Side-Step, Hip-Pop, Slide und … Nein. Hip Pop, Slide und Side-Step nach rechts … oder nach links? Ich puste mir eine Strähne aus dem Gesicht und starre mich im Spiegel des Trainingssaales an. Das ist einer der leichtesten Schritte in der ganzen Choreo, warum also fällt er mir so schwer?
Der Raum steht jeden Freitagnachmittag für eine freie Probezeit zur Verfügung. Normalerweise bin ich zu lange in der Schule und kann das nicht ausnutzen, aber der Fahrer der Zwillinge hat angeboten, mich auf dem Weg zum Shopping in Gangnam abzusetzen. Der Raum ist voller Trainees, auch Mina ist da, die hinten herumhängt und mit Eunji und Lizzie tratscht. Ich höre ihr lautes Lachen und schaue über meine Schulter. Ich begegne ihrem Blick, schaue aber schnell wieder weg. Ich möchte heute mit niemandem sprechen, ich möchte einfach nur diesen Move perfektionieren.
Ich fange wieder von vorne an, beobachte mein Spiegelbild und sehe nur Jaehyun, unseren Cheftanztrainer, der mich mit missbilligendem Blick beobachtet.
»Völlig falsch«, hat er bei unserer letzten Probe geschrien. »Wie schaffst du es nur, einen derart leichten Move zu versauen? Ich weiß wirklich nicht, was Yujin in dir sieht. Noch mal!«
Ich habe stoisch geradeaus geschaut und mich geweigert, seine Stimme zu der Symphonie aus grober Kritik, die in meinem Kopf auf Dauerschleife läuft, hinzuzufügen. Stattdessen fing ich von vorne an, mit aller Energie, die ich aufbringen konnte. Er schaltete fast sofort die Musik ab.
»Nein. Schon wieder falsch. Ich sehe, wie du viel zu viel darüber nachdenkst, bevor du den ersten Schritt machst. Von vorne.«
Ich holte tief Luft und versuchte, nicht die Zähne zusammenzubeißen. Aber Jaehyun bemerkte meine Frustration trotzdem.
»Hör zu, wenn das hier zu schwer für dich ist, kannst du gerne nach Hause gehen«, sagte er, nachdem er die Musik schon wieder abrupt ausgeschaltet hatte und zu mir herübergestürmt war. »Denkst du, diese Einstellung macht dich zu einer besseren Tänzerin? Beweg jetzt verdammt noch mal deinen Arsch und streng dich an. Wenn du nicht mal diese Schritte hinbekommst, wirst du es nie schaffen.«
Ich kriege seine Stimme einfach nicht mehr aus dem Kopf. Es ist wie ein schreckliches Karussell, das sich immer weiterdreht – je mehr ich mich darauf konzentriere, desto schlimmer wird es, und je schlimmer es wird, desto mehr versuche ich, mich zu konzentrieren. Ich lasse mich auf den Boden fallen und starre mein verschwitztes Spiegelbild böse an. Ich sehe, dass Mina mich beobachtet, aber irgendwie kommt es mir vor, als sei ihr Gesichtsausdruck nicht so verächtlich wie sonst. Sie sieht eher … verärgert aus, und vielleicht … mitleidig?
Ich schlage die Hände vors Gesicht. Ich muss wirklich schlimm aussehen, wenn ich sogar Mina leidtue. Es sieht fast so aus, als wolle sie zu mir herüberkommen, aber dann öffnet sich die Tür des Proberaumes.
Alle erstarren, als Mr. Han hereinkommt, und die Trainees fangen sofort an, miteinander zu flüstern.
