Unterfordern der Leistungsfähigkeit
Auf die Dauer hat jeder Chef die Mitarbeiter, die er verdient.
Reisen, Preise, Prämien sollen Konsumenten zur Beschäftigung mit Nachrichten und Mitarbeiter zu besonderen Leistungen »motivieren«. Das ist die gewohnte Betrachtungsweise. Ein in diesem Zusammenhang interessantes Ergebnis förderte Bernd H. Feddersen mit der Frage zutage: »Was veranlasst die Teilnehmer, sich an Preisausschreiben zu beteiligen?« Die Antwort: Die Art der Aufgabe ist signifikant wichtiger als die Art der Gewinne. Von den Konsumenten muss sie erkennbar Leistung abfordern.
Eine Marketingarabeske? Für unser Thema mehr als nur ein Hinweis: ein Auftakt für Grundsätzliches.
Fehlende Beweg-Gründe
Wir wissen heute, dass das genetische Programm des Menschen nach wie vor ein Aktionspotenzial umfasst, das einem aktiven und anstrengenden Leben als Jäger und Sammler in einer natürlichen Umwelt angepasst ist. Ein paar tausend Jahre Zivilisation sind stammesgeschichtlich bedeutungslos. Wenn es aber keine »Beweg-Gründe« gibt, die uns fordern, haben wir auch nicht die Möglichkeit, unsere Problemlösungsfähigkeit, unsere Kreativität kennen zu lernen.
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Den meisten Menschen aber fällt es außerordentlich schwer, Langeweile auszuhalten. Sie müssen dann Probleme erfinden, um sie zu überwinden und auf diese Weise ihre Fähigkeiten erleben zu können. Wir können sicher sein, dass Leute genau das tun. Gewöhnlich beschwören sie irgendein Drama in ihrem Leben herauf: Sie brechen einen Streit vom Zaun, intrigieren, sabotieren oder (und das ist der häufigste Fall) investieren ihre Energien ins Lamentieren. Sie wissen in der Regel, dass es nichts an der Situation ändert – aber es ist wenigstens nicht mehr langweilig.
Dies mag zunächst verwundern und ist doch in unseren Unternehmen als Revierverhalten, Rivalenkämpfe, Rangordnungshickhack und Jammerzirkel jeden Tag zu erleben. Ebenso als zunehmende Aggression auf unseren Straßen, »Schlachten« in und vor Fußballstadien, aggressive Langeweile unter Jugendlichen. Verwöhnung und Verführung ziehen also nicht nur immer höhere Ansprüche und Reize nach sich, sondern auch einen Aktionsstau und eine Steigerung des Aggressionspotenzials. Viel von dem, was in unseren Unternehmen heute unter »innerer Kündigung« eingeordnet wird, ist auf Verwöhnung und Unterforderung zurückzuführen. Und nicht auf »heavy work load« und Überforderung. Was fehlt, ist nur allzu oft: Heraus-Forderung.
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Bei einer groß angelegten Untersuchung amerikanischer Arbeitnehmer durch Public Agenda Forum erklärte die überwältigende Mehrheit von 75 Prozent, dass sie weitaus mehr leisten könnte, als dies gegenwärtig der Fall sei.
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Eine Befragung der Management-Akademie München ergab: 58 Prozent der Manager und 63 Prozent der Meister wollen in ihrer Position mehr als bisher unabhängig denken und handeln; fühlen sich also in ihrer Denkkapazität unausgelastet.
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Die Zahl der Führungskräfte, die als Grund für den Unternehmenswechsel »Unterforderung« angibt, liegt nach einer amerikanischen Studie bei immerhin 17 Prozent. Diese Talentverschwendung ist eine teure Angelegenheit – in Zeiten, in denen der demografische Wandel die Jagd nach hoch qualifizierten jungen Menschen zum Teil dramatische Formen annehmen lässt.
