Für die meisten Familien bedeutet Sommer in Korea Schwanenboote auf dem Han, Feuerwerk am Haeundae Beach in Busan und der Laternenumzug an Buddhas Geburtstag. Für meine Familie hingegen bedeutet es nur eines: Naengmyeon.

Vier Schüsseln der eiskalten Nudeln stehen auf dem Tisch, auf jeder dünne Birnen-, Gurken- und Rindfleischscheiben und ein halbes hartgekochtes Ei, meine natürlich ohne Gurke. Umma drückt auf den Buzzer an unserem Tisch, um den Kellner wie immer nach mehr Birne für Leah zu fragen. Appa fischt das überschüssige Eis aus seiner Brühe und lässt es wie immer in meine Schüssel fallen. Das ganze Eis bringt seine Zähne zum Klappern, und ich mag meine extrakalt.

»Rachel, du strahlst in letzter Zeit richtig.« Appa schaut mich liebevoll an.

»Das überrascht mich gar nicht, ihre Performance letzte Woche war unglaublich«, sagt Leah. Sie kippt einen extra Schuss Essig in ihre Schüssel, bevor sie einen riesigen Mundvoll Nudeln schlürft. »Es war das Highlight des ganzen Konzerts! Und das sage ich nicht nur, weil wir Schwestern sind. Unni ist für die Bühne geboren.«

Ich grinse. »Danke, Leah.«

Plötzlich ist es um einiges schwieriger, das hartgekochte Ei herunterzuschlucken.

Genau in diesem Moment vibriert mein Handy, und ich schaue unter dem Tisch auf den Bildschirm.

Hey, bist du nicht müde? Du gehst mir schon den ganzen Tag im Kopf herum.

Ein GIF mit einem explodierenden Herz folgt der Nachricht.

Ich pruste los. Es hat sich herausgestellt – und eigentlich ist es auch nicht besonders überraschend –, dass Jason der Prinz der kitschigen Anmachsprüche ist. Er schickt mir mindestens dreimal am Tag lächerliche Nachrichten wie diese, aber es wäre gelogen, wenn ich nicht zugeben würde, dass ich es liebe.

Appa zieht die Augenbrauen hoch. »Alles okay, Rachel? Du lächelst, als hättest du im Lotto gewonnen.«

»Alles okay«, sage ich. Aber er hat recht. Ich lächle so breit, dass mir die Wangen weh tun. Ich stecke das Handy wieder ein und versuche, mich auf meine Familie zu

So müde und gestresst sie auch beide sind, sie lächeln und nicken, während Leah redet. Sie schafft es irgendwie, ein Gespräch zu führen, ohne dass ihr auch nur eine Sekunde davon entgeht, während sie gleichzeitig auf ihr Handy schaut, Fotos auf Instagram liket und ihre liebsten K-Pop-Blogs liest. Es ist verstörend eindrucksvoll.

Während Leah munter weiterplappert und von Kim Chanwoos aktueller Amnesie bei Oh My Dreams erzählt, wandern meine Gedanken zurück zu Jason und mir, wie wir uns vor ein paar Tagen nach der Probe für ein paar Stunden in einen Kinosaal geschlichen haben, den Jason für uns gemietet hatte. (Eines muss man der koreanischen Kultur lassen: Sie macht geheime Beziehungen wirklich einfach – es gibt private DVD-Räume, private Karaoke-Zimmer und auch private Esszimmer in den meisten Restaurants.) Es standen unendlich viele Filme zur Auswahl, und Jason schlug Train to Busan vor, aber ich war noch nie ein großer Fan von Zombie-Apokalypsen und überzeugte ihn stattdessen von Teen Lover. Der Film kam heraus, bevor ich überhaupt geboren wurde, aber ich habe ihn trotzdem schon unzählige Male gesehen, mindestens dreißigmal. Es ist Ummas Lieblingsfilm, und als wir noch in New

»Soll ich so einen Minnegesang auch für dich veranstalten?«, hat Jason gefragt und mich fest in den Arm genommen, während er sich zu mir vorgebeugt und mich auf die Nase geküsst hat.

