Mangelnder Freiraum als fehlende Leistungsmöglichkeit
Alles, was Menschen wollen, ist wählen können.
»Arbeiten Sie, um zu leben, oder leben Sie, um zu arbeiten?« – Gibt man Seminarteilnehmern die Gelegenheit, ihre persönliche Philosophie zu dieser Frage zu begründen, so entscheiden sie sich tendenziell für die erste Alternative. In der Diskussion wird dann meist deutlich, dass die Arbeitszeit als fremdgesteuerte, ent-individualisierte Zeit, nicht selten als »abgekauftes Leben« empfunden wird. (Entsprechend hoch sind mitunter die Ansprüche an das »Schmerzensgeld«.)
Als besonders demotivierend wird das Fehlen individueller Freiräume, das Fehlen der Leistungsmöglichkeit wahrgenommen. Der »Erfolg« ist dann, dass die entsprechenden Energien am Unternehmen vorbei in die Privatsphäre geleitet werden und das vertrackte »um zu« mentalitätsbestimmend wird: arbeiten, um (danach) zu leben.
Alle empirischen Untersuchungen der letzten Jahre weisen darauf hin, dass diese Phänomene keine Faulheit, Müdigkeit oder mangelnde Leistungsbereitschaft darstellen, sondern gleichsam eine »sinnvolle« Anpassung an beengende Arbeitsverhältnisse (mithin eine Herausforderung zur Erneuerung des Gesamtbereichs »Personalpolitik«) sind. Es ist außerordentlich wichtig anzuerkennen, dass viele Menschen nicht deshalb demotiviert sind, innerlich kündigen und in Richtung Freizeit abwandern, weil die
|233|neuen Werte Freizeitwerte sind, sondern weil sie unterschiedslos für die gesamte Umwelt als gültig reklamiert werden. Da sie aber in der Arbeitswelt nicht hinreichend gelebt werden können, werden sie in die Freizeitsphäre umgelenkt. Die Sozialforschung spricht von einer »kompensatorischen Werterfüllung« in der Freizeit.
Aber das Bild ist auch hier uneinheitlich. Denn die Nachrichten aus der Personalberaterbranche machen deutlich: Immer mehr Führungskräfte lehnen Angebote glanzvoller, prestigeträchtiger Posten zugunsten solcher ab, die ihnen größere Freiheit lassen, die eigenen Aktivitäten und Richtungen zu bestimmen. Auf unerwartete Weise attraktiv ist die »zweite Reihe«. Karriere schon, aber nicht um jeden Preis. Von einem Manager, der die sichere Aussicht auf eine Topposition in einem Großunternehmen in den Wind schlug, stammt der Satz: »Topmanager in einem goldenen Käfig aus Repräsentation und Formalismus? Das ist für mich kein Leben, das ist Ab-Leben.« Deshalb erhöht sich der Druck auf die Unternehmen, Abschied von bürokratischen Regularien zu nehmen und der Eigenverantwortlichkeit auf allen Ebenen mehr Freiraum einzuräumen. Dies zieht die besten Talente an und bindet sie.
Leben während der Arbeit
Es erweist sich immer wieder: Alles, was Menschen wollen, ist wählen können. Überschaut man jedoch die Forschung, so ist das »Gefühl, bei beruflichen Entscheidungen frei und unabhängig zu sein«, in der Bundesrepublik in allen Berufskreisen deutlich gesunken. Nach einer Untersuchung Lutz von Rosenstiels glaubten nur 54 Prozent der Befragten, dass sie mitentscheiden könnten, wenn es um ihre eigene Arbeit und um ihren eigenen Arbeitsplatz geht. Diese Entwicklung erklärt sehr weitgehend die Tendenz zur abnehmenden Gesamtarbeitszufriedenheit. Sie wird dynamisiert durch das unübersehbare Vordringen so genannter Selbstentfaltungswerte: Für die überwiegende Zahl der Menschen ist die Möglichkeit zur Selbstentfaltung im Arbeitsleben gekoppelt an
|234|das Ausmaß des Handlungs- und Entscheidungsfreiraums. Diejenigen, die solche Freiräume vermissen, sind mit ihrem Job signifikant unzufriedener. Wie auch kann ich mich für eine Sache begeistert einsetzen, wenn mir fortwährend von oben »hineinregiert« wird?
Diese Tendenz entspricht den mir vorliegenden Befragungsergebnissen, jedoch wird mangelnder Freiraum von jüngeren Arbeitnehmern unter 40 Jahren offensichtlich deutlich demotivierender wahrgenommen als von älteren. Diese Jüngeren sind im Durchschnitt wesentlich besser und breiter ausgebildet und – was besonders wichtig erscheint – in einem hohen Maße individualisiert. Sie unterscheiden nicht mehr wie früher grundlegend zwischen Arbeitssphäre und Freizeitsphäre. Sie erwarten auch von der Arbeit heutzutage größere Chancen, sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit einbringen zu können, als Person ernst genommen, einbezogen zu werden. Sie möchten ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation und zu autonomem Handeln einsetzen können. Leben während der Arbeit – das wollen sie. Die oben beschriebene Konjunktur des Spaßbegriffs ist dafür kennzeichnend. So wie die moderne Industriezivilisation mehr Großräume braucht als die alte Nationalökonomie, so braucht auch der Mitarbeiter heute Freiräume, in die hinein er sich entfalten kann.
