C. Epilog: Versuch über Selbstachtung
Das häufigste Vergehen im Wirtschaftsleben ist die fundamentale Missachtung der Menschenwürde.
Menschen werden in unseren Organisationen nur allzu häufig wie Kinder behandelt, nicht wie Erwachsene. Außerhalb der Unternehmen sind Arbeitnehmer Männer und Frauen, die Regierungen wählen und abwählen, Gemeindeprojekte leiten, Sportvereine organisieren, Familien gründen, Kinder erziehen und täglich zukunftsbezogene Entscheidungen selbstverantwortlich fällen. In dem Moment aber, in dem sich hinter ihnen die Unternehmenstüren schließen, geben sie ihr Erwachsensein gleichsam beim Pförtner ab. Sie werden vom Unternehmen zu Jugendlichen zurückgestuft – und sie lassen es zu. Halbwüchsige, die man belohnt, belobigt, besticht, bedroht, bestraft. Wahlmöglichkeiten werden eingeschränkt; Selbststeuerung ist nur in engen, normierten Grenzen möglich. Dienstabzeichen, Statusinsignien, Schlangestehen, Stechuhren, Erlaubniskarten, Anweisungen befolgen, ohne zu fragen, Entscheidungen zurücknehmen, weil der Chef es anders will, Arbeitsrichtlinien, deren Sinn keiner mehr erkennen kann, Regeln ohne Ausnahmen, Bestimmungen, Kleiderordnung, hierarchisierte Reisespesen, Kontrollen. Es ist unübersehbar: Das häufigste (und folgenreichste) Vergehen im Wirtschaftsleben ist die fundamentale Missachtung der Menschenwürde. Das fällt kaum mehr auf, so sehr haben wir uns daran gewöhnt.
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Während ich diese Gedanken und Erfahrungen niederschrieb, wurde mir zunehmend bewusst, dass meine Kritik der Motivierung um die Folgen dieser Infantilisierung, Abwertung und Rückstufung im Unternehmen kreist, wohingegen das angebotene Führungskonzept sich um Begriffe wie Selbstachtung, Selbstrespekt und Würde gruppiert. Die Folgen von Abwertung habe ich beschrieben. Was aber ist Selbstachtung?
Selbstachtung ist zwar ein abstrakter, auf den ersten Blick aber doch ein sich selbst erklärender Begriff. Viele stehen ihm sicher fern, fürchten sein Pathos. Zunächst scheint er auch nicht so recht in ein Buch für Manager zu passen. Und dennoch ist er in der Tiefe unseres inneren Erlebens etwas sehr Konkretes, Nahes und für Führung sehr Beachtenswertes.
Im Sinne von Sullivans Annäherungsversuch ist Selbstachtung jene uns innewohnende Instanz, die wie ein Seismograf alle uns betreffenden Kommunikationssignale auf ihre wertende Tendenz taxiert. Jenes Organ also, das sensibel auch das kaum Wahrnehmbare wahrnimmt, auch Unbewusstes registriert. Dessen nimmermüde Wachsamkeit auch noch in den verdecktesten Interaktionen jene Tendenz detektivisch aufspürt, die Aussage darüber macht, wie uns der Sender der Botschaft wert-, ein- oder abschätzt.
Das Selbst, das sich achtet, ist wohl auch mehr als das aufgeblähte Ego, welches sich aus der Requisitenkammer der Identitäten nach Neigung und Willkür bedient und sich dann einbildet, etwas, nämlich dieses Selbstbild, zu sein. Mehr also als die angstvoll-stolzgeschwellte Bestätigungssucht, die aus allen Ritzen Applaus saugt. Mehr also auch als das auf eigenen Erfolgen basierende, umgangssprachliche »Selbstbewusstsein«. Und es bezieht sich auf mehr als auf die eigenen Fähigkeiten, Interessen, Meinungen, Gefühle und Bedürfnisse, die das »Ich bin« auffüllen.
