Von der Finanzkrise als Krise des Machbaren
Das Machbare und das Nicht-Machbare
Wer wollte nicht schon immer mal die Universalerklärung für alles Unverständliche finden? Wer hätte nicht schon mal versucht, dem Masterplan des Lebens auf die Spur zu kommen, dem Schicksal, dem Nicht-Wählbaren, das mitunter ein Leben lebenslang bestimmt? Fragen zu klären wie: Warum geschieht gerade dies mir, uns, ihnen? Früher war die Antwort einsilbig: Gott. Wenn die Ernte ausblieb – Gott will uns strafen. Starb jemand zu früh – Gottes Wille. Hatten wir Glück – Gott hat Gnade walten lassen. Dabei spielte eine untergeordnete Rolle, ob Gott tatsächlich aktiv in das Erdenleben eingriff. Der mittelalterliche Mensch verbeugte sich vor dem Göttlichen, dem Unabänderlichen, was ein Mensch ist und wie ihm geschieht.
Damit ist es vorbei. Nietzsches berühmte Formulierung »Gott ist tot« signalisiert das Ende der Bescheidenheit und den Beginn der Moderne. Diese hat sofort ein Personaleinsatzproblem. Wer soll Gottes vakante Stelle besetzen? Wem kann man die Nachfolge zumuten? Wer »macht« jetzt Schicksal? Kandidaten sind nur jene, die nicht Gott sind: die Menschen. Der Tod Gottes nötigt daher die Menschen, die Dinge selber in die Hand zu nehmen. Und sie tun es. Sie machen sich im wahrsten Sinn des Wortes »mächtig« ans Werk. Mit Erfolg: Heute ist alles machbar, alles kann und muss verändert werden, und das Veränderte ist das Verbesserte. Die Umstände werden nun vom Menschen selbst hergestellt. Aber nicht nur die Umstände. Der Veredelungsdrang richtet
|263|sich auch auf die Menschen selbst. Auch sie müssen verbessert werden. Im Zitat: »Wir wollen in diesem Lande Egoismus durch Moral ersetzen, Ansehen durch Rechtschaffenheit, Gewohnheiten durch Prinzipien, Zwang der Tradition durch die Herrschaft der Vernunft, die Verachtung des Unglücks durch die Verachtung des Lasters, die Frechheit durch das Selbstgefühl, die Eitelkeit durch die Seelengröße, die Geldgier durch Edelmut, die so genannte gute Gesellschaft durch gute Menschen.« Wer das schrieb? Das schrieb Robespierre 1794 während der Französischen Revolution. Er wollte den Menschen das Heil aufzwingen; er wollte ein bestimmtes Ideal herbeiführen; er hatte einen heimlichen Plan zur gesellschaftlichen Umgestaltung, den er mithilfe der Guillotine umsetzte.
Nun muss man nicht gleich zur Guillotine greifen, aber die Moderne hat die Machbarkeit oder Regulierung des Lebens auf die Agenda gesetzt. Die Staatsauffassung hat seit dem 19. Jahrhundert Techniken der Lenkung entwickelt und den Bereich des Regierens ausgeweitet auf die Zone der individuellen Lebensführung. Dieser Gesellschaftsentwurf basiert nicht auf Menschen, so wie sie sind, sondern wie sie sein sollen. Die Tendenz zum Machen und die Ausrichtung des Menschen an einem zuvor definierten Ideal wurden zum unhinterfragten gesellschaftlichen Paradigma.
Das Unterlaufen des menschlichen Wollens und die Verschiebung zum Sollen, den Menschen zu seinem und unser aller Glück verbessern und beglücken, also den eigenen Willen durch einen fremden ersetzen – das ist dann auch der Kern des begriffsgeschichtlichen Siegeszugs der »Motivation«: So versuchen Menschen, andere zu regieren; so werden Menschen angehalten, sich selbst zu regieren. Gemeint sind damit Strategien, Taktiken und Kunstgriffe, die Menschen brauchen, um andere Menschen ihrem Ideal ähnlicher zu machen.