Nun sind Unternehmen wie Öltanker: Ihre Bremsspur ist viele Kilometer lang, das heißt, die Entwicklung der Organisationsstrukturen hat mit diesen gesellschaftlichen Tendenzen kaum Schritt gehalten. Die überbordende, in Teilen und zu Zeiten sicher auch hilfreiche Stellenbeschreibungsmentalität hat viele Arbeitsplätze langweilig, mechanisch, regelhaft, reizlos werden lassen. Ungeforderte Aktionspotenziale sind die Folge, oft fehlt begeisterte und begeisternde Lebendigkeit. Grenzüberschreitung ist immer noch unbeliebt. Erbhöfe werden mit hohem energetischen Aufwand verteidigt: nicht selten ein Krieg nach innen. Der Mitarbeiter hat in seinem Kästchen, sprich: Revier zu bleiben. Das soll andere Reviere schützen – und verschließt so die Revierzäune mit Ketten ungenutzter Gelegenheiten.
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Schmidt sucht Schmidtchen
Hinzu tritt die gemeinsame Entschlossenheit der Exekutivgewaltigen, nichts durchzulassen, was nicht ihrem Begriff vom guten Mitarbeiter, vor allem ihnen selber gleicht. Bestes Beispiel dafür ist das »Schmidt sucht Schmidtchen«-Syndrom der Personalauswahl: Der »richtige« Kandidat ist so ähnlich wie ich, aber doch ein bisschen schwächer.
Was im Privatleben als besonders erstrebenswert gilt, das Individualistische, Extravagante, Einmalige, aber auch das Autonome,
Herz und
Rückgrat (
Human
Resources), das ist in den Unternehmen nach wie vor wenig gefragt, weil es die Stabilität der Organisation zu gefährden scheint. Innovation, auf die es immer mehr ankommt, kommt daher fast nur von nonkonformistischen Outsidern, die von denjenigen, die sich für Insider halten, wenig gemocht werden. Diese Pioniere müssen oft jahrelang Widerstände überwinden. Während dieser Durchsetzungsperiode heißen sie Fantasten, Sturköpfe, Besserwisser, manchmal sogar Nestbeschmutzer. Aber die Stufenleiter der unternehmerischen Anerkennung lautet: verfolgt, verlacht, ausgesperrt, immer schon
|236|gesagt, Unternehmensgrundsatz. Branco Weiss sagte auf einem Managementsymposium in Zürich: »Innovation bedeutet, das Gleiche wie alle zu sehen und möglichst etwas anderes dabei zu denken.«
Kleinkunst des konstruktiven Ungehorsams
In der Tat scheinen »Freiraum« und »Organisation« einander schon begriffslogisch auszuschließen. Die Organisationspsychologie hat kühl analysiert, dass Menschen in Organisationen »fungibel« und »elastisch« sein sollen. Fungibel: Personal muss berechenbar, verlässlich, plan- und kontrollierbar gemacht werden. Es geht um »eingeschränkte Autonomie« (?), »disziplinierte Fantasie« (?) und so weiter. Elastisch: Personal muss anpassungsfähig und lenkbar sein. Das aber heißt, es muss auch »motivierbar« sein!
Andererseits weisen namhafte Managementtheoretiker schon seit längerer Zeit darauf hin, dass es in vielen Firmen neben den linear-delegativen Strukturen ohnehin so etwas wie eine informelle Kultur der Selbstorganisation gibt. In einem Büro konnte ich lesen: »Wir haben zwar keinen Spielraum, aber wir nutzen ihn trotzdem.« Ja, viele Firmen scheinen nur deshalb zu funktionieren. Anordnungen werden nicht oder nicht genau befolgt. Verbesserungen werden undiskutiert in die Pläne eingebaut. Mehrdeutigkeiten, Widersprüche und Regelungsnischen werden genutzt – eine Mikropolitik, eine Art Kleinkunst des konstruktiven Ungehorsams. Die BMW-Führungsgrundsätze leisten sich diesbezüglich eine vielsagende Schelmerei: Beschlüsse sind nicht nur auszuführen, sie sind auch »intelligent auszuführen«.
Spielfeld gesucht
Die einzige Organisation, für die wir alle arbeiten, heißt »Ich«. Unternehmen bieten aber selten das Spielfeld, dieses »Ich« auszuprobieren und ein glückliches Leben auch im Beruf zu führen:
|237|Die Möglichkeit, selbstbestimmt, selbstorganisiert und selbstkontrolliert zu leben, und damit das größte Abenteuer überhaupt, die eigene Persönlichkeit, kennen zu lernen und die eigenen Grenzen durch Lernen zu überschreiten.
