der Führungskraft selbst. Die Frage muss also ganz offensichtlich lauten: »Was habe
ich getan, um meine Leute zu demotivieren?«
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Mitarbeiter: demotivierbar
Zum anderen ist es aber von Unternehmen geradezu fahrlässig, einen weiteren wichtigen Zusammenhang zu ignorieren: Unter der Perspektive der Motivierung ist jede Führungskraft als Motivator potenziell auch ein Demotivator. Wenn es Führungskräften gelingt, durch ihr Handeln oder durch die von ihnen inszenierten Anreize zusätzliche Leistung beim Mitarbeiter zu erzeugen, heißt das im Umkehrschluss, dass das Fehlen dieser Anreize oder sogar eine als negativ empfundene Einflussnahme demotivierend wirkt. Aus dieser Form der Abhängigkeit ergibt sich für das Unternehmen aber ein eminentes Steuerungsproblem: Wenn es motivierbare Mitarbeiter will, dann sind diese auch demotivierbar. – Diesen Zusammenhang zu ignorieren ist bei der grassierenden Führungsmisere von geradezu tragischer Komik.
Machen wir uns nichts vor: Nicht wenige Führungskräfte sind kommunikative Analphabeten, besinnungslos verbohrt darin, »Recht« zu haben, sich durchzusetzen, zu imponieren, andere zu manipulieren, Beifall zu heischen, für die Tribüne zu inszenieren. Rituelle Abgrenzungs- und Unterscheidungsakrobaten. Sich um die Demotivation ihrer Mitarbeiter zu kümmern ist da vergleichsweise unspektakulär. Was krieg ich schon dafür? Auf die Kostenstelle »Führungskraft« werden so tagtäglich Millionenbeträge eingezahlt: Auf ihr ist mehr Demotivation zu verbuchen als auf allen anderen unternehmensrelevanten Faktoren. Dies sicher vor allem deshalb, weil viele Mitarbeiter die Abhängigkeit vom Chef als geradezu existenziell erleben. In täglicher Nähe und Kontakthäufigkeit entstehen Situationen von hoher psychologischer Dichte: Wenn der Chef jemanden »auf dem Kieker« hat, kann das für den Betroffenen die Hölle auf Erden sein. Und wenn dann der Mitarbeiter sich »auszahlen« lässt, sich auf subtile oder auch auf völlig unverdeckte Weise an dem rächt, der ihn demotiviert, dann haben wir das zusammen, was »Psychoterror« oder »Mobbing« genannt wird. Nicht gerade selten in unseren Unternehmen.
Werfen wir dazu einen kurzen Blick in die Kommunikationswissenschaft. Die sagt uns: Die Beziehungsebene von Kommu
|202|nikation dominiert immer die Inhaltsebene. Wenn der »richtige Draht« zwischen Chef und Mitarbeiter fehlt, filtern die Beziehungsstörungen derart viele Kommunikationssignale in der täglichen Zusammenarbeit ab, dass diese Kommunikationsverluste die inhaltlichen Aussagen völlig zu deformieren vermögen: Gedacht ist nicht gesagt. Gesagt ist nicht gehört. Gehört ist nicht verstanden. Verstanden ist nicht einverstanden. Eine Führungskraft, die sich erregt: »Das habe ich Ihnen doch schon 100-mal gesagt«, muss davon ausgehen: Das hat der Mitarbeiter auch schon 100-mal nicht gehört. Ist die persönliche Beziehung zwischen Chef und Mitarbeiter gestört, kann man sicher sein, dass dieses »Team« kaum optimal arbeitet.