»Was macht denn einer vom Management in der offenen Trainingsstunde im Proberaum?«
»Ich wette, Mr. Noh hat ihn geschickt, um seine Drecksarbeit zu machen.«
»Meinst du, er ist hier, um jemanden rauszuschmeißen?«
»Sumin sieht in letzter Zeit ein bisschen schlampig aus …«
Lizzie richtet sich auf. Sie wickelt eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger und schlägt ihre großen, doppellidrigen Augen nieder. Ich kann es ihr nicht verdenken. Mr. Han ist sozusagen der Chris Hemsworth Koreas. Es würde mir schwerfallen, mir vorzustellen, dass er mit lauter alten, faltigen Männern in Anzügen herumhängt, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte.
Er schreitet durch den Raum – als hätte er keine Ahnung, dass die eine Hälfte über ihn redet, während die andere ihn anschmachtet – und bleibt direkt vor mir stehen. Ich erstarre. Moment – ist er etwa meinetwegen hier? Das Flüstern verebbt, und alle schauen uns zu. Sie geben sich nicht einmal die Mühe, ihr Lauschen zu verbergen.
»Hallo, Rachel«, sagt Mr. Han fröhlich. Er beugt sich vor und senkt die Stimme. »Ein Anruf von deiner Mutter im Büro.«
Ich zucke zusammen. »Ist alles in Ordnung?«
»Oh, ja, alles okay. Es hört sich an, als wolle sie einfach nur wissen, wann du zum Abendessen nach Hause kommst.«
Gekicher breitet sich im Raum aus.
Ich weiß nicht, welches meiner Gefühle in diesem Moment stärker ist: der Wunsch, den Proberaum zu verlassen und nie mehr wiederzukommen, oder der, ins Büro zu gehen und das Telefon aus dem Fenster zu werfen. Auf dem DB-Campus sind keine Handys erlaubt, also rufen unsere Eltern im Büro an, wenn sie uns erreichen müssen.
Nicht, dass andere Eltern das je machen würden. Es ist in etwa so, als würden sie öffentlich verkünden, dass sie einen immer noch wie ein kleines Kind behandeln. Es ist schon schlimm genug, dass ich zu Hause wohne, wenn alle anderen in meinem Alter im Nachwuchshaus wohnen und Vollzeit trainieren. Das hier ist die perfekte Ausrede für Mina und ihre Zofen, mich wochenlang zu quälen.
Ich schleiche hinter Mr. Han her und versuche, niemandem ins Gesicht zu schauen. Als ich an ihr vorbeigehe, höre ich Eunji flüstern: »Kommt schon Leute, ist doch süß. Ihre Mom will wahrscheinlich nur wissen, ob sie heute schon brav Aa gemacht hat.« Mein Gesicht glüht.
Mr. Han bleibt an der Tür kurz stehen und lächelt Mina an, die das Lächeln rasch erwidert. Lizzie hebt vielsagend die Augenbrauen, und Mina winkt ab. »Er ist ein Freund meines Vaters. Er war letzte Woche bei uns zum Essen«, sagt Mina, als wir zur Tür hinausgehen.
»Ähm, danke, dass Sie mich geholt haben, Mr. Han«, sage ich und folge ihm den Gang entlang. »Ich hoffe, ich habe nichts Wichtiges unterbrochen.«
»Überhaupt nicht, Rachel«, sagt Mr. Han. »Ich war nur zufällig im Büro, als deine Mutter angerufen hat, und ich dachte, ich besuche dich mal. Keine Sorge, ich verstehe schon«, fügt er hinzu und wirft einen Blick zurück zum Proberaum. »Ich habe auch eine sehr nervöse Mutter. Sie ruft mich gerne fünfmal am Tag an. Ich sage ihr immer wieder, sie soll lieber eine SMS schreiben, aber dann beschwert sie sich nur, dass die Buchstaben auf ihrem Handy zu klein sind. Wo wir gerade dabei sind«, sagt er und schiebt seinen Ärmel hoch, um einen Blick auf die Uhr zu werfen, »der nächste Anruf müsste bald kommen.« Er lächelt mich an, und ich lächle zurück, während ich mir seine Uhr genauer anschaue. Sie sieht alt aus, das Leder des Armbandes ist ganz glatt und hat genau die richtige Patina.