»Spielwiese für meine Motivation gesucht« – so hat eine junge Betriebswirtin ihr Stellengesuch überschrieben. Und das ist es auf den Punkt: Gesucht wird allenthalben ein Spielfeld, ein Kontext, an dem sich die Motivation entzündet, auf dem es sich für den Einzelnen lohnt, sich einzusetzen. Führen bedeutet demnach: Entfaltungsmöglichkeiten zu schaffen für die Motivation des Mitarbeiters, die diesem ganz allein gehört. Dass er etwas tut, weil es gut für ihn selber ist. Eigennützliche Arbeit. Diese »Persönlichkeitsförderlichkeit« der Arbeit wird immer noch in den meisten Unternehmen viel zu gering geschätzt. Was wir brauchen, ist eine Unternehmenspolitik ohne Sinnstiftungsambitionen. Wir brauchen eine Unternehmenspolitik, die es den Einzelnen erlaubt, nach ihren persönlichen Wahrheiten zu suchen, eine Politik ohne unternehmensphilosophisches Pathos und CI-schwangeres Tremolo. Nicht die totalitäre Großmetapher der Vision, sondern das bescheiden-anspruchsvolle Bestehen auf individuellem Wachstum durch Arbeit. Nicht Gehorsam oder Nibelungentreue, Entwicklung muss oberstes Kooperationsprinzip werden.
Freie Räume
Nun ist »Freiraum« ein schillerndes, ausuferndes Wort. Es meint hier:
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das Maß an Wahlmöglichkeiten, an Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiraum innerhalb des Aufgabenbereichs; viele Arbeitsergebnisse können auf verschiedene, aber gleich günstige Art erreicht werden; Wahlmöglichkeiten können hinsichtlich des Verfahrens, der Mittel, des Einsatzes sowie der zeitlichen Abfolge von Aufgabenbestandteilen eingeräumt werden;
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das Maß an Deregulierung der Arbeit durch Wegfall nicht zwingend notwendiger Richtlinien, Policies, Vorschriften;
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den Zeitanteil für selbstständige und schöpferische Tätigkeit;
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Aufgaben und Projekte jenseits des fixierten Aufgabenbereichs, die dem Mitarbeiter aufgrund von Talent und Neigung besonders interessant erscheinen;
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erforderliche Lernaktivitäten.
»I’ve always seen people living in boxes. But people don’t grow in boxes.« Dieser Satz über die Enge des organigrammhörigen Kästchendenkens wird dem 3M-Manager Lew Lehr zugeschrieben. Mittlerweile allseits bekannt dürfte ja auch die Tatsache sein, dass diese Firma ihren Forschern einen frei verfügbaren Zeitanteil von bis zu 25 Prozent einräumt, um ihrer Experimentierfreude freien Lauf zu lassen: »Spielwiese« für die eigene Motivation.
Kaufmänner? Krämer!
Als ein Gegenbeispiel ist mir der deutsche Geschäftsführer eines britischen Elektronikkonzerns in Erinnerung, der einer zugekauften Firma das Organisations- und Stellenbeschreibungskorsett der britischen Muttergesellschaft überstülpte. Zwischen zwei Controllern der ehemals autonomen Firma war über lange Jahre eine einverständliche Arbeitsteilung gewachsen; man ergänzte sich hervorragend, übernahm jedoch Aufgabenteile aus dem jeweils anderen Arbeitsbereich. Das funktionierte seit Jahren mit beidseitigem Einverständnis reibungslos. Der neue Geschäftsführer aber stammte aus der Abteilung »Musterschüler mit Checklisten-Mentalität«. Das Diktum der System-Theoretiker »Je mehr Freiheit, desto mehr Ordnung« hätte ihn kaum überzeugt. Er untersagte kurzerhand diese kästchenübergreifende Übereinkunft. Er forderte eine »klare« Organisation, mit »sauberen« Stellenbeschreibungen und »sauberen« Grenzen. Der fiel dann die Motivation der beiden Controller zum Opfer. Wie gesagt: Leistungsbereitschaft kann man nur behindern, zum Beispiel indem man die Leistungsmöglichkeit beschneidet.
Hier sind wir beim Kern der mangelnden Neigung vieler Unternehmen, selbstorganisierte Freiräume in nennenswertem Umfang
|239|zuzulassen: Es bedeutet (scheinbar) Machtverzicht. »Enge« – das Gegenteil von Freiraum – hat nicht zufällig den gleichen Wortstamm wie »Angst«! Freiräume machen Organisationen weniger beherrschbar, kontrollierbar, steuerbar und Menschen weniger lenkbar, sprich: motivierbar. Ja, freiwillig sollen Leute tun, was andere wollen. Aber trotz aller noch so verschleiernden Rhetorik wird immer wieder sichtbar, dass sie nicht so sehr »frei« als vielmehr »willig« sein sollen. Macht hat hier, wer macht. Vor allem Macht über sich selbst. Und alle Glücksgefühle haben etwas mit dem Verschwinden von Grenzen zu tun. Grenzen, die ich überschreiten kann. Grenzen, die um die Enge meines Jobs gezogen sind. Und meist ist es leichter, um Verzeihung zu bitten, als um Erlaubnis zu fragen.