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Stroebe/Stroebe zitieren eine Studie, nach der der Nutzungsgrad des Fähigkeitspotenzials in der amerikanischen Wirtschaft auf 30 bis 40 Prozent geschätzt wird. So gibt es zum Beispiel – um nur eine Gruppe zu nennen – in unseren Organisationen eine hohe Zahl oft sehr fähiger Frauen, die unter Wert eingesetzt sind. Viele von ihnen sind in Sekretariaten, regelrechten Entwicklungssackgassen, im wahrsten Sinn des Wortes »beschäftigt«. Wolff/Göschel beziehen sich auf eine Befragung, in der 35 Prozent der befragten Frauen sich bei ihrer Arbeit unterfordert fühlten. Der Anteil der Unterforderung mag von Unternehmen zu Unternehmen, von Verwaltung zu Verwaltung verschieden hoch ausfallen, je nachdem, ob man jungen Menschen schon frühzeitig ganzheitlich Aufgaben überträgt. Die Klage in meinen Seminaren zu dieser Frage jedoch ist allgegenwärtig.
»Fähigkeit bringt das Bedürfnis mit sich, diese Fähigkeit auch zu gebrauchen«, sagt Szent-Györgyi, Biochemiker und Nobelpreisträger. Entsprechend demotivierend ist das Gefühl, unterfordert zu sein. Unterforderung führt dabei zu ähnlichen körperlichen und seelischen Störungen wie Überforderung. Einfache Arbeit auf niedrigem Anforderungsniveau führt zu Monotonie; diese produziert Langeweile und Arbeitsunzufriedenheit; dies hat wieder hohe Fehlzeiten, Fluktuation sowie qualitativen und quantitativen Output-Rückgang zur Konsequenz. Und das Abfordern des Fähigkeitspotenzials ist verhaltensökologisch außerordentlich wichtig, weil sonst die Energie ins Jammern fließt.
Personalentwicklung
Was wir also brauchen, ist ein notwendiger Wandel in der inneren Einstellung der Führungskräfte: nicht die »Ausnutzung«, das »Antreiben« unselbstständiger Schlafmützen, sondern das Herausfordern kreativer Akteure. Ein Überschreiten des augenblicklich Gegebenen als ein Ausschöpfen und Erweitern individueller Potenziale. Ein Prozess gegenseitiger Weiterentwicklung, von Ge
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ganzen Persönlichkeit – zunächst in und für ihren Aufgabenbereich, wie er zum Beispiel in der Stellenbeschreibung festgelegt ist. Sie aktiviert nicht bloß. Sie schafft Rahmenbedingungen, die verborgene Fähigkeiten »ent-decken«. Sie ermöglicht die Freude der Bewährung. Sie setzt Talent und
subjektiven Überhang frei, den jedes Individuum in das Unternehmen mitbringt und der so selten abgefordert wird.
»Lassen Sie sich nicht entmutigen, wenn es nicht so einfach geht, wie Sie es sich vorgestellt haben«, so Alfred Herrhausens Botschaft an einen Zuhörerkreis von Lehrlingen, »aber Aktivität und Entwicklung Ihrer eigenen Persönlichkeit führen zum Erfolg.« Mancher Manager wird dabei entdecken, wie gut er fährt, konzentriert er sich darauf, die Kompetenz seiner Mitarbeiter im abgestimmten Kontakt herauszufordern und zu fördern. Dazu gehört auch, eine falsch verstandene Fürsorgepflicht als Folge überzogener Hierarchiedisziplin abzubauen. So wird zum Beispiel oft Kritik an der Arbeit eines Mitarbeiters nach dem Wasserfall-Prinzip abwärts auf dessen Vorgesetzten abgeladen, der dann diese Kritik (mit den bekannten Kommunikationsverlusten) weitertragen muss. Der Mitarbeiter wird »geschont«, führt ein wenig verantwortliches Leben im Windschatten, kann seinen Misserfolg nicht an der richtigen Stelle vertreten. Die Verantwortung wird ihm aus den Händen genommen. Verwöhnen statt fordern. Je nach Reifegrad des Mitarbeiters wäre es doch wohl »fordernder«, wenn der Chef den Kritiker direkt an den Mitarbeiter verwiese: eine Wachstumschance. Das Argument, dass an dem Vorgesetzten vorbeizukommunizieren die Position des unmittelbar Vorgesetzten aushöhle, ist bei Licht besehen keins. Zum einen kann der Chef mit seinen Mitarbeitern über die Vor- und Nachteile kurzer Kommunikationswege sprechen, insofern Bewusstsein schaffen. Zum anderen kann (und sollte) der unmittelbar Vorgesetzte über den direkten Zugriff informiert sein. Zum dritten aber werden die immer flacheren Hierarchiepyramiden kaum mehr eine andere Kommunikationsform als die direkte zulassen.
