Ich bin wieder einmal mit Jason in einem Proberaum, aber diesmal sind wir nur zu zweit. Er hat eine riesige Tüte voller fettiger, wunderbar duftender Pommes, und wir lehnen an der Spiegelwand und essen sie und lachen. Plötzlich dreht er sich zu mir um und schaut mir tief in die Augen. »Ich dachte immer, du hast braune Augen, aber von nahem sehe ich, dass sie voller goldener Flecken sind. Ich bin gerne einer der wenigen …«
»ERDE AN RACHEL, AUFWACHEN, RACHEL!«
Hm?
Ich reiße die Augen auf und sehe Juhyuns und Hyeris identische dunkelbraune Augen, die mich von oben herab anstarren.
»O mein Gott, ist alles in Ordnung, Rachel?«, fragt Kyungmi und steckt den Kopf zwischen den Zwillingen hindurch. »Der Tennisball hat dich voll umgehauen.«
Bin ich im Sportunterricht?
Als ich die Handflächen auf den staubigen Tennisplatz stütze und mich vorsichtig aufsetze, höre ich ein seltsames klick, klick, das aus meinem eigenen Kopf zu kommen scheint.
O mein Gott, habe ich bleibende Schäden davongetragen?
Ich drehe mich um und sehe, wie Coach Sloat Kyungmi das Handy aus der Hand reißt. »Verschwinde, Kyungmi. Fünfmal um den Platz!« Sie beugt sich vor, um sich die Beule auf meiner Stirn anzusehen, und schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Du musst auf dem Platz wirklich vorsichtiger sein, Rachel. Am besten gehst du zur Krankenpflegerin.«
»Ich kann sie begleiten!«, sagt Kyungmi, die immer noch ein wenig abseits steht.
»Kyungmi! Lauf! Jetzt!«, ruft die Trainerin.
»Nein, schon okay.« Juhyun bleibt schützend an meiner Seite. »Wir gehen mit ihr hin.«
Hyeri legt mir den Arm um die Schultern, und ich gehe mit den Zwillingen vom Platz.
»Danke«, sage ich, als sie mich durch die Umkleide führen. Ich erhasche einen kurzen Blick auf mein Spiegelbild. Uuh. Meine Augen sehen glasig und verschwommen aus, und meine Stirn ist knallrot. Hoffentlich wird das kein Bluterguss! Ich kann mir schon vorstellen, wie begeistert Mina wäre, wenn ich mit einer violetten Stirn zum Training käme.
»Ich kann nicht fassen, dass ich gerade in Sport umgekippt bin.« Ich schüttele langsam den Kopf.
Juhyun und Hyeri werfen einander vielsagende Blicke zu. »Wir sind nicht gerade überrascht«, sagt Hyeri. »Du bist schon die ganze Woche nicht richtig da.«
»In Botanik, als du deinen Bonsai schneiden solltest und dabei angefangen hast zu singen, und dann konntest du dich nicht an den Text erinnern und warst davon so abgelenkt, dass nachher nichts mehr zum Schneiden übrig war«, sagt Juhyun.
»Oder in der Cafeteria, als du in der Schlange Tanzschritte geübt hast und Daeho sein Mandu Ramyun aus der Hand geschlagen hast? Er hat den ganzen Tag nach Brühe und Schweinefleisch-Dumplings gerochen.« Hyeri lächelt, aber dann schaut sie mich ernst und besorgt an.
»Oder in Darstellendes Spiel, als …«
»Okay, okay«, sage ich. »Ich hab’s verstanden. Mir ging einfach viel im Kopf rum in letzter Zeit. Ihr wisst schon. Mein Training und so.«
Und Jason und so, denke ich, während der dem Tennisball geschuldete Traum vor meinem inneren Auge aufblitzt. Aber den erwähne ich besser nicht.
»Na ja, dann ist es ja gut für dich, dass bald Ferien sind. Da kannst du dich ausruhen, auftanken, an deiner Bonsai-Technik feilen …« Hyeri macht sich einen Spaß mit mir, aber ich höre sie kaum.
Ferien. Umma lässt mich unter der Woche nicht trainieren, selbst wenn keine Schule ist, aber dieses Mal macht mir das nichts aus. Es ist genau das, was ich brauche. Keine Schule, kein Training, keine Verpflichtungen. Ich kann es kaum erwarten, einen ganzen Tag zu Hause zu sein und einfach nichts zu tun.