»Was für eine tolle Uhr, Mr. Han«, sage ich.
Er schaut wieder auf das Zifferblatt und lächelt. »Danke. Sie hat meinem Großvater gehört. Er hat sie mir geschenkt, als ich seine Position beim DB-Management eingenommen habe.« Er dreht sein Handgelenk zu mir. »Siehst du die Rubine, die das Ziffernblatt umgeben?« Ich nicke. »Die hat er extra einsetzen lassen, damit sie unsere Familientradition verkörpern … ›Es gibt keine zweite Familie wie die Hans‹, hat er immer gesagt. Aber ich verrate dir ein Geheimnis.« Er winkt mich näher zu sich. »Ich glaube, er ist einfach nur ein fanatischer Fußballfan.« Er legt lachend den Kopf in den Nacken, und ich lache mit. An einen Manager wie Mr. Han könnte ich mich gewöhnen.
»Also, wie geht es dir mit der Kostümprobe am Sonntag?«, fragt er. Er zieht vielsagend die Augenbrauen hoch. »Der gesamte Nachwuchs, alle Trainerinnen und Trainer und das komplette Management werden da sein, um zu sehen, was ihr drei für Fortschritte gemacht habt. Bist du bereit?«
Jaehyuns verächtlicher Gesichtsausdruck zuckt mir durch den Kopf. »Nicht wirklich«, gebe ich zu. Ich frage mich, ob ich je bereit sein werde, wenn es so weitergeht. Ein entsetzter Schauder läuft mir den Rücken herunter.
»Einfach weiterüben«, sagt er ermutigend. »Du schaffst das schon.«
Ich lächle schwach. Ich hoffe wirklich, dass er recht hat.
Am nächsten Morgen versuche ich, mich innerlich auf das Tanztraining mit Mina einzustellen. Ich freue mich nicht wirklich darauf, Jaehyun wiederzusehen, aber früher oder später werde ich mich ihm stellen müssen, wenn ich diese Schritte je beherrschen will.
Ich bleibe an der Tür stehen, bis die Probe anfängt, weil ich niemandem begegnen will, aber als ich vorsichtig den Kopf in den Raum stecke, sehe ich, dass niemand da ist, außer Mina, die sich vor dem Spiegel dehnt. Sie wirbelt herum, als sie mich sieht, und stemmt die Hände in die Seiten.
»Wird auch Zeit, dass du kommst«, sagt sie. »Na los, fangen wir an.«
Ich lasse meine Tasche auf den Boden fallen und runzle die Stirn. »Wo ist Jaehyun? Und die ganzen anderen Trainer?«
»Massage und Hydro-Tub im Luxus-Jimjilbang die Straße runter«, sagt Mina. Als ich skeptisch die Augenbrauen hochziehe, wedelt sie abwehrend mit der Hand. »Ich dachte, es wäre gut für uns, ein bisschen alleine zu üben, also habe ich dafür gesorgt, dass mein Dad ihnen ein Geschenk schickt, weil sie ›sein kleines Mädchen so wunderbar unterstützen‹. Sie fressen ihm aus der Hand.«
»Aber … warum?« Ich versuche nicht einmal, mein Misstrauen zu verbergen, und gehe zwei Schritte rückwärts in Richtung Tür. »Ich verstehe das nicht.«
Mina seufzt. »Du willst es wirklich so schwer wie möglich machen, oder? Hör zu. Wir wissen beide, dass du Probleme mit der Choreo hast. Und ich habe es nicht besonders leicht mit dem Gesang. Also hatte ich eine Idee.« Sie kommt jetzt zu mir, so dass wir uns gegenüberstehen. Ich lasse eine Hand am Türgriff, falls sie irgendetwas Seltsames vorhat, aber als sie weiterspricht, klingt ihre Stimme ernst und sogar ein bisschen aufgeregt. »Ich dachte, wir könnten doch einfach ein paar Abschnitte tauschen? Also, du könntest die Strophe singen, mit der ich Probleme habe, und ich tanze den Teil, der bei dir nicht klappt. Davon haben wir alle was.«