Ob Selbstachtung durch individuelle Erziehung und Geschichte individuell geprägt, also beim Einzelnen mehr oder auch weniger vorhanden ist, steht dahin. Gewiss ist: Man kann sie zerstören und diese Zerstörung ist gleichbedeutend mit Selbstaufgabe. Gesichert scheint zudem: Menschen ist ihre Selbstachtung unterschiedlich bewusst. Entsprechend mehr oder weniger bewusst verbucht wird
|253|die bewertende Tendenz in dem, was man zu uns oder über uns sagt beziehungsweise wie man mit uns umgeht. Wahrgenommen wird vor allem (auf die wirkungspsychologische Verschiebung habe ich hingewiesen) die
Abwertung: das Misstrauen, Nicht-Beachten, Übersehen, Überhören, Geringschätzen, Nicht-ernst-Nehmen, Nicht-Zutrauen.
Selbstachtung – und das ist wichtig! – scheint mir die wahre Quelle aller Motivation zu sein. Sie ist die Voraussetzung für ein volles »Ja« zu einer Sache, die ich zu meiner mache. Sie wird greifbar in Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, in Selbstbestimmung und Wahlmöglichkeit. Abwertung (das Ignorieren der Selbstachtung) erschließt sich mithin als die Quelle aller Demotivation. Was motivieren soll, entwürdigt. Die Leistungsfreude stirbt.
Stachel im Fleisch
Der motivierende Sinn ist ein abwertender Sinn. Er sagt:
»Ich glaube dir nicht, dass du von dir aus freiwillig dein Bestes gibst, deshalb muss ich dich motivieren.«
»Du bist kein ernst zu nehmender, vertrauenswürdiger Verhandlungspartner.«
»Du kannst dir keine realistischen Ziele vornehmen und keine Vereinbarungen einhalten.«
»Du sollst dich von Belohnungen und Bestrafungen anspornen lassen, damit ich dich leichter lenken kann.«
Ein Ansporn ist ein Stachel im Fleisch. Er schmerzt. Das ist zunächst nicht gut oder schlecht; es hat Konsequenzen. Nämlich: Die Motivierung unterhöhlt die Selbstachtung ebenso subtil wie wirkungsvoll. Je systematischer die Motivierung, desto systematischer die Untergrabung. Je »erfolgreicher« immer differenziertere Systeme das Werk der Motivierung vollbringen, umso unfehlbarer vereiteln
|254|sie wider Willen den Zweck, um dessentwillen der ganze Prozess in Gang gesetzt wurde. Zug um Zug, mit mechanischer Sicherheit, verselbstständigen sich die ausgeklügelten Mittel gegen die Zwecke.
Besonders systematisch werden sie bekannterweise bei Verkäufern eingesetzt, der Lieblingszielgruppe der Motivierungsmechaniker. Das
Wall Street Journal schrieb, dass über 50 Prozent aller Verkäufer an zu geringem Selbstvertrauen scheitern. Wer steht da im Wald und wundert sich? Wundert sich, dass sich die ganze Sinnwidrigkeit der Motivierung vor dem Hintergrund der Selbstachtung noch schärfer konturiert? Wer kann sich noch wundern, dass Bonus, Incentives, Lob und Tadel, psychologische Vorgesetzten-Kriegsführung und Trainingsdrill den Verkäufer nur allzu oft in eine kindliche Anpassungshaltung schicken, wundert sich, dass das ganze Instrumentarium, welches das Elend der »Motivation« ausmacht, jedes »standing« von Außendienstlern untergräbt? Untergraben
muss. Dass sie »umfallen«, wenn auch nur ein einziger gewichtiger Einwand kommt? Wer kann sich wundern, dass diejenigen, die man täuscht und verführt, auch diejenigen sind, die das Unternehmen täuschen? Dass sie auf dem Weg, den sie mit dem Segen und zum Segen der Unternehmensleitung eingeschla
|255|gen haben, nur noch einen Schritt weiter gehen: Sie wenden die gleichen Mittel – psychologisch schlüssig – nach innen an. Und wer kann sich noch wundern, wenn die willkürliche Einschränkung der Wahlfreiheit, die Logik der künstlichen Verknappung als entwürdigend empfunden wird?