»Unni, wach auf!« Ich spüre, dass jemand mir einen Finger in die Wange pikt.
Es ist eine Woche später, und ich habe offiziell Ferien. Ich hatte große Pläne: ausschlafen, mit Juhyun und Hyeri Brathähnchen essen und dann vielleicht den ganzen Tag lang My Only Love Song auf Netflix schauen.
Es pikst schon wieder.
Ich stöhne und öffne die Augen. Leah steht in einem karierten Rock und einem cremefarbenen Oversize-Sweater vor mir. Der Pullover sieht dem, den ich mir vergangene Woche gekauft habe, verdächtig ähnlich. Sie klettert zu mir ins Bett und setzt sich auf mich.
»Leah, o mein Gott, nicht reden, okay? Nur schlafen. Sch…« Ich schließe wieder die Augen.
»Unni, bitte wach auf. Es ist wichtig!«
»Leah, nichts ist so wichtig, wie am einzigen freien Tag auszuschlafen. Außer vielleicht, dass einem die kleine Schwester Frühstück ans Bett bringt, in exakt drei Stunden.« Ich lächele, ohne die Augen wieder zu öffnen, und spüre, wie ich schon wieder einschlafe.
»Okay, Unni, dann bis später.« Ich spüre, wie Leah aufsteht, aber irgendetwas an ihrer Stimme nagt an mir.
Ich mache die Augen auf und stütze mich auf die Ellbogen. »Okay, was ist so wichtig?«
Bitte sag, dass es ein Her Private Life-Marathon ist …
»Na jaaaaa …« Leah beißt sich auf die Lippe. »Ich habe bei einem Gewinnspiel gewonnen. Dass wir zusammen etwas machen können.«
»Wirklich? Das hast du ja gar nicht erzählt …«
»Ich wollte es dir ja sagen, aber du warst einfach so beschäftigt mit dem Training und der Schule und …« Sie schweigt, und ich seufze. Die Schuldgefühle ziehen mir das Herz zusammen.
Ich mache die Augen weit auf und setze mein bescheuertstes Grinsen auf. »Na ja, deshalb ist das hier der offizielle Kim-Schwestern-Tag! Wir können machen, was immer du willst.« Leah grinst, und ich greife nach ihren Füßen und kitzele sie, während sie sich windet, um von mir loszukommen. »Also, lass mich nicht so hängen, wo willst du mit mir hin?«
»Ich habe bei dem Preisausschreiben für das NEXT-BOYZ-Fanpaket mitgemacht, und ich habe GEWONNEN!« Sie schnappt nach Luft, weil ich sie schon wieder kitzele. »Kannst du das glauben? Wir gehen zur Autogrammstunde! Heute!«
Meine Hände (und mein ganzer Körper, wenn man es genau nimmt) erstarren, und ich schaue sie mit weit aufgerissenen Augen an und warte darauf, dass sie mir sagt, dass das Ganze nur ein Scherz war. Stattdessen springt sie kreischend vom Bett und tanzt wie wild durch mein Zimmer.
Sie meint es ernst. Natürlich meint sie es ernst. Wir sprechen hier schließlich von Leah, der zukünftigen Mrs. Jason Lee.
»Nein«, sage ich. »Auf keinen Fall. Nein, das machen wir nicht.«
Leah bleibt stehen. »Warum? Du hast gesagt, wir können machen, was immer ich will!«
Ich schüttle den Kopf. »Was du willst, außer das. Komm schon, Leah. Ich kann nicht zu einer NEXT-BOYZ-Autogrammstunde gehen!«
»Warum nicht?«
Mir fallen spontan etwa eine Million Gründe ein. Grund Nummer eins ist, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich Jason öfter sehen will, als es sein muss. Immer, wenn er da ist, flattert es so komisch in meinem Magen, und je mehr ich ihn sehe, desto öfter könnte ich dieses Gefühl haben. Oder schlimmer: Es könnte stärker werden. Ich will das nicht riskieren. Nicht jetzt – nicht, wenn ich so kurz vor meinem Debüt stehe. Jason nimmt ohnehin schon viel mehr Raum in meinen Gedanken ein, als ich je zugeben würde. Wenn ich etwas tue, das mit ihm zu tun hat, dann müsste das ein Jason-Entzug sein. Aber das kann ich Leah auf keinen Fall sagen. Mein schlechtes Gewissen ist schon groß genug. Ich kann nicht auch noch auf meine Liste der Dinge, mit denen ich Leah in letzter Zeit enttäuscht habe, schreiben, dass ich ihr ihren Schwarm geklaut habe.
