Zerteilung der Arbeit
Als wir den Sinn unserer Arbeit nicht mehr sahen, begannen wir, über Motivation zu reden.
Für den Organisationspsychologen Burkhard Sievers ist die Motivierung eine Methode, »die zu einem Zeitpunkt gemacht worden ist, wo eigentlich der Sinn der Arbeit in unseren großen Industrieorganisationen weitgehend verloren ging, weil die Arbeit so sehr in kleine Teile aufgespalten und fragmentiert worden ist, dass es kaum noch jemandem möglich ist, über seine eigene Tätigkeit, über das Teilprodukt, was er herstellt, oder die Teilverrichtung, die er macht, Sinnbezüge zum Gesamtprodukt, zum Unternehmen, zur Umwelt und seinem eigenen Leben herzustellen«.
In der Tat wollte man in der Vergangenheit durch die Schaffung immer kleinerer Arbeitseinheiten die Gesamtleistung erhöhen. Gültigkeit konnte diese Ansicht auch noch für die erste Hälfte unseres Jahrhunderts beanspruchen, die noch weitgehend von maschinell unterstützten, handwerklichen Arbeitsformen geprägt war. Heute hingegen stößt die immer weitere Zergliederung der Arbeit und die damit verbundene Einseitigkeit menschlicher Potenzialentfaltung an psychische, mittelbar damit an ökonomische Grenzen: Arbeitsinhalte werden immer weniger standardisierbar, und dort, wo sie es sind, werden sie weitestgehend automatisiert. Die Unterforderung hinsichtlich der Fähig- und Fertigkeiten ist jedenfalls weder für das Individuum noch für das
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Sprachlosigkeit
Identifikation mit dem Gesamtunternehmen als der gemeinsamen Sache ist nicht mehr möglich, sondern sinkt ab zu Schulterschluss und Heimat in der »Abteilung«, die ihre Identität nach außen nicht selten durch die subtile Verweigerung der Kooperation gegenüber anderen Abteilungen symbolisch aufrechterhält. Der Koordinierungsaufwand ist enorm. Eine inzestuöse Meeting-Kultur die Folge. Aufgeblähte Overheads. Energie richtet sich nach innen, statt auf Markt und Kunden. Die Schnittstellenproblematik zwischen den Abteilungen lässt häufig an der Weisheit der Segmentierung zweifeln.
Geradezu mit Händen zu greifen sind die Folgen der Arbeitszerteilung in »classroom trainings« oder »task forces«, in denen sich die Spezialisten aus den verschiedenen Unternehmensbereichen zu einem Thema oder einer gemeinsamen Aufgabe treffen. Mir drängt sich häufig der Eindruck auf, als arbeiteten diese Spezialisten in völlig verschiedenen Unternehmen. Sie haben hochspezifische Deutungsmuster entwickelt, leben in völlig verschiedenen Kontexten. Sie verharren in ihren Wahrnehmungsterritorien, sodass über Wichtig- und Wertigkeiten im Unternehmen kaum Konsens zu erzielen ist. Ja, mitunter wird der Mythos »tiefer Gräben« zwischen verschiedenen Unternehmensbereichen hingebungsvoll gepflegt, um den sicheren Boden der Sinnprovinz nicht verlassen zu müssen. Die Vertreter der Abteilung »Forschung und Entwicklung« hüten den Gral der reinen Lehre und fürchten die Profanisierung, ja Verschmutzung ihrer Arbeit durch die Forderungen des Marktes; die Leute vom Marketing drücken alle Diskussion in die Zweckmäßigkeit des schnellen Erfolgs, und der Vertrieb schimpft über die Praxisferne beider. Die Fähigkeit,
wohlwollend, verstehend und einverstehend miteinander zu reden, schwindet. Mehr noch: Neigung zum Konsens ist kaum spürbar. Die Reibungsver
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Vor diesem Hintergrund wächst der Personalentwicklung eine bisher zu wenig beachtete Aufgabe zu: Sie kann und sollte die unternehmensübergreifende Sprachfähigkeit heben, die Suche nach einem gemeinsamen Verständigungshorizont ermöglichen und die spezialisierten Sinnprovinzen zum Sinnzusammenhang fügen. Jenseits aller fach- und sachbezogenen Schulung ist das Fort-Bildung im Wortsinne.