»Äh, ja, alle außer die Trainer und das Management, die völlig außer sich vor Wut sein werden, wenn wir uns ihren Entscheidungen widersetzen«, sage ich. »Komm schon, Mina, glaubst du wirklich, ich gehe dir so leicht in die Falle? Es ist viel zu offensichtlich. Du hast mir was in den Sekt getan. Du hast versucht, mein Casting zu versauen. Und dann hast du meiner Mutter das Video geschickt?! Wir wissen beide, dass ich es nicht beweisen kann, aber du kannst mir nicht erzählen, dass du wirklich glaubst, ich bin naiv genug, um auf einen derart lahmen Trick hereinzufallen. Woher soll ich wissen, dass du nicht nachher dem Management erzählst, ich hätte dir was ins Getränk getan und dich gezwungen, meine Schritte zu tanzen? Also … lass mich einfach in Ruhe.«
Sie verdreht die Augen, aber ich sehe, wie sich ihre Wangen ein bisschen röten. »Okay, ja, das alles habe ich getan. Super. Du hast recht. Ich werde mich nicht dafür entschuldigen …«
»Was für eine Überraschung«, schnaube ich.
»Aber ich verspreche dir, dass ich jetzt nicht versuche, dich zu hintergehen. Ich weiß, dass anfangs alle sauer sein werden, aber dann sehen sie garantiert, dass es so am besten ist, wenn sie unsere Probe sehen. Wie haben so verdammt hart trainiert, warum können wir nicht eine winzige Änderung vornehmen, so dass wir beide unsere Stärken ausspielen können?«
Sie hat nicht unrecht.
»Bitte.« Mina schlägt die Hände zusammen. »Können wir es wenigstens ausprobieren?«
Ich zögere. Zum ersten Mal bemerke ich, wie müde sie aussieht. Der gewohnte Glanz ist aus ihren Augen verschwunden, stattdessen zeichnen sich darunter dunkle, geschwollene Ringe ab. Außerdem massiert sie immer wieder ihre Schultern, als würden sie genauso weh tun wie meine. Sie sieht aus … wie ich. Entschlossen, aber völlig erschöpft. Ich schätze, ich bin nicht die Einzige mit einem völlig verrückten Trainingsplan. Alles, was ich mache, macht Mina auch.
»Okay«, sage ich langsam. »Na gut. Wir können es ausprobieren – aber nur für diese Trainingseinheit. Dann sehen wir weiter.«
Mina atmet erleichtert auf, ihre Schultern entspannen sich. »Okay, super. Dann los, fangen wir mit dem Schritt an, der dir schwerfällt. Ich habe dir beim Training zugeschaut, und ich glaube, ich weiß, was das Problem ist …«
Es gab mal eine Zeit, da habe ich Sonntage geliebt. Damals waren Sonntage dazu da, auszuschlafen und dann den ganzen Tag mit Leah Zeichentrickfilme zu schauen. Aber diesmal kam der Sonntag viel zu schnell, und nach den Bergen an Hausaufgaben, die ich irgendwie schaffen musste und dem zusätzlichen Training mit Mina bin ich völlig erschöpft, als am Nachmittag die Probe beginnt. Erschöpft und auch nervös – die Änderungen, die Mina und ich vorgenommen haben … sie sind wirklich gut. Wenigstens glaube ich, dass sie gut sind. Die Frage ist nur: Werden sie dem Management auch gefallen, oder werden wir dafür umgebracht?