Individuelle/wirtschaftliche Ziele
Gerne mitmachen heißt Wahlfreiheit haben. Dabei könnten alle Gewinner sein. Es geht ja nicht darum, Selbstbestimmung und Eigenkontrolle zu gewähren, weil das »humaner« wäre. Es geht darum, das Demotivierungspotenzial abzubauen. Es muss endlich begriffen werden, dass jeder sich die Aufgabe sucht, die ihn persönlich weiterbringt, sonst ist er schon einen Schritt in die innere Kündigung gegangen. Das sind nach Lage der Dinge vor allem Aufgaben mit einem hohen Maß an Wahlfreiheit, Selbststeuerung und Selbstkontrolle. Wer wirtschaftliche Ziele erreichen will, muss individuelle Ziele erreichen, die nur durch wirtschaftliche Erfolge möglich sind, welche in individuellen Erfolgen gründen, die jedoch wiederum nur durch wirtschaftliche Erfolge …
»Die besten und intelligentesten Menschen werden sich zu den Unternehmen hingezogen fühlen, in denen sie ihre
persönlichen Ziele verwirklichen können«, lautet der erste der »Zehn Leitsätze für die Reorganisation eines Unternehmens« bei Naisbitt/Aburdene. Es geht darum, der Intelligenz, Kreativität und Begeisterung eines jeden Mitarbeiters Spielraum zu geben, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Organisationen profitieren
|240|(darum geht es doch!) vom »Überschuss an Subjektivität«, wie Krell/Ortmann auswiesen. Personen sind attraktive Produktionsfaktoren gerade
wegen ihrer spontanen, uneinklagbaren und unprogrammierbaren ZuTaten. So kann es gelingen: echter Konsens im Ziel und danach Freiheit im Handeln.
Misserfolgskreislauf
Bei geringen Freiräumen kommen Mitarbeiter schnell in einen demotivierenden Misserfolgskreislauf. Wenn die Mitarbeiter kaum Wahlmöglichkeiten (zu Schwierigkeitsniveau, Verfahrensfragen, Mitteleinsatz, Gestaltung ihres Arbeitsplatzes, ihrer Arbeitszeit und so weiter) haben, können sie die erfolgreiche Bewältigung der Aufgaben auch nicht auf die eigenen Fähigkeiten zurückführen. Sie wissen, dass die Verregelung eine fast 100-prozentige Erfolgswahrscheinlichkeit festlegt. Sie wissen, dass sie für die Bewältigung dieser Aufgabe häufig aufgrund einer geringen Leistungseinschätzung seitens ihres Vorgesetzten beziehungsweise der Unternehmensleitung ausgewählt wurden. Die erfolgreiche Aufgabenbewältigung stärkt also nicht ein positives Selbstbild, entwickelt kaum ein auf »eigenen« Leistungen ruhendes Selbstwertgefühl – hinreichende Voraussetzung, weiterhin mit wenig anspruchsvollen Aufgaben betraut zu werden.
Eigenverantwortliche Tätigkeiten hingegen mobilisieren die Lernfähigkeit aller Mitarbeiter, mithin die Anpassungs- und Überlebensfähigkeit des Unternehmens. Das kann zu Innovationen führen, die Wettbewerbsvorteile sind. In einigen Organisationen unserer Industriegesellschaft ist dies sehr wohl bekannt, beispielsweise im Bereich der Universitäten. Auch einige Großunternehmen garantieren in Teilbereichen solche Freiräume. Insgesamt jedoch – greifen wir noch einmal auf das statistische Meinungsbild zurück – wird in unseren Unternehmen offenbar viel zu wenig Gestaltungsspielraum eingeräumt, der durch persönliche Entscheidungen ausgefüllt werden kann.
Eine bessere, das heißt weniger demotivierende und für alle Beteiligten ertragreichere Unternehmenszukunft wäre also eine, in
|241|der sich die Wahlmöglichkeiten, die Freiräume erweitern. Aber was bedeutet das für Führung?
De-Regulierung
Führen bedeutet hier, Grenzen in der Organisation beständig auf ihre drei Eigenschaften zu prüfen:
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Flexibilität
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Durchlässigkeit
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Veränderbarkeit
Alle haben ihre Berechtigung in ihrer Zeit, und alle sind beständig zu prüfen, ob sie das freie Fließen von Energien hindern oder fördern. So weit zum Grundsatz.