Ob bewusst oder unbewusst wahrgenommen – das ist hier nicht die Frage, denn der innere Sensor der Selbstachtung reagiert in jedem Fall. Robert Debré sagt: »Alles ist Gedächtnis. … Das Lebewesen empfindet, speichert. Der Organismus vergisst nie etwas.« Selbstachtung erspürt auch die innewohnende Logik des vertrackten Spiels der Motivierung, die mit ihrer scheinbaren Sonnenseite des Belohnens und Belobigens vorgibt, doch gerade die Selbstachtung zu stärken. Lob soll doch aufbauen! Belohnungen sollen doch das Selbstwertgefühl stützen! Bonus ist doch schon dem Wort nach etwas »Gutes«!
Abhängigkeit
Der Kern der Abwertung liegt tiefer. Er liegt in der selbst gewählten Abhängigkeit des Menschen von den Wechselbädern des Antreibens. Damit liegt der Kern in jedem Einzelnen: Wenn mich jemand motivieren kann, dann kann er mich auch demotivieren. Dann lade ich alle Welt ein, über die Qualität meines Lebens zu entscheiden. Dann gebe ich anderen Macht über meine Selbstachtung. Bekomme ich mein Bonbon, geht es mir gut, wenn nicht, schlecht. Wenn es so ist: Warum tue ich mir das an?
Wer von etwas abhängt, verliert leicht das Gleichgewicht. Jenes Gleichgewicht, das Motivation heißt und Selbstachtung ist. Und das birgt auch für Unternehmen Nachteile von erheblicher Tragweite. Sie suchen motivierbare Mitarbeiter – und bekommen demotivierbare. Dauerpatienten am Motivierungstropf, weil die Unternehmenskultur auf Misstrauen aufgebaut ist. Misstrauen, das sich als Erfahrung ausgibt, aber auch dann nichts weiter als seiner eigenen Wirkung – der Demotivation – begegnet. Und die ist die Folge von sinnentleerter Arbeit ohne Forderung, Selbstbestimmung, Freiraum und Wahlmöglichkeiten – ohne »erlebbare« Selbstachtung.
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Das Nicht-ernst-Nehmen durch Motivierung wertet ab. Auf viele Fundamente lassen sich Unternehmen bauen, auf Abwertung nicht. Dann sind sie auf Sand gebaut. Auf Treibsand: Je mehr sie auf die Seite der Motivierung treten, desto tiefer sinken sie in die Demotivierung. Wenn aber Entrepreneure auf allen Ebenen für unsere Unternehmen, für unseren Lebensstandard und für unsere Wettbewerbsposition im Markt überlebensnotwendig sind, dann sind das Menschen mit Eigen-sinn und lebendigem Identitätszentrum. Menschen mit Selbstachtung. Partner. Denen kann man aber nicht den Stachel des Misstrauens ins Fleisch bohren. Man kann nicht in einer freien Gesellschaft Freiheit fordern, Freiheit leben, Freiheit gewähren und den Menschen zugleich Verantwortung für ihre eigene Motivation aus den Händen nehmen. – Doch, man kann. Und es hat Konsequenzen. Eine Misstrauens- und Anreizorganisation, eine vom Verdacht kontaminierte Unternehmenskultur treibt die Kosten ins Unermessliche. Nicht nur die sichtbaren. Vor allem die unsichtbaren.
Umgang mit anderen
Unternehmen müssen sich also entscheiden, ob sie in immer neue Drogen investieren oder den Weg freigeben wollen für gelebte und erlebbare Selbstachtung:
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für Organisationsstrukturen, die Erwachsenen gerecht werden;
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für Führungskräfte, die zu-trauen und ver-trauen, die fordern, fördern und ernst nehmen;
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für Mitarbeiter, denen ihre Selbstachtung höchstes Gut ist und die ohne ständiges Schulterklopfen auskommen.