Wenn also gilt: Führen ist vor allem das Vermeiden von Demotivation, dann ist eine Führungsaufgabe von höchster Priorität, die Beziehungsebene im Team zu klären. Es kann all jenes besprochen werden, was die Motivation des Mitarbeiters täglich behindert. Das sind die vielen kleinen Verhaltensweisen, die vielen kleinen nonverbalen Gesten des Nicht-Beachtens, Überhörens und leisen Geringschätzens, die auf die Stimmung drücken. Unbewusst sind sie zumeist – der Führungskraft, nicht dem Mitarbeiter: Er kennt und erleidet sie täglich. Einige dieser Chefs müssen geradezu Motivationskiller sein: ausgestattet mit einer wahren Verfolgermentalität. Aber selbst wenn sie es gut mit anderen meinen: Sie sind häufig genug gegenüber den Konsequenzen ihrer Verhaltensweisen völlig blind – weil sie nicht zuhören, kein Feedback fordern, sich für ihren »blinden Fleck« nicht wirklich interessieren, ganz steif sind vom Abstandhalten, melancholisch verliebt in ihr Groß- und Hartsein-Selbstbild. (Wenn sie doch nur die Kraft, die sie zum Trennen und Distanzhalten brauchen, für das Verbinden und wohlwollende Verstehen einsetzten!)
Darüber hinaus führt die Grundbedingung der Motivierung zu ganz bestimmten Rollenzwängen für die Führungskraft. Sie, die fatalerweise für das Anstacheln der Leistungsbereitschaft, für die Motivierung ihrer Mitarbeiter Verantwortung übernommen hat, neigt zur Verspannung, deren Gegenteil nicht die Gelassenheit, sondern allzu oft die Auflösung, das unvermit
|203|telt-anklagende Unverständnis über die »Undankbarkeit« ihrer Mitarbeiter ist. Verbreitet ist eine gereizte Aufmerksamkeit, die vor allem die »Position« sichern will. Das ist die Position des Motivators, der die Szene dominiert, die Sache beherrscht, die Motivation seiner Mitarbeiter im Griff hat. Das ist die Statement-Ebene der »klaren Entscheidungen« durchsetzungsbewusster »tough guys«. In jeder Verspannung artikuliert sich Sicherungswille. Sie verweist auf mangelndes Vertrauen und Selbstvertrauen, angstvoll-sensible Grandiosität, bedeutet, aktiv oder passiv, Selbstschutz und Abwehr.
Verspannung fragt nicht. Da wird sich lieber
verhalten. Denn wer nicht hören will, lässt andere fühlen.
Interessanterweise wissen die meisten Führungskräfte das demotivierende Verhalten ihrer Chefs sehr genau zu benennen. Selten kommen sie auf den Gedanken, dass das für ihre Mitarbeiter genauso gilt. Wer sich zudem noch für einen Vorgesetzten hält, der nicht demotiviert, ist ohnehin im Unmöglichen zu Hause, und so fällt ihm eine weitere Unmöglichkeit nicht mehr besonders auf. Er ist genau der, der hier gemeint ist.
Im Grunde sind es immer dieselben Muster, wie Mitarbeiter das »Fertig-gemacht-Werden« durch Vorgesetzte erleben:
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Der Chef kann und weiß immer mehr als sein Mitarbeiter.
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Einsame Entscheidungen auf dem Feldherrnhügel.
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Der Chef spricht schlecht hinter dem Rücken des Mitarbeiters.
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Kritik ist überzogen, anmaßend, unsachlich, lautstark, auf persönliche Eigenschaften bezogen.
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Das dynamisch-lautstarke Dominanzverhalten des Chefs, der dem Mitarbeiter ständig über den Mund fährt, ein Thema in Sekundenschnelle an sich zieht und beherrscht.
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Der Mitarbeiter wird übersehen, übergangen, wie Luft behandelt.
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Der Mitarbeiter bekommt unzureichende, einseitige, verspätete oder lediglich auf sein unmittelbares Arbeitsgebiet reduzierte Informationen.
Eigentlich nichts Neues also. Und doch fallen aus dem mir vorliegenden Material drei Aspekte besonders ins Gewicht.