»Natürlich«, sagte ich in ernstem Ton mit ebensolchem Gesichtsausdruck. »Aber glaubst du, dass du das auch schaffst? Stillzuhalten, mit einer Boom Box in der Hand? Das ist nicht leicht. Es ist eine ganze Liga über K-Pop-Tanzen.«

Er antwortete ebenso ernst: »Du zweifelst an meinen Minnegesang-Qualitäten? Du weißt wirklich, wie man einen Kerl aufs tiefste verletzt, Rachel Kim. Komm, wir gehen, jetzt sofort – dann singe ich auf der Straße für dich.«

Ich musste lachen, aber er war schon aufgestanden und zog mich in Richtung Tür. »Jason, hör auf!« Ich schrie fast. »Wir können nicht zusammen rausgehen! Warum glaubst du, habe ich darauf bestanden, dass wir uns so diskret treffen? Du weißt, wie streng das Datingverbot bei DB ist!«

Jason lachte nur und winkte ab. »Diese Verbote werden gar nicht wirklich umgesetzt. Das sagen sie alles nur, um uns Angst zu machen, damit wir am Ball bleiben. Vertrau mir.« Er massierte mir kurz die Schultern. »Das kommt schon alles in Ordnung.«

Ich hob skeptisch eine Augenbraue. Ein Teil von mir wollte ihm glauben und Kang Jinas Warnung in den Wind schießen, aber ich habe sieben Jahre Medientraining bei

»Jason«, sagte ich, »ich weiß ja nicht genau, in welcher Welt du lebst, aber ich glaube wirklich nicht, dass DB …«

»Rachel«, unterbrach er mich und lächelte mich an, und zwar auf eine Weise, dass es sich anfühlte, als würde mein Magen einfach davonschweben. »Ich möchte doch gar nicht irgendwo anders hingehen. Warum sollte ich? Wenn ich hier sein könnte. Alleine. Mit dir.« Er kam einen Schritt auf mich zu, und wir purzelten zusammen zurück auf das Ledersofa, Jasons Hände in meinem Haar, und er küsste mich …

»Unni, hallo? Hast du mich überhaupt gehört?«

»Hm?« Ich kehre abrupt ins Naengmyeon-Restaurant zurück, wo Leah mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrt. Sie ist ganz blass im Gesicht, als hätte sie gerade einen Geist gesehen.

»Ich habe gefragt, ob du davon wusstest!« Sie hält ihr Handy hoch. »Kang Jina verlässt Electric Flower!«

Mein Lächeln ist wie weggeblasen. »Was?«

Ich reiße Leah das Handy aus der Hand und scrolle durch die Artikel auf dem kleinen Bildschirm. Jede Überschrift hat dasselbe Thema: KANG JINA VERABSCHIEDET SICH FÜR IMMER VON ELECTRIC FLOWER. KANG JINA VERLÄSST DB ENTERTAINMENT. WAS KOMMT JETZT FÜR DIE KÖNIGIN DER DIVEN, KANG JINA?

Leah holt sich ihr Handy zurück und räuspert sich. »Hör dir das an, Rachel.« Sie fängt an, einen der Artikel vorzulesen. »Kang Jina hat die schwierige, aber notwendige Entscheidung getroffen, ihren Vertrag mit der

»Kannst du das glauben?« Leah lässt ihr Handy sinken. »Was ist Electric Flower schon ohne Kang Jina?«

Ich schüttle sprachlos den Kopf. Meine Gedanken rasen zurück nach Jeju, wo ich ihr zum ersten Mal begegnet bin. Sie schien alles andere als eine außer Kontrolle geratene Diva zu sein. Wenn überhaupt wirkte sie eher bescheiden, nur ein Mädchen, das im Urlaub ein Glas Wein genießen will. Aber was weiß ich schon? Vielleicht hat sie nach der einen Flasche fünfzig weitere gekauft.

Trotzdem habe ich einen sauren Geschmack im Mund, während Leah weiter über Kang Jina und Electric Flower vorliest, und der kommt nicht vom Naengmyeon.

Hey, Werwolfmädchen. Wenn ich mich recht erinnere, hast du gleich eine Freistunde. Richtig oder falsch?

Ich lehne mich an meinen Spind und lächle, während ich rasend schnell tippe. Jason hat so ziemlich meinen ganzen Stundenplan auswendig gelernt, damit wir während

Richtig. FaceTime?

Ich hatte mir eigentlich eine andere Art FaceTime vorgestellt.

Mein Handy vibriert noch einmal, und ich erwarte eine weitere Nachricht von Jason, aber es ist eine von Hyeri. Kannst du raus in den Rosengarten kommen?

In den Rosengarten? Klar! Ich antworte sofort. Ich habe Angst, dass sie dort Daeho hinterherweint.

Ich renne durch die Outdoor-Lounge und dann über das Fußballfeld und halte die ganze Zeit Ausschau nach Hyeri, während ich dem leeren Garten an der Grenze des Schulgrundstücks immer näher komme. Mein Handy vibriert schon wieder. Es ist Jason.

Dreh dich um.

Ich wirble herum und sehe ihn unter dem rosenbewachsenen Torbogen stehen. Sobald er sieht, dass ich ihn sehe, hebt er sein Handy in die Luft und hält es mit beiden Händen waagerecht wie eine Boom Box.