Verordneter Spaß
Untersuchungen zur Arbeitsplatzgestaltung weisen insbesondere darauf hin, dass fehlende Ganzheitlichkeit, Unterforderung und beschädigtes Selbstwertgefühl als Nebenfolgen weitgehender Arbeitszerteilung beim Individuum Gefühle innerer Leere und Entfremdung hervorrufen. Dies umso mehr, als der Wertewandel mit der Forderung nach Ganzheitlichkeit, Sinnhaftigkeit und einem wertbezogenen, »ungetrennten« Leben die Ansprüche an Arbeit in dieser Hinsicht insgesamt dynamisiert hat. Die Menschen stellen ihr verhaltensökologisches Gleichgewicht durch Aggression, Rückzug, Flucht, Krankheit, Verweigerung der Zusammenarbeit und alle Formen der »Auszahlung« wieder her. Die Leistungsfreude des Einzelnen sinkt. Die Konsequenzen sind für alle Beteiligten abzusehen.
»Als wir den Sinn unserer Arbeit nicht mehr sahen, begannen wir über Motivation zu reden.« Dieses Aperçu bringt es auf den Punkt: Die Zerteilung der Arbeit und mit ihr der schmerzliche Mangel an Sinn sollen durch Motivierung kompensiert werden. Und schon werden die Motivierungsmechaniker wieder aktiv und starten eine Sinnbewirtschaftungsmaßnahme nach der anderen: von der »verordneten« Unternehmenskultur (»Hand me one by monday!«), Corporate Identity als Briefkopfgestaltungsprojekt, über die »erlassenen« Führungsgrundsätze einer Expertenkom
|227|mission, das »Wir sind stolz auf euch«-Mitreißende des umgreifenden Visionsgestammels bis hin zu dem modisch-lächerlichen Topmanager, der alle Meetings seit neuestem mit der Formel »Have fun!« beendet. Verordneter Spaß. In dem Maße, wie die traditionellen Sinnquellen der Arbeit verblassen, wird »Spaß« als neue Kompensationsmetapher beschworen. Die Zergliederung der Arbeit, die doch zu ganz wesentlichen Teilen den Spaß verdirbt, bleibt unproblematisiert. »Spaß« gerät dabei unversehens unter Leistungsdruck: »Spaß haben« und »locker sein« wird eine »Leistung« der individuellen Selbstdarstellung neuer Manager. Spaßarbeit statt Arbeitsspaß.
Sinn finden
»Wer Leistung fordert, muss Sinn bieten«, wird nun mancherorts im Sog Viktor Frankls plakatiert. Geboten werden soll vorgegebener, autoritärer Eindeutigkeitssinn. Sinn kann aber nicht »geboten« werden, sondern muss von jedem Mitarbeiter ganz individuell gefunden werden. Allenfalls gilt: Wer leistet, sieht darin Sinn.
Die Führungskraft kann lediglich die Bedingungen der Möglichkeit individueller Sinnfindung (und damit optimaler Leistungsentfaltung) schaffen. Alles andere wäre anmaßend und ein überbordender Führungsbegriff, der Verantwortung auch für das nicht von ihr zu Verantwortende – zum Beispiel die Leistungsbereitschaft – übernimmt.
In Anlehnung an Manfred Antoni wird Arbeit vom Menschen dann als befriedigend empfunden, wenn sie folgende Kriterien erfüllt:
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physische und geistige Tätigkeit; wobei es zunächst unerheblich ist, ob eher physische oder geistige Tätigkeit verrichtet wird. Wichtig ist nur das Zusammengehören von
Planen und Ausführen, um Lust an der Aufgabenerfüllung erlebbar werden zu lassen. Die Trennung von Denken und Tun wird immer mehr abgelehnt. Große Zufriedenheit resultiert meist aus Aufgaben,
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gestalterische Tätigkeit; Menschen wollen durch ihre Arbeit sich selbst und ihre Umwelt verändern; dazu muss das menschliche Neugierverhalten befriedigt werden können; dazu muss das schöpferische und kreative Potenzial zur Geltung kommen.