Selbstachtung bezieht sich also immer auch auf den Umgang mit anderen. Selbstachtung erspürt, ob ihr der andere »gerecht« wird; und das meint niemals die manipulierende, ver-führende Haltung, die aus dem Mitarbeiter ein »zu bewegendes« Objekt macht. Sondern in allem die, die sein Sosein respektiert, ihn in seiner Subjektivität ernst nimmt und ihn als Individuum wahrnimmt.
Am Anfang steht also ein Einstellungswandel: die Bereitschaft
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und Gelöstheit als zwei Pole des lebendigen Ganzen anerkennen.
Führung ist aber in unseren Unternehmen verleitet, den Mitarbeiter nur in seiner funktionellen Bedeutung für die Unternehmensziele, nicht aber in seinen persönlich-existenziellen Anliegen ernst zu nehmen. Das hat Folgen, denn – ich wiederhole es – jeder sucht sich die Aufgabe, die ihn persönlich weiterbringt und damit seine Selbstachtung stärkt, oder er ist schon einen Schritt in die innere Kündigung gegangen. Das Umdenken, das hier nötig ist, ist viel schwerer, als man gemeinhin annimmt. Mit Ehrenerklärungen für den »Menschen im Mittelpunkt« und Sinnbewirtschaftungsmaßnahmen einer von oben oktroyierten Unternehmens-»Kultur« ist es ebenso wenig getan wie mit Sonntagsreden über den »Mitarbeiter als unser wichtigstes Kapital«. (Dann schon lieber Montagsbeschlüsse über erweiterte Handlungsspielräume!)
Wenn sich Unternehmen entschließen, ihre Mitarbeiter wirklich ernst zu nehmen, dann rücken viele Umgangsformen im Unternehmen aus dem Schatten bewusst oder unbewusst abwertender Betrachtungsweisen in ein neues Licht. Für Führung heißt das: Sie muss sich entscheiden, ob sie den Haupteingang der Forderung, Verhandlung und Vereinbarung wählt oder weiterhin auf den Hintertreppen psychologisch geschickter Verführung herumschleicht. Sie muss wählen zwischen dem Geist der Selbstachtung und dem Gespenst der Motivierung.
»Wo die Gespenster herrschen, beginnt die Epoche der Psychologie«, sagt Peter Sloterdijk. Was immer sie an Hilfreichem über Kommunikation uns zu sagen hat – unter den obwaltenden Vorzeichen der Motivierung bleibt ein Unbehagen. Gerade die Psychologie schwebt ständig in Gefahr, Schmieröl im Räderwerk der
|258|Abwertungsmechanik zu werden. Denn je mehr sich Führungskräfte auf die Motivierung einlassen, desto mehr müssen sie sich aus der Rüstkammer der Psychologie bewaffnen. Vor dem zwielichtigen Horizont gegenseitiger Täuschungsabsichten wird Führung so zum Wettlauf der Schlitzohren. Psychologie führt dann keinen Schritt über die Probleme hinaus, von denen sie handelt. Ja, sie vertieft sie noch, weil sie besser tarnt. Sie ist dann die Fort-»Führung« der Abwertung mit anderen Mitteln.