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Druck des Marktes
Verfolgen wir kurz die Frage: Warum wechseln Mitarbeiter das Unternehmen? Walter Jochmanns Bochumer Dissertation macht dafür eindeutig den fehlenden Zugang zu herausfordernden Projekten, Ausbildung und Förderung dingfest. Insbesondere höher qualifizierte Manager wollen sich nicht über mehrere Jahre hinweg mit dem gleichen Aufgabenfeld zufriedengeben. Unternehmen, die ihre Führungskräfte halten wollen, müssen demnach die Herausforderungen an Verantwortung und Leistungsfähigkeit der Umworbenen systematisch erweitern.
Und dass sie umworben sind, wissen sie. Die Unternehmen – es hat sich wohl langsam herumgesprochen – werden zunehmend vor einem qualitativen und quantitativen Mangel an Führungskräften stehen. Verstärkte Image-Darstellung, Personalmarketing und die interne Heranbildung von Nachwuchskräften werden gefordert sein. Zudem müssen die Unternehmen die hohen Folgekosten für Anwerbung und Einarbeitung von Nachfolgern zu vermeiden suchen. Insofern ist es für Unternehmen auch wichtig, ihre qualifizierten Führungskräfte möglichst langfristig an sich zu binden.
Die Chance, neue Fähigkeiten zu erwerben oder solche in neuen Bereichen zu erproben, scheint dafür von herausgehobener Bedeutung. Einige bekannte Unternehmen, wie beispielsweise Unilever, Coca-Cola oder Procter & Gamble, waren zwar immer schon in der Lage, Spitzentalente anzuziehen – selbst wenn ihnen keine Aufstiegschancen versprochen werden konnten. Gerade junge Bewerber sahen in diesen Unternehmen gute Übungsfelder und wertvolle Karrierebausteine. Mehr denn je wird es darauf ankommen, diese Leute auch zu halten. Wechselnde, steigende Herausforderungen in einer »lernenden Organisation« – so könnte es gelingen.
Doch nicht nur aus Gründen des Personalmarketings: Je breiter ausgebildet die Menschen, desto breiter einsatzfähig sind sie, desto anpassungsfähiger ist das Unternehmen in Zeiten allgemeiner Turbulenzen. Anpassungsfähigkeit ist Überlebensfähigkeit. Nach der Maxime »structure follows strategy« ist eine hoch anpassungsfähige Organisation so konstruiert, dass sie mit vielseiti
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Das heißt nichts anderes, als dass die Führungskraft die Aufgabe hat, zusammen mit dem Mitarbeiter individuelle Talente zu identifizieren, zu fördern und zum Einsatz zu bringen. Damit spielt die Führungskraft eine Schlüsselrolle im Prozess der Personalentwicklung.
Personalentwicklung – das meint nicht nur Training, Coaching und Job-Rotation. Die Leitung oder Teilnahme an Projektgruppen fördert Koordinations- und Kooperationsfähigkeit sowie die Kreativitätsentfaltung. Sonderaufgaben fördern die Problemlösungsfähigkeit, Komplexitätsbeherrschung sowie das Einarbeiten in übergreifende Zusammenhänge. Auslandseinsätze fördern die Flexibilität und die fremdsprachliche Kommunikationskompetenz. Für manchen mag eine Hospitation in der Personalabteilung, ja sogar eine Aufgabe als »Trainer auf Zeit« hilfreich sein. Das fördert die kommunikative und soziale Intelligenz und bringt die methodische und didaktische Aufbereitung von Lerninhalten nahe.