Aber diese Selbstermächtigung hat Tücken. Wir können nicht alles regeln, haben nicht alles im Griff und können nicht über alles verfügen. Zum Beispiel verfügen wir über keinen absoluten Anfang. Kein Mensch beginnt ganz von vorne. Wir werden hineingeboren in Vorgegebenes, in Geschichte und Geschichten, in Traditionsströme, in Kultur, in Sprache. Wenn zum Beispiel je
|264|mand, so wie ich, das letzte halbe Jahrhundert in Mitteleuropa sozialisiert wurde, ist er Christ – ob er nun will oder nicht. Er muss dafür weder in die Kirche gehen, noch einer Religion anhängen, noch überhaupt an Transzendentes glauben. Unsere ganze Kultur ist mit Christentum getränkt – das ist vorgegeben, darüber verfügen wir nicht, dem können wir uns nicht entziehen. Wenn Odo Marquard »Zukunft braucht Herkunft« sagt, so kann das aktiv Fordernde daran entfallen: »Zukunft
hat Herkunft«. Kein Mensch kann sich in beliebigem Umfang von seiner Vergangenheit lösen; stets bleibt er überwiegend seine Herkunft. Das vernichtet nicht unsere Möglichkeiten, im Gegenteil, es eröffnet gerade den Spielraum unseres Gestaltens. Und es definiert scharf den Raum unserer Selbstverantwortung. Aber es begrenzt auch die Reichweiten, es bringt das, was zu tun ist, in vernünftige Proportionen. Letztlich ist es die Kürze des Lebens, die uns zuruft: Für Gott mag alles machbar sein, für uns Menschen nicht.
Das gilt umso mehr, wenn wir auf die Folgen menschlichen Machens schauen. Schon Gottfried Benn hielt nicht das Schlechte für das Gegenteil des Guten, sondern das Gutgemeinte. Jeder kennt den Unterschied zwischen Absicht und Wirkung; oft ist die Absicht gut und böse die Wirkung. Wie oft schon missriet die große Weltverbesserung zum Weltunheil? Wie oft schon landete das Geplante im Chaos, das erfolgreich Durchdachte im Misserfolg, war der Sieg ein Pyrrhussieg? Und wie oft schon haben die Kollateralschäden das Ganze zum Desaster gemacht? Alle Interventionen in den Lauf der Dinge haben unbeabsichtigte Spät- und Nebenfolgen, die die angestrebten Ziele – zumindest teilweise – gegenlagern, bisweilen sogar dementieren. Und die Folgen geraten umso mehr außer Kontrolle, je weniger das Machen an natürliche und historische Vorgaben anknüpft.
Das Resultat ist Enttäuschung. Und mit dieser Enttäuschung zu leben ist nicht leicht, wenn uns von allen Seiten »Alles ist möglich!« zugerufen wird. Wie kann man darauf reagieren? Eine Möglichkeit: Wir schreiben die Geschichte um, werten die Vergangenheit ab, um die Gegenwart wenigstens milde auszuleuchten. Oder: Wir greifen in das Füllhorn der
Ausreden. Vor allem aber suchen wir Sündenböcke. Wenn in der Moderne etwas danebengeht, dann ist
|265|das eben nicht mehr Gott, Schicksal, Pech oder sonst wie Unverfügbares. Schon gar nicht eigenes Versagen. Sondern es sind die Menschen, und zwar die
anderen, die Gegen-Macher, die Wider-Sacher, die den Fortschritt zum Guten hintertreiben.
Diejenigen, die die Diskrepanz verschulden zwischen dem, was geplant war, und dem, was tatsächlich eintrat, sind wahlweise die Juden, die Lernunwilligen, die Banken, die Globalisierung, der Kapitalismus, die Konjunktur, der Stand der Sterne. Gleichzeitig erschallt der Ruf nach Umerziehung, Umgestaltung, Reform, nach immer neuen Sicherheiten, Kompensationen, Garantien. Man fordert Institutionen, die dafür sorgen, dass das Schlechte korrigiert wird und schließlich das Gute herauskommt. Und wieder wuchern die Machbarkeitsfantasien.
Wer bei den letzten Zeilen an die Finanz- und Wirtschaftskrise dachte, liegt richtig.