Nach Lage der Dinge kann das für Führung zunächst und eher bescheiden heißen: De-Regulierung. Je enger Unternehmen das Korsett von Regelungen und Vorschriften, Management-Guides und Policies schnüren, desto schneller geht Managern buchstäblich die Luft aus. Je stärker das Leistungsverhalten reglementiert wird, desto ausgeprägter ist nämlich die Tendenz, die Qualität und Quantität der Leistungen an das Niveau der Mindestanforderungen anzupassen. Die für die Effektivität des Unternehmens erforderlichen spontanen und kreativen Leistungen, die über die formulierten Rollenerwartungen hinausgehen, werden dann nicht erbracht. Auch das ist Demotivation. Denn Richtlinien stiften Ordnung, selten Zusammenhang.
In unseren Unternehmen ist es aber magische Praxis, das leidvoll Herbeigesehnte rituell zu beschwören: In beinahe schamanischer Versenkung wird die Gebetsmühle vom »internen Unternehmertum« gedreht – in der gleichen Beharrlichkeit, wie man alles verregelt, organisiert, ordnet, begradigt, bereinigt, alles Lebendige dem Götzen »Kontrolle« opfert.
Muss denn das Netzwerk von »checks and balances« so dicht geknüpft sein? Verkäufern ist ihre berufliche Autonomie, wirklich »Manager ihres Bezirks« zu sein, nach allen bisher vorliegenden Untersuchungen ihr höchstes Gut. Aber sie verknöchern immer
|242|mehr zu Verkaufsbeamten. In vielen Unternehmen ist an erster Stelle kaum mehr der Umsatz gefragt, sondern das artige Ausfüllen von Tagesberichten (die dann doch keiner liest), das korrekte Einhalten der Mindestanzahl von Kundenkontakten (ganz gleich, was dabei herauskommt), das hochnotpeinlichgenaue Erstellen der Spesenabrechnung und eine ansonsten möglichst geschmeidige Anpassung an die Vorgesetztenmeinung. Es geht nicht darum, die richtigen Dinge zu tun, sondern die Dinge richtig zu tun. Das ist die innere Selbstzerstörung alles Lebendigen im Unternehmen. Richtwerte heißen nicht zufällig »Richt«-Werte.
Längst leidet die Produktivität unter dem Starrsinn, mit dem vielfach am Schema der 40/39/38…-Stunden-Woche festgehalten wird. Gerade im Konflikt Familie/Beruf fördert das notorisch schlechte Gewissen vieler Mitarbeiter nicht gerade die Leistungsfreude. Das hartnäckige Festhalten an inflexiblen Arbeitsgrundmustern, an monotonen Karrieremodellen, die mit den Lebensrhythmen von Familien nicht harmonieren, ein völlig veralteter Gerechtigkeitsbegriff und ein Leistungsbewertungssystem, das Aufwand mit Ergebnis verwechselt, indem es Produktivität nach Stunden misst, all das macht es schon heute immer schwieriger, genügend gute Leute zu finden, die für Karriere die traditionellen Opfer zu erbringen bereit sind. Mittlerweile haben die meisten Großunternehmen zu der Erkenntnis gefunden: Eltern, die die Unternehmenspolitik als wenig familienfreundlich und entgegenkommend empfinden, klagen über mehr Stress, bleiben öfter der Arbeit fern und zeigen sich weniger zufrieden mit ihrer Stellung als andere. Allerorten werden Betriebskindergärten aufgebaut und neue Arbeitszeitmodelle angeboten, die Mitarbeiter zwischen Teilzeitarbeit, Jobsharing und situationsbezogener variabler Gleitzeit wählen lassen. Rodgers/Rodgers weisen darauf hin, dass von vielen Mitarbeitern Teilzeitarbeit nicht unbedingt als Halbtagsarbeit, sondern ebenso oft als Vier-Tage- oder 30-Stunden-Woche bevorzugt wird. Im Kampf um die Besten der Jahrgänge, vor allem aber um die Frauen, wird ein Unternehmen, das wettbewerbsfähig bleiben will, die traditionellen Regelungen flexibilisieren müssen.
Muss es eine (wenn auch inoffizielle) Kleiderordnung geben? Ein Thomas-Gottschalk-Typ, Vorbild für Millionen, würde mit
|243|seinen Westernstiefeln und Ohrsteckern nicht mal Gruppenleiter in der Produktion. Im Banken- und Versicherungsbereich würde der einstellende Personalreferent gleich in die Registratur versetzt. Kein Wunder, dass industrielle Arbeit in den Augen vieler und oft der besseren Köpfe mit Normierung und hohler Anpassung gleichgesetzt wird.