Das alles ist gleichbedeutend mit einer Erhöhung und Erweiterung der Leistungsfähigkeit des Mitarbeiters. Es wird wohl ein ungehörter Vorschlag bleiben, »jemanden zu motivieren« aus dem allgemeinen Wortschatz zu streichen. Wenn damit gemeint ist, Mitarbeitern die Aktualisierung und Entfaltung ihrer Talente zu ermöglichen, soll es mir recht sein. Anstatt also an der Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter herumzudrehen, biete ich an, sich auf die Leistungsfähigkeit zu konzentrieren.
Mitverantwortung des Mitarbeiters
Ein sicherer Arbeitsplatz, eine Arbeit, die man sicher beherrscht: Angestelltenherz, was begehrst du mehr? Das ist vielleicht nicht so schrecklich aufregend. Aber wenn der Job zu fade wird, kann man sich an dem wohlmöblierten Sicherheitscontainer schadlos halten, den man sich ja – Gott sei Dank! – leisten kann. Oder?
Ein Mitarbeiter, der seinen Berufsweg auch als Lebensweg, als Weg persönlichen Wachstums sieht, wird sich nicht immer die
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Arbeiten – als »Leben« begriffen – bedeutet ein dauerndes Erkennen, Zurücknehmen und Einschmelzen von eingefahrenen Gleisen, Sicherheitshaltungen und Schablonen, mit denen wir uns um die Lebendigkeit unseres Lebens betrügen. Aus meiner Sicht ist also der Mitarbeiter für seine Leistungsfähigkeit mitverantwortlich. Er ist gut beraten, wenn er sich nach herausfordernden Aufgaben drängt, wenn er eigeninitiativ Entwicklungsmaßnahmen anregt.
Wer darauf wartet, von seiner Führungskraft »entwickelt« zu werden, kann unter Umständen sehr lange warten. Denn viele Führungskräfte huldigen nach wie vor einem völlig unzeitgemäßen Selbstbild, nach dem sie selbst alles noch ein bisschen besser können müssen als ihre Mitarbeiter. Sie leben ein anstrengendes Leben. Ein Leben als »Chefkoch«: Hier kocht der Chef selbst! Eines, das im Drama enden muss: Denn die zunehmende Komplexität der Sachgebiete, das wachsende Bildungsniveau ihrer Mitarbeiter, funktions- und unternehmensübergreifende Teams (»task forces«) machen ihnen das Recht streitig, die Arbeit ihrer so genannten Untergebenen »anzuordnen« oder überhaupt nachzuvollziehen.
Es stimmt schon: Auf die Dauer hat jeder Chef die Mitarbeiter, die er verdient. Aber noch immer ernte ich mit der (zugegebenermaßen provokanten) These »Ein guter Manager macht sich überflüssig!« zunächst Protest und Unverständnis. Was ich meine, ist: Er erzielt seine größtmögliche Wirkung nicht über das eigene Wissen, sondern über die Fähig- und Fertigkeiten anderer. Er
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Völlig unverständlich ist mir zum Beispiel, wenn Führungskräfte bei Klausurtagungen dauernd telefonisch erreichbar sein müssen: Solche Führungskräfte leiden am Unentbehrlichkeitssyndrom. Sie haben ihren Arbeitsbereich nicht organisiert, letztlich einen wichtigen Teil ihres Jobs vernachlässigt. Mehr noch: Sie sind eine Gefahr für das Unternehmen.
Alle Personalentwickler suchen händeringend Führungskräfte, von denen man weiß, dass in ihrem Umfeld junge, hoffnungsvolle High Potentials wachsen und erblühen, Manager, denen ihre Personalentwicklungsaufgabe wichtig ist. Aber solange wir in unseren Leistungsbeurteilungssystemen zwar den Arbeitseinsatz oder gar die Arbeitsmethodik benoten, die Leistung einer Führungskraft für die Entwicklung fähiger Mitarbeiter aber keines Blickes würdigen, bestenfalls randständig behandeln, so lange werden die Dinge wohl so bleiben, wie sie sind.
Unterforderung – es wird nur ein Bruchteil des Kennens und Könnens abverlangt, Fähig- und Fertigkeiten bleiben ungenutzt – hat viel mit der Strukturierung von Arbeit, insbesondere mit der Zerteilung von Arbeit zu tun.
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