Die Krise – nicht nur des Machbaren
Ökonomische Zusammenhänge zu verstehen ist oft nicht leicht. Mitunter muss man um die Ecke denken, die Absicht von der Wirkung trennen, das Kurzfristige vom Langfristigen. Sobald aber Menschen etwas nicht verstehen, folgen sie ihren moralischen Intuitionen. Dann kann nicht sein, was nicht sein darf. Auch durch die Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Kritik einen interpretatorischen Moraltunnel gefräst, aus dem der Blick nur mühevoll wieder herauskommt. So gab es offenbar eine Absprache, dass Eigenschaften wie »Gier« und »Egoismus« die Hauptschuldigen sind. Vor allem heißt es: Die Banker seien verantwortlich gewesen für die Finanzkrise. Das alles ist ebenso richtig wie falsch. Zunächst trifft der Verweis auf moralisches Fehlverhalten nicht den Kern gelebter Geschäftskulturen. Und Gier hat es zu allen Zeiten gegeben. Gier ist eine wichtige Antriebskraft des Menschen, um zu Wohlstand zu gelangen. Ob man diese Kraft Gier nennen muss oder Gewinnstreben oder Profitsuche, das ist eine Frage richtungspolitischer Sprachverwendung.
Derselben Logik folgt der Versuch, die Zukunft mit Forde
|266|rungen an die Persönlichkeit zu verbessern. Manager sollten sich nicht mehr durch ihre Managementleistung, sondern durch Tugend auszeichnen. Man fordert Anstand und individuelles Maßhalten, das eher für das Amt qualifiziere als gute Ergebnisse. Ist es wahrscheinlich, dass ein solcher Appell gehört und befolgt wird? Wohl kaum.
Aus gutem Grunde nicht: Nichts dient so ideal zur Tarnung eigener Selbstsucht wie die Beschwörung des fortschreitenden Sittenverfalls anderer. Und jeder Praktiker weiß, dass er zur Erhaltung des Unternehmens bisweilen zu Mitteln greifen muss, die im Widerspruch stehen zu hehren Grundsätzen. Die Qualität eines Managers entscheidet sich in Situationen der Entscheidung, des Wettbewerbs, der Krise, wo der Handelnde nicht wissen kann, wie es ausgeht, ob bei einer Naturkatastrophe oder dem Bankencrash. Und was hätte denn der einzelne Banker tun können? Sicher sah er auch, dass die Undurchsichtigkeit der Produkte ihren fiktionalen Charakter verschleierte. Aber er wäre entlassen worden, hätte er sich geweigert, seinen Kunden diese hochverzinslichen Papiere anzubieten. Man musste dran glauben, sonst musste man dran glauben. Ist das Gier? Viele Banker wollten zudem nur im Vergleich mit ihren Kollegen nicht schlecht dastehen. Wer das nicht verstehen kann, der werfe den ersten Stein.
Die Moralisierung hatte jedoch mehrere Vorteile. Zunächst konnte man das Thema externalisieren, von sich weg schieben: Gierig waren ja, wie oben gezeigt, immer die anderen. Zum anderen muss man nicht handeln, kann passiv bleiben: Gegen Allzumenschliches kann man zwar warnend den Finger heben, aber letztlich nichts ausrichten. Wer dennoch etwas tun will, der macht in der Regel die Welt nicht besser, sondern fördert bürokratische Bevormundung. Und auch das dient ja Interessen. Und letztlich musste niemand auf den Gedanken kommen, dass die tiefere Ursache des Desasters etwas anderes war: menschliche Selbstüberhebung.
Kleinere Brötchen backen, die Dinge sich entwickeln lassen, das Machbare bescheiden dimensionieren – das war nicht ehrgeizig genug. Zur wohlfeilen Interpretation gehört folgerichtig auch der Begriff »Marktversagen« – auch das eine interessengeleitete Sicht,
|267|kann man doch mit einer solchen Optik die komplexeren Formen menschlichen Steuerns und Machens ausblenden: politische Interventionen, Fehlanreize, Privilegienvergabe, wissenschaftliche Selbstüberschätzung, fehlendes ordnungspolitisches Denken, vor allem die oft schlechten Konsequenzen von guten Absichten. Und die Planungen in Politik und Wirtschaft sind ja allemal – gut gemeint.