Von neben der Bühne werfe ich vorsichtig einen Blick ins Publikum, wo der gesamte Nachwuchs, alle Trainerinnen und Trainer und das gesamte Management sitzen und darauf warten, dass Jason, Mina und ich anfangen. Ich entdecke Mr. Noh in seinem silbrigen Nadelstreifenanzug und glänzenden schwarzen Slippers, wie er sich angeregt mit seinem Sitznachbarn unterhält. Mr. Choo. Selbst wenn ich nicht die letzten paar Wochen damit verbracht hätte, mir ihr Gesicht genau anzuschauen, wäre es nicht schwer zu sehen, wie sehr Mina ihrem Vater ähnelt. Sie haben dieselbe breite Stirn und dieselben scharfen Wangenknochen.
»Fertig?« Mina taucht neben mir auf. Ihr Kleid ist neonpink und wird von einem mit Glitzersteinchen besetzten Korsett zusammengehalten. Ein schwarzes Halsband, das fast genauso aussieht wie das, was ich anhabe, trägt die Aufschrift Summer. Auf meinem steht Heat.
Ich nicke und klappere mit den Absätzen meiner weißen Wildleder-Go-Go-Boots, aber mein Mund ist plötzlich trocken. Heute sind zwar keine Kameras da, aber ein Saal voller DB-Nachwuchs und -Management ist fast genauso schlimm. Plötzlich höre ich eine hohe, fröhliche Stimme hinter mir. »Rachel!« Ich wirble herum und sehe Akari, die über das ganze Gesicht strahlt. Sie hüpft zu mir herüber. »Jetzt passiert es endlich! Ich bin so stolz auf dich! Das ist erst der Anfang von allem, wofür du gearbeitet hast …«
»Tut mir leid, dass ich euer kleines Stelldichein unterbreche«, mischt Mina sich ein und schiebt sich zwischen uns, »aber Rachel muss jetzt gehen.« Sie schaut Akari verächtlich an. »Manche von uns haben eine Zukunft als K-Pop-Star, über die sie sich Gedanken machen müssen … Nicht, dass du das verstehen würdest.« Sie wirft mir einen Blick zu und dreht Akari den Rücken zu. »Jason startet gleich das Feuerwerk«, sagt sie und geht zu ihrer Position rechts von der Bühne. Akari steht wie versteinert da und schaut mit offenem Mund Mina nach. Ihre Augen blitzen verärgert. Ich habe das Gefühl, es ist Wochen her, dass ich Akari gesehen, geschweige denn mit ihr gesprochen habe, und ich würde so gerne bei ihr bleiben und mit ihr über Mina herziehen, aber das Intro hat schon angefangen. »Ich muss gehen!«, sage ich mit einem entschuldigenden Lächeln und renne auf meine Position. Ich werfe einen Blick zurück zu Akari und sehe, dass ihr Lächeln ein bisschen weniger strahlt, als sie sich auf den Weg zurück ins Publikum macht.
Ich schüttle die Gedanken an den Vorfall ab und rede mir ein, dass ich später noch mehr als genug Zeit haben werde, um mit meiner Freundin zu reden, und dann wird es plötzlich dunkel, und ich denke an nichts anderes mehr als an die Performance. Ich spähe hinaus auf die Bühne und entdecke Jasons Silhouette. Das Publikum ist mucksmäuschenstill, und ich kämpfe gegen den Drang an, mir auf die Unterlippe zu beißen. Ich darf jetzt auf keinen Fall mein Make-up ruinieren. Dann, wie aus dem Nichts, steht Jason im Licht des Hauptscheinwerfers, und die Musik wird schneller. Jason wirbelt herum und stürzt sich in die erste Strophe. In seinem maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug und dem Fedora sieht er so süß aus, dass ich die Augen schließen muss. Das Publikum fängt an, im Takt der Musik zu klatschen. Als seine Stimme auf der Melodie des Songs nach oben reitet, ist jeder Ton so natürlich wie atmen und unglaublich lebendig. Meine Nervosität schmilzt einfach so dahin und wird von einer elektrisierenden Vorfreude ersetzt, die in meinen Adern pulsiert. Ich will da rausgehen und mit ihm singen. Nur noch ein paar Sekunden …
Kurz vor der zweiten Strophe wird es im Publikum wieder dunkel, und Mina und ich schreiten auf die Bühne. Einen Moment lang ist das ganze Publikum still. Ich spüre die Blicke auf mir. Ich höre, wie sie denken, dass ich nicht hierhergehöre, nicht auf diese Bühne, und ich erstarre. Aber dann geht das Licht wieder an, und das Publikum explodiert – die Trainees klatschen und jubeln, manche stampfen sogar mit den Füßen und pfeifen laut, und ich muss lächeln. Ich schaffe das. Ich begegne Yujins Blick, und sie zwinkert mir zu. Ich hoffe, dass sie nach der Performance noch mit mir spricht …
Die Strophe fängt an, und ich mache meinen choreographierten Catwalk auf Jason zu, jeder Schritt perfekt im Takt der Musik, während ich meine erste Zeile singe.