Muss man mit ungeheurem Aufwand ein hoch kompliziertes Regelwerk zu den Reisespesen inszenieren? Ob ein Hotel 150 oder 250 Euro kosten darf? Muss man darauf achten, dass auf Dienstreisen Telefonate nach Hause nicht länger als fünf Minuten dauern? Muss man ständig die Abrechnungen, die Portokassen, die Bewirtungsspesen überprüfen? Um die 5 Prozent schwarze Schafe aufzuspüren und die anderen 95 Prozent immer enger zu überwachen und zu reglementieren? Ricardo Semler, Präsident von Semco S/A, Brasiliens größtem Maschinenbauer, fragt: »Wenn wir Menschen nicht unser Geld anvertrauen und uns nicht auf ihr Urteil verlassen können, warum nur sollten wir sie dann in alle Welt hinausschicken, um in unserem Namen Geschäfte zu tätigen?«
Sollte man nicht allen Mitarbeitern ständig Einblick in die Bücher gewähren können? Damit sie stets über die Lage ihres Unternehmens im Bilde sind? Warum sollten Mitarbeiter nicht untereinander den morgendlichen Arbeitsbeginn vereinbaren? Auch die so genannte »gleitende Arbeitszeit«, von vielen als Fortschritt empfunden, fokussiert auf Richtwerte, rein quantitative Arbeits-»Zeit«, und unterläuft dabei unwillentlich Selbstorganisation, Selbstkontrolle und qualitatives Denken. Manche Firmen haben auf diese Weise eine Fleißkärtchen-Kultur entwickelt, die Leistung an Überstunden misst, nicht am Output an Qualität. Natürlich muss der Funktionsauftrag einer Stelle im engeren Sinne erfüllt werden. Aber immer nur auf dieselbe Weise? Auf die, von der der Chef meint, es sei die einzig richtige? Taylors »one best way« hat noch nie existiert! Wäre es nicht ratsamer, das Schwergewicht auf Ergebnisse statt auf Verfahrensweisen zu legen? Ist die Bewertung der Arbeitsmethodik nicht ein völlig unzeitgemäßes Überbleibsel einer tayloristischen Unternehmensauffassung? Führung hieße dann weniger, dass ich unmittelbar den Herrn X
|244|oder die Frau Y je für sich führe, sondern einen Raum bereitstelle, in dem Herr X und Frau Y eigenverantwortlich zusammenarbeiten können – und zwar nach der Art und Weise, wie sie es selbst für richtig empfinden und vereinbaren. Das Wort vom »Führen, ohne zu führen« – sonst in seiner paradoxen Verschraubung eher verwirrend als klärend –, hier meint es etwas Richtiges.
Energie fließen lassen
Führen kann hier wieder ein »Lassen« und ein »Machen« bedeuten: Zulassen, dass Energien ungehindert fließen und sich individuelles Unternehmertum Bahn bricht, aber auch Abbau von regulativen Blockaden, Dämmen und energieabsorbierenden Stauungen. Der Abbau so mancher Richtlinie fördert Durchlässigkeiten; es ist wie das Durchspülen von sklerotisierten Energiebahnen im Unternehmenskörper. Zu fordern wäre mithin eine innere Haltung der »gelassenen Durchlässigkeit«. Wir brauchen keine Mitarbeiter, die ihren Vorgesetzten oder irgendwelchen Vorschriften im Gehorsam vorauseilen, sondern solche, die dem Unternehmen mit Intelligenz, Kritik- und Risikobereitschaft dienen. Dafür brauchen sie Freiraum für Schwung und Pioniergeist; sie brauchen »Luft zum Atmen«.
Wenn ich mich gegen Richtlinien wende, so fordere ich nicht, alle Richtlinien abzuschaffen, sondern meine ihre permanente Überprüfung auf Sinnhaftigkeit. Formelle Regelungen dürfen nicht tabu sein. Leisten sie tatsächlich, was sie leisten sollen? Welche kontraproduktiven Nebenwirkungen sind zu berücksichtigen? Ricardo Semler schreibt: »Jeder weiß, dass sich keine große Organisation ohne alle Regeln leiten lässt, jedermann weiß aber auch, dass die meisten Regeln Quatsch sind. Selten dienen sie der Lösung von Problemen. Im Gegenteil, meist existieren sogar recht obskure Vorschriften, die noch rechtfertigen, was sich nur die allerstumpfsinnigsten Leute ausdenken können.« Zudem haben Vorschriften ein hohes Demotivierungspotenzial. Vorschriften sind aber von Menschen verabredete, vorübergehende Verhaltensrichtlinien, die meistens
Kinder der Krise sind. Meist wird die
|245|ser Ursprung, das Vorübergehende, vergessen. Richtlinien können aber auch von Menschen wieder geändert werden, wenn sie verhindern, das Richtige zum richtigen Zeitpunkt zu tun. Manche Richtlinie soll auch »motivieren« (ist also auch ein Kind der Krise!) und wird doch allzu oft als Schikane empfunden.
Ein Beispiel
Ein Beispiel dafür, wie die geplante Motivierung des Außendienstes in Demotivation umschlug, weil die Wahlmöglichkeiten kaum begründbar eingeschränkt beziehungsweise an völlig überlebte Denkweisen gekoppelt wurden, erlebte ich bei der deutschen Tochter eines amerikanischen Chemiegiganten. Das Unternehmen hatte seine Autopolitik für den Außendienst nach bekannt-antiquiertem Muster als Mangelsituation, als künstliche Verknappung angelegt. Man band die Hubraumgrößen an hierarchische Positionen in der Hoffnung, dass sich die Außendienstler nicht nur durch den möglichen Aufstieg zur Führungskraft, sondern auch mit Blick auf das größere, prestigeträchtige Auto besonders in die Riemen legten.