Und so wird denn der Drogendealer unter den Führungskräften den hier angebotenen alternativen Ansatz einer Führungskonzeption auch nur instrumentell verstehen. Die innere Fehlhaltung wird er nur technisch angehen und nur pragmatisch, das heißt um des besseren Funktionierens willen, in seine Führungstechnik einzubauen versuchen. Vielleicht wird er dann mit der gleichen manipulativen Einstellung beginnen, die Selbstachtung seiner Mitarbeiter »aufzubauen«, ihnen das Bewusstsein von Würde und Selbstbestimmung zu »geben«. Er kommt dann aus den Widersprüchen einer Führung nicht heraus, die mit den Mitteln hintertreibt, was sie als Ziel begehrt. Er wird manches als nützliche Führungstricks missverstehen (aber erwarten, dass seine Mitarbeiter ihm offen und ehrlich begegnen). Dann wird das hier Gesagte zum heillosen Gegenteil des Gemeinten. Führungs-»Techniken« sind dann wie Stützverbände, die die Führungskraft befähigen, vorübergehend »erfolgreicher« in ihren inneren Fehlhaltungen zu verbleiben. Man kann »ernst nehmen«, aber nicht längere Zeit undurchschaut »spielen«. Die Mitarbeiter spüren, ob sie von den Führungskräften so akzeptiert werden, wie sie sind, oder ob sie nur in einer vorausbestimmten Weise funktionieren sollen. Solange aber Führungskräfte ihre Mitarbeiter nicht aus innerer Überzeugung als Persönlichkeiten wahr-, ernst und annehmen, sind sie keine. Dann haben sie kein Recht zu führen.
Umgang mit sich selbst
Das also ist gefordert: Führung, die den Selbstrespekt, die Würde des Menschen in ihr Sinnzentrum stellt, die ernst nimmt und ach
|259|tet – den anderen, vor allem aber: sich selbst. Das heißt zunächst – widerstehen: dem grassierenden Zynismus, der vor Durchblick, Enttäuschung und Illusionslosigkeit nur noch verquält lächelt. Zynismus – und meines Erachtens sind ganze Scharen von Managern dahin abgewandert – ist nichts anderes als
Selbstabwertung. Der Zynische nimmt sich selbst nicht mehr ernst. Er gibt sich weltklug, abgeklärt, verblendungsfrei, ernüchtert, fast fröhlich: Er hat Abschied genommen von idealistischen Flausen, die nur den Macht- und Durchsetzungswillen hemmen. Aus Notwehr fast. Zu weit klafft die Kluft zwischen den Werten von einst und der Illusionslosigkeit des Jetzt. Die Zugbrücken der Offenheit sind hochgezogen als Schutz gegen unerträgliche Verletzungen. Über Bord sind sie geworfen, die Vorstellungen einer besseren Gegenwart. Oder sie haben sich verengt, indem sie Anzug und Krawatte anlegten. Als letztes Bollwerk der Würde wird die Unentbehrlichkeit inszeniert. Eine intellektuell abgefederte Melancholie wallt über die Friedhöfe der verwitterten Sehnsüchte und abgelegten Träume. Das verächtliche Menschenbild verachtet sich selbst. Aber es geriert sich als Erfahrung, als Wissen, das Macht ist. Man hat ja den Durchblick, aber man bleibt passiv, außen vor. Das Verhältnis von Hund und Wurst meint immer die anderen. Nichts weiter bleibt zu tun, als die Dinge mit Scharfsinn zu analysieren. Der Preis für diesen Zynismus ist der Preis aller Selbstabwertung: Verlust des Selbstrespekts, des eigenen Würde-Empfindens. Als »Gewinn« wartet die gesamte Krankheitskette des psychosomatischen Formenkreises.
Widerstehen: der Selbstausbeutung unter den Zumutungen des fraglosen »Ja«; der Aufgabe von Idealen zugunsten einer Kunst des optimalen Grapschens; der allgegenwärtigen Entmündigung durch menschenverachtende Organisationsstrukturen; der Zerstörung der Lebendigkeit durch die Verlockungen der Bequemlichkeit; dem Hinnehmen des nur scheinbar Unabänderlichen; dem Misstrauen, das unterhalb gesenkten Lidern stets sprungbereit lauert, fehlersuchend blinzelt; dem Reichwerden durch den Geist in dem Maße, wie man ihn aufgibt.