Meine neue erste Zeile. Für die Trainerinnen und Trainer und das Management ist das eigentlich Minas Moment. Ich kann fast spüren, wie sie auf ihren Stühlen erstarren und versuchen zu verstehen, was auf der Bühne vor sich geht. Ich höre, wie einige von ihnen auf ihren Stühlen hin und her rutschen und anfangen zu flüstern.
»Was zum Teufel ist da los?«
»Mr. Noh, haben Sie das genehmigt?«
Mina stimmt ein paar Zeilen später ein, und wir fangen mit dem Teil der Choreo an, der mich seit Wochen gestresst hat. Ich trete zurück, während sie mit Jason zum Mittelpunkt der Bühne wird und die beiden mühelos durch die Schritte fliegen. Mina und ich tauschen wieder, während die zweite Strophe weitergeht und ich laut eine weitere von Minas Zeilen singe. Meine Stimme vermischt sich in perfekter Harmonie mit Jasons, ebenfalls mühelos.
Dann kommt der Refrain, und wir drei lächeln uns an. Wir fühlen, dass die Energie von der Bühne im Publikum einschlägt wie ein Blitz. Irgendwo im Publikum höre ich Akari, die begeistert jubelt. Sogar ein paar Trainerinnen und Trainer haben richtig Spaß, singen mit und schnipsen mit den Fingern im Takt. In der ersten Reihe allerdings sehe ich Mr. Nohs Gesicht, und es ist genauso rot wie mein Lippenstift.
Ich schlucke. Wir sind vielleicht ein Blitz, aber es wird nach der Performance sicher noch ein völlig anderes Gewitter geben.
Als der Song zu Ende ist, bricht das Publikum in begeisterten Applaus aus. Yujin schüttelt zwar den Kopf, aber auch sie kann sich das Lächeln nicht verkneifen. Mr. Noh steht einfach auf und geht in Richtung Backstage-Bereich, das Management beeilt sich, ihm zu folgen. Mr. Choo folgt ihnen ebenfalls, sein Gesichtsausdruck ist unergründlich.
Jason, Mina und ich verbeugen uns und rennen hinter die Bühne. Ich schreie, ich bin voller Adrenalin, und Jason schreit gleich mit und legt einen Arm um Mina und einen um mich.
»Ihr wart super da draußen!«, sagt er und drückt uns an sich.
Er grinst uns an. »Und vielen Dank, dass ihr mich vor eurem kleinen Tausch gewarnt habt.«
»Sorry«, sagt Mina. »Wir wollten nicht, dass du uns ans Management verpetzt.« Sie verdreht die Augen, aber ich sehe an ihrem Lächeln, dass sie nur Spaß macht.
Ich werde rot, als mir bewusst wird, wie gut sich Jasons Arm anfühlt, und rücke von ihm ab. »Du warst auch super!«, sage ich. »Ihr wart beide so …«
»Eine Schande. Völlige Anarchie, keine Spur von Respekt vor der Autorität.«
Mr. Noh schreitet auf uns zu, Mr. Choo und das Management dicht auf seinen Fersen. Ihre Gesichter sind allesamt vor Wut verdunkelt. Sie sehen aus, als würden sie gleich explodieren, aber Mr. Han kommt ihnen zuvor. Er schiebt sich zwischen uns, breitet die Arme aus und umarmt erst mich und dann Mina fest.