Inzwischen ist die Finanzkrise zur Staatsschulden-(»Euro«)-Krise mutiert und ihre Auslöser, Haupt- und Nebenfolgen sowie Wechselwirkungen zwischen Finanzsystem, Wirtschaft und politischen Akteuren ausgiebig analysiert und in all ihren Facetten diskutiert worden. Ich halte mithin Politikversagen für eine wesentliche Ursache der gegenwärtigen Krise, was kein Freispruch für Wall Street und die Banken einschließt. Deren Fehler waren jedoch strukturell nachgelagert. Die Bonuszahlungen waren nicht die Ursache – sie waren die Konsequenz eines Booms, der durch staatliche Versäumnisse in der Regulierung, Aufsicht, Rechnungslegung, Bilanzierung und Risikobewertung auf den Finanzmärkten entstanden war. Alle Akteure aber einte das Entscheidende: ein Machbarkeitswahn, ein überzogener Optimismus, der an ein Aufwärts ohne Ende, an Berge ohne Täler glaubte und die unvermeidliche Zyklizität vergessen ließ. Alles stand, wie Peter Sloterdijk sagte, unter »Vertikalspannung«.
Schaut man mithin auf den gemeinsamen, gleichsam mechanischen Kern der Ereignisse, dann ist die Krise das Ergebnis eines anreizgetriebenen Mikromanagements, dessen unbeabsichtigte (aber vorhersehbare) Nebenwirkungen immer weitere Eingriffe notwendig machte. Der Interventionismus lässt den Akteuren die Wahl, so oder anders zu handeln. Aber er will ihr Handeln durch Anreize in eine bestimmte Richtung drängen: auf Ziele, die der Interventionist für wünschenswert hält. Dieser Eingriff nötigt die Akteure, etwas zu tun, was sie ohne diesen Eingriff wahrscheinlich nicht getan hätten. Er untergräbt also ihre Rationalität und ersetzt sie durch die Rationalität des Steuernden. Das provoziert Umgehungsstrategien derjenigen, die sich der Gängelung entziehen wollen. Und es provoziert Ausbeutung derjenigen, die sich der Gängelung nicht entziehen, sich aber für ihre Unterwerfung
|268|auszahlen lassen. So kam es zu Hypothekenzinsen, die inflationsbereinigt bei –1 Prozent lagen, so kam es zu den Boni-Exzessen, so kam es zur Ausschaltung des gesunden Menschenverstandes.
Das Machen bewirkt, was es nicht will. Und das gilt, wie gesagt, für beide Bereiche – für Politik und Wirtschaft. Atemberaubend ist nur die Selbstgerechtigkeit von Politikern, die beim Abstecken des Ordnungsrahmens und ihrer Kontrollpflichten versagten, um anschließend dem Markt beziehungsweise den Bankern die Schuld zuschieben. Mehr noch: Wenn heute eine Politik, die die Wirtschaft durch ihr anreizgetriebenes Mikromanagement in den Ruin geschickt hat, die Wirtschaft beschuldigt, sie treibe anreizgetriebenes Mikromanagement, dann ist das nicht ohne Komik: Machbarkeitsfanatiker, die Machbarkeitsfanatiker machbarkeitsfanatisch nennen.
Wir können also erkennen: Der tiefere Grund für die Krise findet sich in einem bis heute vorherrschenden Verständnis von Führung – herrschend in dem Sinne, dass der Kritiker die Beweislast zu tragen hat. Dieses Verständnis geht von der Machbarkeit idealer gesellschaftlicher Zustände und von der Steuerung durch Anreize aus. Dies alles unter konsequenter Ignorierung der Spät- und Nebenwirkungen – nämlich der Korrumpierung menschlichen Verhaltens. Die Finanz- und Wirtschaftskrise lässt sich gleichsam als Fallstudie zu den Zusammenhängen lesen, die ich vor fast 25 Jahren in diesem Buch beschrieben habe. Die Wissenschaft diskutiert diese mittlerweile breit unter dem Begriff »moral hazard«, übersetzt etwa: »Nach uns die Sintflut«, oder auch: »Nicht zu Ende gedacht«.
Nun wirken ja Krisen, wie John Law einst bemerkte, »katalytisch für unorthodoxe Ideen, die in fetten Jahren schlecht ankommen«. Ich will sie nutzen, um die Umrisse eines Gehaltssystems zu skizzieren, das aus Erfahrung klug wurde.
|269|