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produktive Tätigkeit; das heißt, das Verhältnis von aufgewandter zu produzierter Energie sollte möglichst günstig sein.
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interaktive Tätigkeit; die meisten Menschen suchen und nutzen die Möglichkeiten zu vielfältigen sozialen Kontakten am Arbeitsplatz; sie wollen wahrgenommen werden, suchen den Austausch und begrüßen Zusammenarbeit.
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Ich ergänze: gerichtete Tätigkeit; Sinn wächst aus dem gültigen, von der Umwelt anerkannten Werk und im Dienst an der Gemeinschaft. Damit ist Arbeit immer »Arbeit für andere«, das heißt, der Adressat der Arbeit muss für den Einzelnen ebenso erkennbar sein wie der Nutzen, den die Arbeitsleistung für diesen stiftet. Die Etymologie zeigt, dass das Wort »Sinn« zur Familie des althochdeutschen Verbs »sinnan« gehört und »seinen Weg auf ein Ziel gehen« bedeutet. Der Mensch will also nicht nur her-stellen, er will sich das Ziel auch vorstellen. Aufgabe der Führung ist es demnach, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Arbeit als Arbeit für andere erlebbar machen.
Die Ergebnisse der Arbeitswissenschaft legen nahe, dass das Missachten einer oder mehrerer Dimensionen dieses ganzheitlichen Arbeitsbegriffs unzufrieden macht, langweilt, unterfordert, kurz: Demotivation hervorruft und damit in großen Teilen erst für die Diskussion um den »richtigen« Führungsstil, um die »richtige« Motivierung verantwortlich zeichnet. Der Bremer Informatik-Professor Herbert Kubicek: »Die Veränderungen von Organisationsstrukturen, Kontrollsystemen und Arbeitsinhalten im Zuge der Bürokratisierung und Mechanisierung zerstören mehr Motivation und Identifikation, als psychologisch noch so geschicktes Vorgesetztenverhalten erzeugen kann.« Ein nicht ge
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Schmutzzulagen
Wie oft kann man hören: »Wenn das Gehalt stimmt, stimmt auch die Leistung!« Wie beim Dinner for one: »Same procedure as every year.« Es ist in der Tat eine verbreitete Vorstellung, dass man das Engagement der Mitarbeiter mit Geld kaufen könne. Ja, gerade bei schwachen Leistungen steigert der Vorwurf die Empörung, der- oder diejenige müsse doch für das überdurchschnittliche Gehalt auch überdurchschnittliche Leistung zeigen. Dagegen zeigen viele Untersuchungen der letzten Jahre übereinstimmend, dass gerade die tüchtigen und beständig leistungsstarken Mitarbeiter nicht in erster Linie wegen des Geldes arbeiten, sondern ihre Arbeit als sinn- und wirkungsvoll erleben wollen.
Sicher, das Gehalt muss stimmen. Aktives Engagement, Kreativität und Initiative aber sind nicht zu kaufen. Die muss die Führung »ermöglichen«. Durch Schaffung eines Umfeldes, in dem sich die Eigenmotivation des Mitarbeiters »entzündet«. Die Führungskraft sollte weniger ein »Bewirker« sein als ein »Ermöglicher«.