»Was für eine wunderbare Performance! Wir wussten, dass wir die richtige Entscheidung getroffen haben, als wir euch drei zusammengesteckt haben. Die größten Rising Stars von Süd-Korea. Und der unbestreitbar große Jason Lee, natürlich.« Er schüttelt uns allen enthusiastisch die Hände, bevor er sich wieder den anderen zuwendet. »Die Chemie zwischen ihnen war der Killer, oder?«
»Es war … interessant«, gibt Ms. Shim zögernd zu und wirft vorsichtig einen Blick auf Mr. Noh.
»Was ich gesehen habe, war, dass diese beiden Mädchen die Rollen getauscht und sich klaren Anweisungen widersetzt haben«, sagt Mr. Lim und zieht vorwurfsvoll eine Augenbraue hoch. »Was gibt es da zu loben?«
»Überhaupt nichts, so viel ist sicher, wenn sie deswegen ihre Performance verhauen hätten«, sagt Mr. Han. »Aber, wenn überhaupt, haben sie sie verbessert. Das nenne ich innovativ! Die nächste Generation ist im K-Pop angekommen!«
Vereinzelt ertönt zustimmendes Gemurmel, aber die meisten runzeln die Stirn. Ich schaue mit angehaltenem Atem zu Mr. Noh. Die Röte ist aus seinen Wangen verschwunden, aber seine Augen sind immer noch steinhart und verärgert zusammengezogen. Er schaut schweigend von uns zu Mr. Han, und es ist offensichtlich, dass er uns anschreien möchte, weil wir uns seinen Anordnungen widersetzt haben, andererseits aber nichts von dem, was Mr. Han gesagt hat, abstreiten kann.
Letztendlich schaut er mich und Mina an. »Weiterüben. Ich möchte es nicht noch einmal sehen, bis es nicht perfekt ist«, sagt er, dreht sich auf dem Absatz um und schreitet von dannen, das restliche Management folgt ihm im Gänsemarsch.
Mr. Han hebt den Daumen, bevor er den anderen folgt.
»Ladys, immer wieder gerne«, sagt Jason und lächelt uns beide an. »Sehen wir uns später? Mir ist gerade eingefallen, dass ich vergessen habe, Mr. Noh etwas zu sagen.«
Er winkt und joggt durch die Tür. Sein Geruch nach Pfefferminze und Ahornsirup möchte sich einen Pfad in meine Gedanken bahnen, aber ich schüttle ihn sofort ab, als ich merke, dass Mina mit mir spricht. »Sorry, was hast du gesagt?«
Mina zuckt mit den Schultern. »Nur dass Jason wirklich Mut hat. Ich würde jetzt garantiert nicht freiwillig Zeit mit Mr. Noh verbringen.«
»Oh, ja«, sage ich. Ich muss unbedingt das Thema wechseln. »Na ja, wir sollten uns jetzt wirklich umziehen. Und vielleicht mit Patbingsu in der Cafeteria feiern?«
»Ähm, ich weiß nicht, ob ich mitkommen kann.«
»Komm schon, das haben wir uns verdient. Wir haben da eben auf der Bühne garantiert zehntausend Kalorien verbrannt.«
»Geh schon mal vor«, sagt Mina mit einem Blick auf die Vorhänge. »Ich komme nach.«
Ich folge ihrem Blick und sehe, dass Mr. Choo noch dort steht, die Arme vor der Brust verschränkt. Ich verbeuge mich unsicher vor ihm und eile dann in Richtung Umkleide. Als ich endlich alleine bin, stoße ich einen kleinen Freudenschrei aus.
Diese Performance hatte einfach alles.