»Es ist peinlich«, sage ich schließlich. »Ich bin Jasons Gesangspartnerin, kein kreischender Fan.«
»Ja, ich habe mir schon gedacht, dass du das sagst«, sagt Leah ernst. Ihre Mundwinkel zucken, und ich sehe genau, dass sie ein verschmitztes Lächeln unterdrückt. »Aber hatte ich schon erwähnt, dass die Autogrammstunde im Style Dome stattfindet?«
Heilige Scheiße.
Style Dome ist Seouls neuestes Modegeschäft, und man kommt nur rein, wenn man eine Einladung hat. Es wurde erst letztes Jahr eröffnet, und man muss sich jetzt schon ein Jahr im Voraus auf die Warteliste schreiben, wenn man dort einkaufen will. Ich habe gehört, dass selbst Kang Jina zwei Wochen auf einen Termin warten musste. Die Kleider sind angeblich eine Mischung aus Haute Couture, High Fashion und Vintage, in jeder Preislage und jedem Stil. Nur der Gedanke daran, diesen Laden zu betreten, lässt meine Finger verzweifelt nach einer Serviette zum Kritzeln kribbeln.
»Ich meine, wenn du wirklich nicht hingehen willst, können wir unsere Plätze einfach abgeben …« Leah tritt wieder an mein Bett, und jetzt versteckt sie ihr Grinsen nicht mehr.
»Denk nicht mal dran, du kleiner Teufel!«, rufe ich, schnappe sie mir und ziehe sie zu mir ins Bett. »Ich schätze … wir können hingehen. Aber nur, weil ich die beste Schwester der Welt bin, verstanden?«
Leah schreit auf und schlingt begeistert die Arme um mich. »Ja, ja, ja, du bist die Beste! Ich kann nicht glauben, dass ich Jason treffen werde!«
Und ich kann nicht glauben, dass ich Style Dome von innen sehen werde.
Drei Stunden später sind wir beide etwas weniger aufgeregt. Es war noch dunkel, als Leah und ich die Wohnung verlassen haben – etwas, das ich nicht bemerkt hatte, als sie mich um vier Uhr geweckt hatte. Aber, das sagt jedenfalls Leah, selbst wenn man einen festen Platz bei einer Autogrammstunde hat, muss man unbedingt vor Sonnenaufgang wach sein, weil es nicht reicht, einfach nur dort zu sein. Man muss auch ganz vorne in der Reihe stehen, wenn man ankommt.
Eine Handvoll Leute stehen bereits an, als wir beim Style Dome ankommen, und wir stellen uns auf eine lange Wartezeit ein, aber Leah ist so müde, dass sie immer wieder einnickt und ihr Poster fallen lässt – ein riesiges, selbst gebasteltes Plakat mit einer Zeitleiste, die Jasons Entwicklung vom kleinen YouTuber in Toronto bis hin zur weltweiten K-Pop-Sensation zeigt. Es ist voller Glitzer, rosa Washi-Tape und handgeschriebener Notizen.
»Komm, ich halte das mal für dich«, sage ich und nehme ihr das Poster ab.
»Danke, Unni.« Sie unterdrückt ein Gähnen, und ihr fallen die Augen zu.
Die Schlange hinter uns wird länger, und ich werfe einen Blick auf die Uhr. Immer noch eine Stunde, bevor die Autogrammstunde beginnt. »Ich hole uns mal was zu trinken bei dem Café da hinten«, sage ich und zeige auf die andere Straßenseite. Vielleicht weckt sie ein bisschen Zucker ja etwas auf. »Gleich wieder da, okay?«
Sie nickt mit halb geschlossenen Augen.
Ich sprinte über die Straße, mit dem Poster in der Hand. Als ich das Café betrete, schaue ich mich misstrauisch um. Das Letzte, was ich brauche, ist, dass Goo Kyungmi irgendwo auftaucht und ein Foto von mir mit einem riesigen Jason-Lee-Fan-Poster macht. Glücklicherweise ist die Luft rein. Nur ein paar kaffeetrinkende Gäste und ein Angestellter, der den Boden wischt.