Denn davon bin ich zutiefst überzeugt:
Der höchste Preis, den ein Mensch zahlen kann, ist der Verlust seiner Selbstachtung. |260|Es gibt aber nichts und niemanden, keine zwingenden Umstände und keinen mächtigen Einzelnen, die dem Menschen die Selbstachtung nehmen könnten. Das kann er nur zulassen. Dafür ist er selbst verantwortlich. Die Selbstachtung kann er sich nur selbst nehmen. Nicht mit einer großen, dramatischen Opfergeste, sondern durch die vielen kleinen Selbstabwertungen, die die Anpassung an das System der Motivierung unfehlbar mit sich bringt: Wenn er sich abhängig macht vom Hü und Hott des Anreizens und Anspornens, von den subtilen Bestechungsversuchen, den lockenden Belohnungen und dem süchtig machenden Lob – von all den Drogen der Ver-Führung, die samt und sonders aus Misstrauen, fehlendem Zutrauen und Geringschätzung geboren sind. Dann lässt er
andere über die Qualität seines Lebens bestimmen. Dann macht er sich zum Spielball der Interessen
anderer. Dann sitzt er nicht mehr selbst am Steuer seines Lebensautos, sondern lässt
andere fahren. Und wundert sich, dass er auf der Rückbank von einer Ecke in die andere gekegelt wird.
Selbstmotivierung
Die kürzeste Episode aus den Abenteuergeschichten des Freiherrn von Münchhausen ist interessanterweise auch die bekannteste, jene, in der er sich samt Pferd am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht.
Dieses rätselhaft-anziehende Bild provoziert für unseren Zusammenhang die Frage: Was heißt »sich selbst motivieren«?
Es meint nicht, die äußeren Antreiber durch innere zu ersetzen. Es meint nicht den Appell an das moralische Postulat einer von »außen« kommenden Pflicht. Es meint nicht, mithilfe positiver Autosuggestion die graue Realität rosarot einzufärben. Keine Methode des Positiv-Denkens ist gefordert, kein Schönreden als Überlebenstechnik. Es geht vielmehr um Einsicht in die Tatsache menschlicher
Wahlfreiheit. Die Situation, so wie sie jetzt ist, habe ich gewählt und kann sie auch wieder abwählen – und die Konsequenzen daraus tragen. Diese Wahlfreiheit ist die Quelle meiner Selbstachtung. Das bedeutet zunächst: aufhören zu klagen über
|261|Verhältnisse, die nicht immer so sind, wie ich sie mir wünsche. Verantwortung übernehmen für eine kreative Lebensgestaltung, die das Auf und Ab des Lebens bejaht und als Lerngelegenheit für sich nutzt. Eine innere Einstellung, die Leistungsschwankungen als menschlich akzeptiert und nicht zu einem permanenten »Obenbleiben« pervertiert. Selbstmotivierung kann also nur heißen: die Verantwortung für Motivation und Leistungsbereitschaft selbst übernehmen. Das ist die »innere« Sicht. Entscheidung des Unternehmens ist es, in die Wahlfreiheit seiner Mitarbeiter, in die Selbstverpflichtung zu investieren – oder in immer neue Drogen.
Menschliche Wesen sind nicht unabhängig. Aber sie sind frei. Sie sind frei in der Wahl der Bedingungen, Regeln und Alternativen, unter denen sie leben und arbeiten wollen. Und so spielt jeder auf dem Spielfeld, das er selbst gewählt hat. Damit kann er es prinzipiell immer abwählen, wenn auch der Druck der so genannten Sachzwänge diese grundsätzliche Wahlfreiheit oft zu verschütten scheint. Einige Unternehmen sind – mehr als andere – Spielfelder, die die Verantwortung für die eigene Motivation in den Händen des Einzelnen belassen und deren innere Architektur Menschen ernster nimmt als andere. Denen kann er sich zuwenden. Er kann jedoch auch auf seinem
jetzigen Spielfeld Selbstachtung leben und erlebbar machen. Auch diese letzte Wahl trifft jeder selbst.
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