Ein strahlendes Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. »Jason«, sage ich und gehe auf ihn zu. »Was machst du denn da?«

»Minnegesang«, sagt er und drückt auf Play. »In Your Eyes« erklingt, und plötzlich ist er John Cusack, und ich bin Ione Skye, und das hier ist offiziell der beste Moment meines Lebens.

Er grinst. »Ich bin doch wirklich ein Traum, oder?«

»Jason! Das war wirklich keine gute Idee. Was ist, wenn uns jemand sieht?«, flüster-schreie ich, der Schweiß läuft mir jetzt auch den Rücken hinunter.

»Keine Sorge! Hyeri hält an der Tür Wache und sagt allen, dass der Rosengarten für eine private Gesellschaft geschlossen ist.« Er wackelt triumphierend mit den Augenbrauen.

Ich unterdrücke den Drang zu kichern und verdrehe stattdessen die Augen. »Okay, aber das bedeutet nicht, dass da draußen keine Leute mehr sind. Oder dass wir nicht aus den Fenstern vom zweiten und dritten Stock gesehen werden können. Los!« Ich ziehe ihn hoch. »Komm mit.«

Ich führe ihn in die Schule und schaue immer erst um jede Ecke in den nächsten Flur. Die Luft ist rein, und ich ziehe ihn eilig in den Musikraum. Der ist zu dieser Tageszeit immer leer.

Als die Tür sicher hinter uns geschlossen ist und ich die Vorhänge zugezogen habe, erlaube ich mir, mich in seine ausgebreiteten Arme fallen zu lassen. Ich lege mein Gesicht an seine Brust und verschmelze fast mit ihm. Es ist so viel besser als FaceTime.

»Ich kann nicht glauben, dass du hier bist«, sage ich.

»Na ja, ich war noch nie an einer Highschool.« Er lächelt und schiebt eine meiner Haarsträhnen hinter mein Ohr. Dann entdeckt er eine Gitarre in der Ecke.

Ich schüttle den Kopf und kichere. »Hmm, wie wär’s mit diesem tollen Song von den NEXT BOYZ, ›Love Letters Start With U‹?«, necke ich ihn. Ihr Debütsong. Ich setze mich auf den Klavierhocker und schlage die Beine übereinander. Ich schaue ihm erwartungsvoll zu, wie er die Gitarre stimmt.

Er spielt die ersten Akkorde und fängt an zu singen. »Let me write a letter, baby, and seal it with a kiss. It starts with U and ends with U, ’cause you’re the one I miss ooooohh.«

Er übertreibt, macht alberne, schmalzige Grimassen, während er singt, aber es klingt trotzdem phantastisch, vor allem mit der Gitarre. Ich hatte fast vergessen, dass er spielt. Früher, bei seinen YouTube-Covers hat er das ständig gemacht, aber jetzt, bei den NEXT BOYZ singt und tanzt er fast nur noch, sans Guitar. Es ist wirklich krass, wie lässig gut er spielt, als müsse er kein bisschen darüber nachdenken.

»Der nächste Song auf der Jason-Jukebox!«, sage ich. »Ein süßer Klassiker.«

Jason geht fließend in den nächsten Song über. »I’ll be your dream, I’ll be your wish, I’ll be your fantasy, I’ll be your hope, I’ll be your love, be everything that you need.«

Ich fange an zu lachen. Klar, was ist schon klassischer als Savage Garden?

»Ich weiß nicht, wie du das noch toppen kannst«, sage ich, immer noch lachend.

Jasons Augen blitzen. »Okay, wie wär’s mit dem hier?«

Er spielt jetzt langsamer, eine Melodie, die ich noch nie gehört habe. Sie nimmt mich sofort gefangen.

Die Musik ist sanft und bodenständig, der Text im Gegensatz zu allem, was er bisher gespielt hat, eher Indie.

»Am I a sandcastle king or a lost boy from the sea? I’m none and everything, a me that’s only me. I am the shore.«

Er spielt den letzten Akkord, und ich atme tief aus. Ich fühle mich, als würde ich aus einer Art Trance erwachen. »Das war wirklich schön. Von wem ist das?«, frage ich.