Zum ersten Mal seit einer sehr langen Zeit habe ich das Gefühl, endlich, endlich auf dem richtigen Weg zu sein.
Mein Herz klopft immer noch wie wild, als ich meinen schwarz-weiß karierten Rock ausziehe und hastig meine geliebte grüne Bomberjacke und die Skinny-Jeans überstreife. Dann gehe ich zurück zur Bühne und denke darüber nach, dass ich Mina wirklich gefragt habe, ob wir zur Feier des Tages zusammen Patbingsu essen sollen. Ich muss lachen. Noch vor zwei Tagen wäre der Gedanke daran, mit Mina irgendetwas zu feiern, für mich ein Albtraum gewesen. Aber na ja, vielleicht ist das ja der Beginn einer völlig neuen Ära.
Ich mache mir einen schnellen Pferdeschwanz und schaue nach, ob sie hinter der Bühne ist. Sie war noch nicht in der Umkleide, also ist sie vielleicht immer noch hier. Eine Stimme dringt von der anderen Seite der Bühne zu mir herüber.
»… wirklich eine Schande. Wie kannst du es wagen, das Management und deine Trainer so zu hintergehen?«
Ich erstarre und ducke mich hinter einen großen Lautsprecher. Ein paar Meter von mir entfernt schreit Mr. Choo Mina an, sein Gesicht ist noch röter als das von Mr. Noh.
»Was meinst du, was das für einen Eindruck macht, übrigens auch von mir? Wenn du dich so aufführst, dann denk nicht mal dran, nach Hause zu kommen oder mir je wieder unter die Augen zu treten.«
Mina lässt schweigend den Kopf hängen. Ich habe diese Seite von ihr noch nie gesehen. Ich erwarte, dass sie jeden Moment eine freche Antwort gibt oder mit ihren wie gewohnt blitzenden Augen wieder aufschaut, aber das tut sie nicht. Sie steht nur da, mit tief hängenden Schultern.
»Ich weiß nicht, was ich getan habe, um so eine Schande von einer Tochter zu verdienen«, sagt Mr. Choo. »Wenn du mich je wieder derart enttäuschst, gibt es keine zweite Chance. Dann bist du nicht mehr meine Tochter. Verstanden?«
»Ja, Appa«, sagt Mina leise.
Mr. Choo schüttelt angewidert den Kopf und stürmt von der Bühne. Mina bleibt alleine zurück. Sie rührt sich nicht vom Fleck und zittert am ganzen Körper.
»Mina«, sage ich vorsichtig und komme aus meinem Versteck. Sie zuckt zusammen und wirbelt herum, ihr Rücken ist sofort wieder kerzengerade, ihre Augen zu Schlitzen zusammengezogen. »Hey, alles in Ordnung?«
»Was du auch gehört hast, glaube ja nicht, dass du deshalb etwas Besseres bist als ich«, sagt Mina wütend. Ihre Augen sind voller Tränen. »Ich brauche dein Mitleid nicht.«
»Das denke ich doch gar nicht. Ich wollte nur nachschauen, ob es dir …«
»Das geht dich nichts an!« Sie wischt sich über die Augen und drängt sich an mir vorbei in Richtung Umkleide. Dann bleibt sie noch einmal stehen und dreht sich um. Ihr Gesichtsausdruck ist verächtlich. »Und übrigens, wir sind keine Freundinnen. Hör auf, dich so zu verhalten. Nur weil wir ein Lied zusammen singen, bedeutet das nicht, dass du mir nicht am Arsch vorbeigehst. Oder dass ich mit dir in der Cafeteria Patbingsu essen will. Das hier ist kein Disney-Film, Prinzessin Rachel. Werd endlich erwachsen.«
Sie spuckt mir die letzten Worte nur so vor die Füße und stolziert von der Bühne. Der Anfang einer neuen Ära verschwindet vor meinen Augen, bevor sie überhaupt wirklich begonnen hat.