Ich bestelle einen Iced Coffee für mich und ein Erdbeer-Sahne-Frappé für Leah. Gerade als ich zur Seite trete, um auf meine Bestellung zu warten, will jemand mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze an mir vorbeilaufen und stößt mit mir zusammen. Ich rutsche auf dem frisch gewischten Boden aus, und das Poster fällt mir aus der Hand, als ich sie nach der Theke ausstrecke, um mich abzustützen.
»Alles okay?«, sagt eine Stimme hinter mir. Moment. Nicht irgendeine Stimme.
Ich hebe den Kopf und sehe, wie Jason auf mich herabschaut. »Rachel?«, fragt er ungläubig und schiebt sich die Kapuze aus dem Gesicht.
»Hey.« Ich lächele ihn an und versuche, das Poster unauffällig mit dem Fuß hinter mich zu schieben, aber er ist natürlich schneller.
»Komm, ich hebe das für dich auf«, sagt er und bückt sich nach dem Poster. Er dreht es um, und auf seinem Gesicht breitet sich ein selbstgefälliges Lächeln aus.
»Ist das für mich?«, fragt er begeistert. »Selbst gebastelt von der Rachel Kim?«
Das darf doch nicht wahr sein.
Ich reiße ihm das Poster aus der Hand und bemerke einen Riss an der unteren Kante. »Ich … Das ist nicht …«, stammle ich und rede mir dabei fast einen Knoten in die Zunge. »Es gehört meiner Schwester. Sie hat es gebastelt. Und sie ist mit mir zusammen hier! Ich meine, ich bin mit ihr hier. Ich wäre nicht hier, wenn sie nicht hier sein wollte. Es sind Ferien, und ich habe gesagt, dass ich mitkomme.«
O Gott. Warum kann ich nicht aufhören zu plappern?
»Also, ja. Hast du verstanden? Lass uns die wichtigsten Punkte noch mal durchgehen, damit du es auch sicher verstehst. Das Poster gehört meiner kleinen Schwester. Ich bin nur wegen ihr hier, und jetzt ist es kaputt, und sie wird so …«
»Bestellung Nummer siebzehn!«, ruft die Barista.
Meine Rettung. Ich drehe Jason den Rücken zu und greife nach meinen Getränken. Das Poster habe ich mir unter den Arm geklemmt.
Jason grinst. »Na ja, ich muss jetzt los zur Autogrammstunde. Ich sehe dich dann dort?« Er zwinkert mir zu und joggt aus dem Café.
Ich gehe zurück zur Schlange und sehe, dass Leah von einer Traube Mädchen umringt ist. Ich lächle, weil ich denke, dass sie sich mit ihnen angefreundet hat, aber als ich näher komme, sehe ich, dass Leah die Arme vor der Brust verschränkt hat und aussieht, als würde sie gleich anfangen zu weinen. »Wenn deine Schwester wirklich die beste Nachwuchskünstlerin bei DB ist, wie du immer sagst, warum musstet ihr dann zu einer Autogrammstunde kommen, um Jason Lee zu treffen?« Die Gruppe bricht in wildes Kichern aus, und Leahs Gesicht wird knallrot. »Deine Schwester ist wahrscheinlich die Schlechteste, deshalb halten sie sie von echten Stars wie Jason fern.«
Ich bin schon fast bei Leah, als ich das bekannte, herzförmige Gesicht wiedererkenne. Die Mädchen, die bei uns zu Besuch waren. Mir rutscht das Herz in die Hose.
Ich marschiere auf Leah zu, balanciere die Getränke in einer Hand und lege die andere auf Leahs Schulter, um sie weiterzuschieben. Mit einem Lächeln wende ich mich Herzgesicht zu. »Die Schlange bewegt sich. Ihr Mädchen geht jetzt besser wieder zurück an euren Platz – ganz hinten.«
Sie starrt mich böse an, aber sie setzt sich in Bewegung. Dann dreht sie sich um. »Ach übrigens, Leah, vielen Dank, dass du uns von dieser Autogrammstunde erzählt hast. Zu schade, dass niemand von uns mit dir hingehen wollte – auch wenn ich es mir vielleicht noch einmal überlegt hätte, wenn ich gewusst hätte, dass du keine anderen Freunde hast und sonst deine Schwester fragen musst!« Sie wirft lachend den Kopf zurück und rennt zu ihren Freundinnen.