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Pedanterie
Zum einen: die Pedanterie des Chefs – zwanghafte Ordnungsliebe, Genauigkeitsfanatismus und Kleinkrämerei, zweifellos ganz oben an der Spitze des Negativkatalogs. Pedanterie lähmt jede kreative und lebendige Zusammenarbeit. Sie zermürbt leise. Und sie wird in den Beschreibungen häufig mit einer vermuteten Angst des Vorgesetzten vor der höheren Sachkompetenz des ihm Unterstellten, vor der drängenden Vitalität des Jüngeren zusammengebunden.
Das klingt plausibel: »Hinter nichts verbirgt man sich so gut wie hinter Genauigkeit.« Hubert Fichte schrieb das. Der gespitzte Bleistift siegt über den Text. Die Beamtenseele macht die eigenen Ordnungsvorstellungen schlicht verbindlich für alle anderen – eben weil man Chef ist. Und man braucht sich der sachlichen Auseinandersetzung um das bessere Argument nicht zu stellen. Nun ist aber seit Freud bekannt, dass Ordnung immer »nach hinten« schaut: eine Art Wiederholungszwang, der sich irgendwann nicht mehr zu begründen braucht. Und der Wiederholungszwang ist ein Abkömmling des Todestriebes … – einer der sichersten Wege, aus engagierten Mitarbeitern passive Betriebsstatisten zu machen.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Es geht nicht um das Einhalten von Spielregeln, sondern um das Ausschalten alternativer Möglichkeiten ohne Prüfung, ohne Nachdenken und ohne Ausnahme, um das reflexhafte »Kommt überhaupt nicht infrage!«. Aber immer wenn es ums Prinzip geht, geht es in rationalen Organisationen ohnehin recht irrational zu.
Mangelnde Glaubwürdigkeit
Zum zweiten:
mangelnde Glaubwürdigkeit. Das Rollenbild des beängstigend erfolgreichen, ständig agilen Windkanal-Managers – keine Gefühle zeigen, keine Schwächen haben, geschweige denn »eingestehen« – kommt, scheint’s, unter die Räder. Von vielen Mitarbeitern werden die hohle »Ihr seid die Größten«-Rhetorik und das allzu Durchschaubare der Antreibertechniken als
|205|äußerst demotivierend empfunden. Nicht selten wird darauf verwiesen, dass Führungsgrundsätze, wendet man sie auf den eigenen Chef an, das Papier nicht wert seien, auf dem sie stünden. Immer wieder genannt: die verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre. Die Wechselbad-Politik von »Zuckerbrot und Peitsche« zerstört die Glaubwürdigkeit per se.
Hier artikulieren sich ein geschärftes Bewusstsein und eine neue Kritikfähigkeit »von unten«, die Glaubwürdigkeit verlangen. Wie Seismografen registrieren Mitarbeiter »unechtes« Führungsverhalten. Ein Mitarbeiter schreibt: »Mein Chef versandte häufig und mit großem Verteiler Artikel aus bestimmten Zeitschriften, in denen viel Bedenkenswertes und Fortschrittliches zu lesen war. Ich las sie immer alle und hob mir die wichtigsten auf. Als ich ihn eines Tages während einer Diskussion auf einen jener Artikel ansprach, zu dessen Hauptaussage er sich meiner Ansicht nach im geraden Gegensatz verhielt, antwortete er mir freundlich: ›Mein lieber Herr …, das ist doch Papier. Sie und ich, wir wissen doch, das Leben sieht doch ganz anders aus.‹« Weit hilfreicher wäre es, sich für Glaubwürdigkeit, Integrität und Klarheit zu entscheiden, die eigenen Gefühle – auch die des Zweifels und der Ohnmacht – anzusprechen, dann werden Führungskräfte auch von ihren Mitarbeitern verstanden und brauchen nicht über das tägliche Chaos hinwegzumotivieren.
Zum dritten und wichtigsten aber:
Nicht-Zutrauen. Dem soll ein eigenes Kapitel gewidmet sein.
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