Es bedeutet mithin das Problem am falschen Ende anfassen, indem man die Zerteilung der Arbeit, mangelndes Forderungspotenzial und Sinnlosigkeit vieler Arbeitsplätze mit Geld oder anderen »Motivatoren« notdürftig und immer wieder neu zu
kompensieren sucht, anstatt Arbeit so zu gestalten, dass sie wieder als ganzheitliche Tätigkeit mit deutlicher Beziehung zur betrieblichen Gesamtleistung erkennbar wird. Das kann dazu führen, das Strukturprinzip der
Delegation zu überprüfen. Denn das Herunterdelegieren bis in die kleinsten organisatorischen Verästelungen läuft mit den Zergliederungsphänomenen von Arbeit nicht zufällig richtungsgleich. Das ganzheitliche Übertragen von Verantwortung steht dazu im Gegensatz. Dass es anders geht, zeigen Beispiele wie das des Unternehmers Christian Dräger. Er überließ innerhalb seines Konzepts »Partnerschaftliches Führen« in den
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Fast ein Randphänomen: Mitarbeiter möchten ihre Projekte und Arbeitsergebnisse auch gern selber »nach oben« repräsentieren. Und die »besseren« Chefs verstehen sich nicht mehr als delegatorische Durchlauferhitzer. Sie lehnen es ab, sich mit fremden Federn zu schmücken. Nimmt man das alles zusammen, wird man auch das Wort vom »Mit-Arbeiter« womöglich überdenken müssen.
Werk vollbringen
Nun mag manche Führungskraft vor ihrem geistigen Auge die Arbeitsplatzstrukturen ihrer Mitarbeiter prüfen und auf Ergänzungsmöglichkeiten absuchen – das ist sicher nützlich, sogar zu fordern. Dennoch möchte ich noch einmal daran erinnern, dass man Sinn nicht gleichsam als »Köder im Angebot« (Neuberger) haben kann, sondern dass Sinn eine sehr persönliche Leistung ist, ganz individuell gefunden werden muss. Jürgen Habermas hat dazu das Nötige gesagt: »Es gibt keine administrative Erzeugung von Sinn.« Zudem ist es wenig hilfreich, dem Mitarbeiter den Sinn seiner Tätigkeit zu »erläutern«, wie oft geschrieben wird. Ebenso ist es problematisch, über alle Mitarbeiter undifferenziert die Segnungen dieses ganzheitlichen Arbeitsbegriffs auszuschütten. Die unbedingte Zusammengehörigkeit aller Dimensionen von Arbeit mag für manchen Mitarbeiter nicht zwangsläufig die notwendige Voraussetzung seiner Arbeitszufriedenheit sein. Vielleicht empfindet er ja zum Beispiel das Fehlen häufiger Sozialkontakte gar nicht als demotivierend.
Die Überlegungen und Diskussionen um die BMW-Führungskultur haben einen fast schon altertümlichen Begriff wieder bewusst gemacht: das »Werk« – und dieser Begriff wurde mit »vol
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Bedingungen der Möglichkeit, das bedeutet vor allem: Wahlmöglichkeiten erhöhen, leichte Reversibilität von Karriereentscheidungen, Karrierewege transparent machen, strategiephasengebundener Einsatz von Führungskräften entsprechend ihrer Leistung und Neigung, verschiedene Karriereanker zulassen und gleichwertiger einstufen (sodass nicht nur »Führung« finanz- und prestigeträchtig erscheint), kurz: viele und unterschiedliche Erfahrungsfelder bereitstellen. Denn Selbstverwirklichung darf nicht so tun, als gäbe es dieses »Selbst« schon vor der »Verwirklichung« und als würde es nicht vielmehr erst durch Handeln und Ausprobieren wahrnehmbar.
Gute Erfahrungen werden gemacht, wenn der Einzelne oder auch ganze Gruppen in die Gestaltung der Arbeitsvorgänge, der Arbeitsorganisation und ihres Arbeitsumfeldes einbezogen werden. Und hilfreich ist es zu
fragen: »Was an Ihrem Arbeitsplatz behindert Ihre Begeisterung? Wie können wir gemeinsam Ihre Arbeit vollständiger machen? Was wünschen Sie sich?« Nicht alles an Ganzheitlichkeit wird zu realisieren sein; im Regelfall ist jedoch der Bereich der Fantasie nicht annähernd ausgeschöpft.
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