Ich schaue hinunter in Leahs niedergeschlagenes, tränenverschmiertes Gesicht. »Leah«, sage ich zögernd, aber sie schaut mich nicht an und marschiert stattdessen schnurstracks in Richtung der großen Tür des Style Dome. Ich folge ihr, und die Bedeutung dessen, was gerade passiert ist, wird mir schmerzlich bewusst. Es fühlt sich an, als hätte mir jemand einen Rucksack voller Backsteine auf den Rücken gepackt. Leah war noch zu jung, um in New York einen richtigen Freundeskreis zu haben, aber ich weiß, dass der Umzug nach Korea es ihr nicht leichter gemacht hat. In der Schule wissen alle, wer Leah ist, weil sie wissen, wer ich bin – die von Gerüchten umwobene DB-Nachwuchskünstlerin, der zukünftige K-Pop-Star. Die eine Hälfte von ihnen will deshalb nichts mit ihr zu tun haben (K-Pop-Berühmtheit, eigentlich jede Art von Berühmtheit ist viel zu neureich für die meisten Snobs an unserer Schule), und die andere Hälfte will nur deshalb etwas mit ihr zu tun haben. Ihnen geht es darum, als Erstes die neuesten K-Pop-Gerüchte zu erfahren oder Verschwörungstheorien über mich auszutauschen.
Ich bekomme kaum mit, wie sich die Schlange vorwärtsschiebt, bis ich den Style Dome betrete. Als ich aufschaue, ist Leahs Streit mit den Zicken aus der Schule wie weggeblasen. Ein riesiger Aufzug aus Glas und Bambus nimmt die Mitte des Geschäftes ein, das sich sieben Stockwerke hoch zu einem riesigen Glasdach erhebt. Jedes Stockwerk ist in einer anderen Farbe gehalten, von Weiß im Erdgeschoss zu Schwarz im siebten Stock. Um uns herum hängen Kleider über Kleider, ein perfekter Übergang von cremefarben über Elfenbein bis hin zu einem blendenden, fluoreszierenden Weiß, so hell, dass ich kaum hinschauen kann.
Ich möchte mir alles anschauen. Jedes einzelne Kleidungsstück.
Ich bin so abgelenkt, dass ich gar nicht bemerke, dass wir schon an der Reihe sind. Direkt vor dem Aufzug steht ein Tisch, bedeckt mit einem weißen Seidentischtuch mit Puscheln, dahinter Plexiglasstühle.
Minjun bemerkt mich als Erster. Er tippt Jason auf die Schulter. »Du hast uns gar nicht gesagt, dass deine Freundin auch kommt.«
Jason grinst breit, hebt die Hand und winkt mit allen Fingern.
»Na, hallo, meine loyalen Fans. Was für ein Zufall.«
Leahs ganzer Körper vibriert neben mir, und sie stößt mir fest den Ellbogen in die Seite. Als ich sie anschaue, sehe ich, dass sie so begeistert lächelt, dass man ihre Backenzähne sieht. Sieht ganz so aus, als hätte sie die Zicken vergessen.
»Autsch!« Ich reibe mir die Seite.
Sie ignoriert das. »Unni, schnell, schnell, gib mir mein Poster!« Sie zerrt an meinem Arm.