Er lächelt schüchtern und stellt die Gitarre zurück in den Ständer. »Ähm, das habe ich geschrieben. Ta-da. Ein Jason-Lee-Original.«

Mir fällt die Kinnlade herunter. »Ich wusste gar nicht, dass du Songs schreibst.« Als ich das sage, erinnere ich mich daran, wie Jason reagiert hat, als ich ihn im Kwangtaek damit aufgezogen habe, dass K-Pop-Stars nie ihre eigenen Texte schreiben dürfen. »Wieso weiß ich gar nichts davon?«

»Nicht gerade der Style von DB.« Er zuckt mit den Schultern, als würde das nichts weiter bedeuten, aber das Lächeln, das seine Augen nicht erreicht, gibt seine wahren Gefühle preis. »Aber wenn ich ehrlich bin, ist das die Art Musik, die ich singen möchte. Lieder, die mir etwas bedeuten, die widerspiegeln, was in meinem Leben passiert. So wie dieser Song und wie ich mich immer zwischen diesen beiden Identitäten hin- und hergerissen fühle.« Er hält inne und wirft mir einen vorsichtigen Blick zu. »Nicht, dass ich die NEXT BOYZ nicht mag oder DB und alles, was sie für mich getan haben, nicht zu schätzen weiß. Es ist nur nicht dasselbe, verstehst du?«

Aber bevor ich ausreden kann, wird die Tür aufgerissen. Jason und ich zucken zusammen, als die Cho-Zwillinge hereinplatzen. Beide keuchen schwer und haben ihre Handys in der Hand.

»Siehst du, ich habe dir doch gesagt, dass sie hier drin ist«, sagt Hyeri triumphierend, während sie versucht, wieder zu Atem zu kommen.

»Wie habt ihr mich gefunden?«, frage ich schockiert.

»Na ja, ihr wart nicht im Rosengarten, also haben wir uns gedacht, dass ihr euch vielleicht hier reingeschlichen habt, ihr seid schließlich K-Pop-Stars.« Hyeri grinst. »Übrigens: Gern geschehen, ihr beiden.« Sie macht eine kleine Verbeugung. »Jason, meine Fähigkeiten im Lockruf-Nachrichten schreiben stehen dir jederzeit zur Verfügung.«

Jason grinst zurück.

»Okay, okay, okay, aber das ist jetzt wirklich alles unwichtig«, sagt Juhyun und drängt sich an Hyeri vorbei. »DB hat vor einer Stunde das Summer-Heat-Video veröffentlicht, und es hat schon über zwanzig Millionen Klicks. Alle lieben euren Song.«

Heilige Scheiße.

Ich hatte keine Ahnung, dass das Video heute herauskommt, und wenn ich mir Jasons Gesichtsausdruck so ansehe, wusste er ebenfalls nichts davon. Wir versammeln uns um Juhyuns Smartphone, um es uns anzuschauen. Da ist Jason in seinem Sweatshirt. Und Mina in ihrem pinkfarbenen Kleid. Und ich.

Ich! In einem HD-Video! (»Dieses Haargummi sieht so verdammt gut an dir aus«, sagt Hyeri. »Noch mal gern geschehen!«)

Während wir zuschauen, schießt die Zahl mit den

»Es schießt schon durch die Top-100-Liste«, sagt Juhyun.

»Nein!«, sage ich leise. Ich bin völlig schockiert.

»Doch!«, gibt sie zurück.

Ich bin wie erstarrt. Um mich herum singen die Zwillinge zur Musik, tanzen und klatschen. Jason nimmt mich in die Arme, hebt mich hoch und wirbelt mich herum.

Die Leute lieben das Musikvideo. Sie lieben uns. Mich. Ich habe sieben Jahre lang so hart gearbeitet, und endlich, endlich zahlt es sich aus. Als Jason mich wieder runterlässt, breitet sich ein unaufhaltsames Lächeln auf meinem Gesicht aus.

»Das müssen wir feiern!«, sagt Jason, legt mir die Hände auf die Schultern und schaut mir in die Augen. »Du und ich. Ein richtiges Date.«

Die Zwillinge hören auf herumzuhüpfen und starren uns an, als wären wir ein K-Drama im Fernsehen.

Ich zögere. Meine Glücksgefühle zerplatzen wie Seifenblasen. Natürlich möchte ich mit Jason feiern, aber wie nur? Es geht einfach nicht. Ich schüttle langsam den Kopf. »Jason, wir haben doch darüber gesprochen. Es geht nicht. Wenn wir zusammen gesehen werden, erkennen uns die Leute, jetzt definitiv.« Ich nicke in Richtung von Juhyuns Handy.

»Okay«, sagt Jason und gibt meinem skeptischen Gesichtsausdruck nach. »Also du sagst, wir können ein Date haben, solange uns niemand erkennt?«

»Jason.« Ich seufze entnervt. »Du bist so ziemlich die berühmteste Person Koreas. Wie stellst du dir das vor?«

Er grinst Juhyun an, und ihr Gesicht strahlt, als sie versteht. Sie greift nach meinen Schultern und setzt mich