Das Unternehmen, das sich diese Motivierung ausgedacht hatte, verdiente, was es bekam: Die Hierarchisierung war dem Außendienst, dessen Werk-Zeug ja weitgehend das Fahr-Zeug ist, nie wirklich plausibel zu machen. Die Verkäufer quetschten sich in enge Kisten ohne Klimaanlage über Hunderte von Kilometern, während die Führungskräfte des Innendienstes, die vielleicht nur zehn Minuten von der Hauptverwaltung entfernt wohnten, sich des Komforts der Oberklasse erfreuten.
Die Kostenrechnung des Unternehmens ermittelte aber, dass ein Auto der oberen Mittelklasse, das dem Außendienst nicht zustand und nur von vergleichsweise wenigen Managern gefahren werden durfte, das aus Firmensicht mit Abstand wirtschaftlichste Fahrzeug war. Nun hat sicher niemand mehr die Illusion, dass Wirtschaftsunternehmen nach rational-wirtschaftlichen Überlegungen geführt werden. So auch hier nicht: Das Auto blieb nach einigem Hin und Her den wenigen Führungskräften vorbehalten (Wieso
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Skeptiker wenden jetzt ein, das wäre immer so. Das mag sein, aber sicher nicht immer mit dieser Energie: Energie, die sich auf den Markt, die Kunden oder auf die inneren Kooperationsbeziehungen richten sollte, wird ohne Not von einem Thema aufgesogen, das zum Unternehmenserfolg kein Gran beiträgt. Im oben genannten Beispiel wurde die Entscheidung als weiterer Beleg für die Ignoranz des Innendienstes kopfschüttelnd abgebucht. Was motivieren sollte, schlug in Demotivation um.
Warum also nicht frei(er) wählen und auf der Basis wirtschaftlicher Kriterien abrechnen? Diese Frage stellen bedeutet nicht, irgendeiner sozialromantischen Form von Gleichmacherei das Wort zu reden. Es muss aber mit aller Entschiedenheit darum gehen, die Richtlinien, Regeln und Vorschriften insbesondere auch des Hierarchieprinzips auf ihre demotivierenden, leistungshemmenden Potenzen abzuklopfen und immer wieder auf Korrigierbarkeit zu prüfen.
Menschen für Jobs? Jobs für Menschen!
Fehlende Freiräume resultieren nicht selten aus einer spezifischen Delegationsmentalität, die aus dem Verantwortungssteinbruch des Vorgesetzten genau definierte Brocken herauslöst und sie dem Mitarbeiter zur Veredelung überlässt. Wehe aber, dieser sucht Edelsteine in einem anderen Bergwerk!
Führen bedeutet demnach hier das Überwinden des engen und einengenden Kästchendenkens. Es bedeutet Grenzüberschreitungen fordern. Und zulassen! Initiative nicht als Disziplinlosigkeit zu denunzieren. Die Schwierigkeiten, die viele Mitarbeiter mit Stellenbeschreibungen haben (die sie nicht selten als »Personen«-Beschreibungen missverstehen und als Geringschätzung erleben,
|247|weil sie sich als »Personen« in der »Stelle« nicht wiedererkennen), verweisen auf Wichtiges: Können wir uns weiterhin leisten, wie bisher »Menschen für Jobs« zu suchen und uns damit den subjektiven Überhang der vielen Multi-Talente entgehen zu lassen? Ist es nicht sinnvoller, »Jobs für Menschen« zu kreieren, das heißt, die Jobs sehr individuell auszugestalten, mit flexiblen und veränderbaren Grenzen zu versehen und die Mitarbeiter sehr »persönlich« in das Unternehmen zu integrieren? Das würde bedeuten, die persönlichen Ziele des Mitarbeiters intensiv »einzubauen«.
An einer weiteren Überlegung liegt mir besonders. Vorgesetzte verstehen den Eingliederungsprozess neuer Mitarbeiter leider häufig als reinen Anpassungsprozess. Sie nutzen nur selten den kritischen Impuls, den die »naive«, noch nicht betriebsblinde Sichtweise der Neulinge dem Unternehmen bieten kann. Der neue Mitarbeiter sollte daher aufgefordert werden, eigene Vorschläge zur Gestaltung seiner Arbeit und seines Arbeitsumfeldes zu machen. Ziel der Eingliederung ist doch schließlich der Mitarbeiter mit Eigeninitiative und Selbstverantwortung. Oder?
Natürlich: Freiräume sind auch Räume, und die haben Grenzen. Aber innerhalb dieser Räume sollte Wahlfreiheit herrschen. Noch einmal: Der Funktionsauftrag einer Stelle im engeren Sinne muss erfüllt werden. Neue, darüber hinausgehende Projekte bieten spannende Abwechslung. Es ist zu überlegen, ob Chefs nicht viel häufiger ihre Mitarbeiter freistellen sollten, um sie an ihren Lieblingsprojekten arbeiten zu lassen. Viele Spielräume ergeben sich schon heute durch die zunehmenden Marktturbulenzen. Den Energiefluss dahin zuzulassen und zu unterstützen – das ist Führung, die die Auswirkungen demotivierenden Kästchendenkens begriffen hat.