»Ähm … Wegen des Posters …« Ich halte das Poster so, dass man den Riss sieht, und lasse den Kopf hängen. »Das ist im Café passiert. Es tut mir wirklich leid, Leah.«
Eine Sekunde lang verschwindet ihr Strahlen, aber dann kommt es zurück, und sie drückt mir die Hand. »Schon okay, Unni. Das war doch keine Absicht. Und außerdem« – sie zieht eine Rolle Washi-Tape aus der Tasche ihres Rockes – »bin ich gut vorbereitet.«
Sie klebt den Riss in Windeseile und klatscht das Poster vor Jason auf den Tisch. »Jason Oppa, das hier ist für dich. Ich wollte dir zeigen, wie weit du es seit deiner YouTube-Zeit gebracht hast und wie du die ganze Welt begeisterst, mit deinem Gesang und deinem wunderschönen Haar.« Sie legt die Hände unterm Kinn zusammen und strahlt ihn an. »Ich bin dein größter Fan!«
Jason schaut sich jede Ecke des Posters genau an. »Ich liebe es«, sagt er voller Staunen. »Du hast sogar einen Sticker von den Toronto Raptors draufgeklebt! Ich muss unbedingt ein Foto damit machen.«
Er zieht sein Handy aus der Tasche und macht ein Selfie mit dem Poster. Dann winkt er Leah zu sich. »Können wir ein Bild zusammen machen?«
Leah schnappt nach Luft und zeigt mit dem Finger auf sich selbst. »Ein Selfie? Mit mir?!«
Sie eilt auf die andere Seite des Tisches und stellt sich neben Jason, dann hält sie ein Fingerherz hoch, während er ein Selfie nach dem anderen macht. Ich stehe daneben und schaue zu. Mir wird ganz warm ums Herz. Ich hatte nicht besonders viel Zeit für Leah, seit ich angefangen habe, den Song mit Jason zu proben, und sie sieht jetzt gerade sehr glücklich aus – alleine dafür hat sich dieser Ausflug gelohnt.
Natürlich wäre er noch besser, wenn ich mir ein paar von diesen Kleidern anschauen könnte, wo ich schon mal hier bin.
Ich will mich gerade davonschleichen, als Leah sich zu mir umdreht und sagt: »Unni, darf ich mir dein Handy ausleihen? Ich habe meins heute Morgen vergessen, und ich hätte auch gerne ein paar Fotos.«
Ich reiche ihr mein Handy, und sie machen noch ein paar Fotos. Es ist mir richtig peinlich, als Leah anfängt, Gesichtsausdrücke vorzuschlagen, die sie und Jason dann zusammen machen (»Überraschtes Gesicht! Divagesicht! Jetzt das Jason-Lees-größter-Fan-Gesicht«), aber Jason macht einfach, was sie sagt, und schmunzelt. Dann dreht er sich zu mir um. »Hey, komm her. Wir sollten ein Foto von uns dreien zusammen machen.«
»Ich? O nein. Nein, danke.« Ich schüttle den Kopf und weiche noch weiter zurück. »Das hier ist Leahs Tag.«
»Ich will aber ein Foto von uns dreien!«, quietscht Leah.
»Siehst du?«, fragt Jason. »Leah will ein Foto von uns dreien, und es ist Leahs Tag.«
Sie nickt wissend. »Er hat recht. Es ist Leahs Tag, und ich bin Leah.« Sie rennt zu mir und greift nach meinem Arm, dann positioniert sie mich zwischen Jason und ihr. Jason gibt mir mein Handy zurück und macht ein Selfie mit seinem. Leah strahlt über das ganze Gesicht, sie hat jetzt beide Hände zu einem Herz geformt. Ich lächle, so gut ich kann, aber Jason so nahe zu sein bringt mein Herz zum Rasen. Genau das wollte ich vermeiden.
Sein Arm berührt meinen, und ich werfe vorsichtig einen Blick zu ihm hinüber, nur um ihn dabei zu erwischen, wie er mich ebenfalls anschaut. Er lächelt. In meinem Magen flattert es.
Scheiße. Jetzt rast mein Herz nicht mehr, es ist kurz davor, mir aus der Brust zu fliegen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Minjun uns grinsend beobachtet, und schaue schnell wieder weg.
»Okay, das sind jetzt genug Selfies«, sage ich ein bisschen zu laut.
»Ich schicke sie dir«, sagt Jason. »Komm, wir speichern unsere Nummern.« Ich zögere, und er hebt die Augenbrauen. »Wir sollten wirklich unsere Telefonnummern haben. Wir arbeiten zusammen.«
Er hat irgendwie recht. Trotzdem verdrehe ich die Augen, als ich mein Handy entsperre und es ihm gebe.
Hinter uns in der Schlange wird ein Mädchen mit grünen Haaren laut: »Ihr seid nicht die Einzigen, die Jason sehen wollen, wisst ihr?«, sagt sie, sichtlich verärgert.
»Ja, wir wollen ihn auch treffen!«, meldet sich jemand in einem schwarzen NEXT-BOYZ-T-Shirt zu Wort.
Ihre Freundin, die das gleiche T-Shirt in Weiß trägt, begegnet meinem Blick und schaut mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Moment, ist das nicht Rachel Kim … aus dem Video? Die, die mit Jason gesungen hat!«
»O mein Gott, du hast recht«, sagt das schwarze T-Shirt. »Rachel, ich liebe deine Stimme!«
Ich werde rot. Ich bin gerade zum ersten Mal erkannt worden! »Danke sch…«
»Kann ich ein Bild mit dir und Jason machen?«, fragt das weiße T-Shirt.
»Wartet, ich will auch ein Foto!«, schreit das Mädchen mit den grünen Haaren.
»Rachel, Rachel! Wir lieben dich!« Die Menge stürmt auf uns ein, auf allen Seiten rufen Leute meinen Namen. Ich lächle angespannt, mache einen Schritt hinter den Autogrammtisch und lege den Arm um Leah.
»Ist diese Tusse wirklich Jasons Freundin?«, ruft jemand anderes.
»Du bist nicht hübsch genug für ihn!«, schreit eine andere.
Wow. Das war für ungefähr zwei Sekunden cool, mittlerweile ist es ziemlich überwältigend. Die Menge drängt sich immer dichter um den Tisch, Hände grapschen nach uns, und dann springt Jason auf. »Hey, langsam, Leute. Zurück, bitte!«
Seine Worte versinken im Chaos. Ein Mädchen kommt uns nahe genug, um Leah ihr Poster aus der Hand zu reißen. »Hey!«, schreie ich und versuche, es zurückzuholen, aber das kann ich vergessen. Überall sind Menschen.
Dann kommt endlich das Security-Team der NEXT BOYZ, formt einen Ring um Leah und mich und führt uns durch die immer noch kreischende Menge. Ich schaue zurück zu Jason, der niedergeschlagen und traurig aussieht, obwohl unzählige Mädchen seinen Namen kreischen. Dann sind wir draußen.
»Das war ja verrückt«, sagt Leah, als wir auf dem Weg zur U-Bahn sind. Sie strahlt immer noch vor Aufregung. »Ich kann nicht fassen, dass dieses Mädchen mein Poster geklaut hat.«
»Bist du nicht sauer deswegen?«
»Was? Nein! Es war einfach toll. Wir haben einen Aufruhr bei einer Autogrammstunde ausgelöst!«
Blutrausch trifft es wohl eher. Ich greife nach ihrer Hand. »Komm, Leah, wir gehen nach Hause.«
Abends liege ich im Bett und versuche wiederholt erfolglos, mich auf meinen Botaniktext zu konzentrieren – eine Klassenfahrt nach Jeju Island steht an, und nur die, die über neunzig Punkte bekommen, dürfen mit –, als eine Kakao-Nachricht mich noch mehr ablenkt. Von jemandem namens Sweet Coffee Boy.
Jason.
Ein Teil von mir möchte die Nachricht löschen und das Handy weglegen, aber meine Hand macht sich selbstständig, öffnet die Nachricht und scrollt durch die Selfies, die er mir gerade geschickt hat. Ungefähr tausend von ihm und Leah und dann eine ganze Serie von uns dreien. Ein riesiges, bescheuertes Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus.
Für Leahs nächstes Poster ;)
Ich lächle. Ich freue mich schon darauf, ihr morgen die Bilder zu zeigen.
Noch eine Nachricht.
O und …
Ein weiteres Foto. Mir stockt der Atem. Unsere Gesichter füllen den gesamten Bildschirm aus. Es ist ein Selfie, das er genau in dem Moment gemacht haben muss, in dem wir uns angeschaut haben. Seine Lippen sind zu einem Lächeln geformt, meine vor Überraschung geöffnet, weil ich gerade seinem Blick begegnet bin. Mein Finger schwebt über dem Lösch-Icon. Ich weiß, dass ich dieses Bild nicht behalten sollte – wozu sollte das auch gut sein? Was, wenn es jemand sieht und denkt, dass zwischen uns etwas läuft? Was definitiv nicht der Fall ist! Es ist das Risiko einfach nicht wert. Aber dann erscheint noch eine Nachricht.
Das letzte ist nur für dich. Gute Nacht, Werwolfmädchen.
Bevor ich es selbst merke, hat sich ein Lächeln auf meine Lippen geschlichen.