Lange Leinen
Viele Führungskräfte haben sich in den vergangenen Jahren schweren »Führungsballast« aufgeladen. Dem Idealbild der »perfekten« Führungskraft, die alles »im Griff hat«, wollen viele ent
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Wer anderen lange Leine lässt, ist selber frei.
Das Maß des Leine-Lassens ist sicher individuell und situationsspezifisch abzustimmen. Und Freiheit ist immer auch eine Frage der Zumutbarkeit. Diese Frage wird jedoch zumeist übervorsichtig oder gar ohne Not pessimistisch beantwortet. Gewiss ist jedenfalls, dass die Tauglichkeit des Mitarbeiters, mit seinen Freiräumen verantwortlich umzugehen, in dem Maße schwindet, in dem die Führungskraft darin herumregiert – vergessend, dass zunächst der Schutz dieses Freiraums ihr aufgegeben ist. Und hier sind wir bei einer veränderten Sicht von Führung angelangt: Wenn also etwas zu »tun« ist, dann nicht mehr die Verantwortungsübernahme für die Motivation des Mitarbeiters, sondern Verantwortung für den Schutz seines Freiraums.
Imperative
Übertragen wir diese Sichtweise auf die Entscheidungsordnung eines Unternehmens, so ist nach wie vor die Entscheidung auf möglichst breiter konsensualer Basis zu fordern. Das aber wird in der operativen Alltagshektik nicht immer möglich sein. Es gilt dann das Postulat: »Entscheide so, dass die Freiräume deines Mitarbeiters nachher größer sind als vorher.«
Auch das wird in dieser Reinform sich nicht immer durchführen lassen; daher ist vorsichtiger, realistischer zu fordern: »Entscheide so, dass die Freiräume deines Mitarbeiters nachher nicht kleiner sind als vorher.« Das Mindestmaß an Führungsweisheit aber müsste lauten: »Sei dir bewusst, dass deine Entscheidungen sich auf die Freiräume deines Mitarbeiters auswirken können, und kalkuliere den Preis, den dein Mitarbeiter und mittelbar auch du
|249|selbst dafür zahlt.« Und dieser Preis kann für beide überaus hoch sein: Spaß und Lebensfreude auch – und gerade – im Beruf. So gilt denn hier:
Motivation ist unwidersprechlich Sache des Einzelnen. Ihr Freiraum zu geben, ist Sache der Führung.
In Anlehnung an das Wort von Karl Jaspers »Was der Mensch ist, das ist er durch die Sache, die er zur seinen macht«, muss mit dem vielbeschworenen »Unternehmertum im Unternehmen« ernst gemacht werden. Das heißt Freiräume, Bewegungsfreiheit zu schaffen, demotivierende (Richtlinien-)Blockaden von Energien und Entfaltungswillen abzubauen. Das bedeutet Enttabuisierung formeller Regelungen zugunsten von Problematisierung. Das meint, Durchlässigkeiten zu fördern, Wahlmöglichkeiten zu erhöhen. Es ist wahr: Vor den Erfolg haben die Götter den Spaß gesetzt. Wir brauchen also eine Unternehmenskultur, in der die Mitarbeiter den ihnen entgegengebrachten Respekt als eine Gelegenheit erkennen, ihren eigenen Gestaltungsraum selbstverantwortlich wahrzunehmen. Dann kann ich eine Sache zur meinen machen. Nur dann bin ich völlig »bei der Sache«. Nur dann arbeite ich mit Leidenschaft an meiner Aufgabe. Begeisterung? Ja. Aber für meine Sache, weil ich mich nur für meine Sache begeistern kann. Alles andere ist Illusion. Und der »Mythos Motivation«.
»Eine Sache zur meinen machen« ist zugleich ein Appell an die Selbstverantwortung des Mitarbeiters (nahezu jede Führungskraft ist ja gleichzeitig auch wieder unterstellter Mitarbeiter). Während Laufbahnen ihre Sicherheit verlieren und die Zukunft von Unternehmen unvorhersehbarer wird, können – und müssen heute – Menschen die Verantwortung für ihren eigenen beruflichen Lebensweg übernehmen. Das gilt für die Wahl des Unternehmens. Das gilt für die Wahl des Arbeitsplatzes. Das gilt aber auch für die Freiräume innerhalb des Jobs. Niemand kann es sich heute noch leisten, einfach abzuwarten, dass die Dinge von allein besser, gerechter, freizügiger werden. Freiraum gilt es nicht
|250|zu postulieren, wie es überall geschieht, wo er nicht vorhanden ist. Sondern zu erobern. Denn kaum ein Unternehmen wird dem Einzelnen von sich aus den Freiraum geben, den er braucht. Den muss er sich schon holen.
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