Ich erinnere mich daran, wie ich mit Leah im Eiscafé um die Ecke war, kurz bevor wir nach Seoul gezogen sind. Es war Winter, und Umma dachte, dass wir zur Bibliothek gegenüber wollen, aber Leah hatte um »ein letztes Eis zur Erinnerung an New York« gebettelt, und ich hatte wie gewöhnlich nachgegeben. Wir hatten nur ein paar Minuten Zeit, bevor Umma uns zurückerwartete, aber Leah bestellte die größte Waffel, die es gab, und aß sie rasend schnell auf. Danach war ihr ganzes Gesicht mit Erdbeereis verschmiert.

Dieses Bild ist in meinem Kopf, als ich Kang Jina dabei beobachte, wie sie sich ein Stück Dakbal in den Mund schiebt. Die scharfe Soße tropft an ihrem Kinn hinab. Sie kaut so wild, dass ich das knusprige Knacken der gegrillten, knochenfreien Hühnerfüße in ihrem Mund fast spüren kann – besser als alle Chicken Wings, von denen New York je träumen könnte. Sie spült das Dakbal mit einem weiteren Schluck Soju hinunter und wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab. Ihre beiden Freundinnen versuchen, sie dazu bewegen, langsamer zu essen, aber sie winkt ab. Ich kann es nicht richtig fassen, aber sie ist es definitiv.

»Ist das …?« Jason verstummt, sein schockierter Gesichtsausdruck spiegelt meinen.

»Du«, sagt sie und zeigt mit dem Finger auf mich. Sie lallt. »Ich kenne dich. Rachel Kim. Du siehst aus, als hättest du ein Date. Habe ich dich etwa nicht davor gewarnt?«

Sie zeigt mit dem Daumen in Jasons Richtung. Er zieht verwirrt die Augenbrauen hoch, sein Blick schießt zwischen mir und Jina hin und her. Ich habe keine Ahnung, wie ich reagieren soll, also mache ich das Erste, was mir in den Sinn kommt. Ich stelle ihr einen Stuhl hin.

»Bitte setz dich«, sage ich. »Wie geht es dir? Alles … in Ordnung?«

Ihr Lachen klingt fast wie ein Bellen. »O bitte. Nicht diese Mitleidsscheiße. Ich weiß genau, dass du weißt, dass DB mich rausgeschmissen hat. Die ganze verdammte Welt weiß das. Oder nein, tut mir leid.« Sie lässt sich auf den Stuhl fallen, schlägt die Beine übereinander und fällt dabei fast vom Stuhl, bevor sie ihr Gleichgewicht wiedererlangt. Sie lächelt breit. »Ich habe mich ›entschieden, den Vertrag nicht zu verlängern‹.« Sie zeichnet mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft. »Das ist es doch, was sie allen erzählen, oder?«

Ich runzle die Stirn. »Was meinst du damit, das erzählen sie allen?«

Sie rutscht mit ihrem Stuhl an meinen heran und kommt mir so nahe, dass ich das Soju in ihrem Atem riechen kann. »Hör zu, Rachel, du musst wissen, worauf du dich da einlässt. Wenn du diesen Vertrag unterschreibst, verlierst du zehn Jahre deines Lebens …«

»Moment, ich dachte, K-Pop-Verträge laufen nur sieben Jahre? Ist das nicht so vorgeschrieben?«

Jina reißt die Augen auf, ein weiteres manisches Lachen kommt aus ihrem Mund. »Oh, du dummes Kind. Du glaubst, DB kennt nicht die Schlupflöcher in jedem einzelnen Gesetz, das sie brechen wollen? Irgendwo in irgendeiner Bank in der Schweiz in einem Hochsicherheitsverlies liegen die Verträge, die sie mich und die anderen von Electric Flower zu unterschreiben gezwungen haben. Verlängerung um drei Jahre. Am selben Tag, an dem wir unsere ersten Verträge unterschrieben haben. Mit einem Datum, das in der Zukunft liegt, natürlich so, dass es vor Gericht Bestand hat.« Ihr Blick liegt nun klarer auf mir, es ist fast Mitleid, das sich jetzt mit ihrer Soju-verstärkten Wut mischt. »Hat dir das wirklich nie jemand gesagt? Dieser Glamour? Dieser Ruhm? Alles nur

»Aber warum?«, frage ich. Meine Gedanken rasen, während ich versuche, ihre Worte zu verstehen. »Warum sollten sie dir das alles antun?«

»Was habe ich dir gesagt, Rachel?« Jina steckt einen Zahnstocher in unser Tteokbokki und schaut mir in die Augen. »Es ist gefährlich, als K-Pop-Star einen Freund zu haben.«

Mir rutscht das Herz in die Hose. »Der Typ, mit dem du in Jeju warst? Song Gyumin?«

Sie nickt und spricht jetzt leiser weiter. »Der große Song Gyumin. Als seine ersten sieben Jahre vorbei waren, hat er bessere Bedingungen für sich ausgehandelt. Mehr Geld. Er dachte, dass das für mich genauso wird. Er hat gesagt, er will einen geheimen Wochenendtrip mit mir machen, um das alles zu besprechen. So was von geheim, oder? Da, wo gefühlt das ganze Land Flitterwochen macht? Und jetzt … na ja. Das Geheimnis ist kein Geheimnis mehr. DB hat das sinkende Schiff verlassen. Und er auch.« Sie holt tief Luft, und ich versuche zu verstehen, was sie da gerade gesagt hat.

»Du meinst … Warte mal. Du meinst, er hat mit dir Schluss gemacht?«

Jina vergräbt ihr Gesicht in den Händen. Dann, ganz plötzlich, stößt sie einen Schrei aus und schlägt mit der Faust auf den Teller. Tteokbokki und Soße fliegen durch die Luft und landen in meinem Gesicht.

Jinas Freundinnen tauchen neben ihr auf, nehmen je einen Arm und ziehen sie hoch. »Jina, Süße, Zeit zu gehen«, sagt eine von ihnen.

Sie führen sie aus dem Pojangmacha, aber Jina dreht sich noch einmal um, schaut mir direkt in die Augen und ruft: »Nimm dich vor Mr. Choo in Acht, Rachel. Sieh zu, dass du nicht mehr mit ihm oder seiner tollen Tochter zu tun bekommst, als das schon der Fall ist. Hast du gehört?«

Sie verschwindet aus dem Zelt, und ihr Geschrei verklingt in der Dunkelheit. Erst dann wird mir klar, dass ich am ganzen Körper zittere. Was hat sie damit gemeint, dass sie Geheimnisse kennt, die die K-Pop-Welt in Aufruhr versetzen würden? Und warum redet sie ständig über Mr. Choo? Ich würde das am liebsten alles vergessen, und dieses furchtbare Date, aber Jinas Gesichtsausdruck, ihre Schreie … Das alles hat sich dauerhaft in mein Gehirn eingebrannt. Plötzlich tut mir alles weh,

Ich schaue hinüber zu Jason, der die Tteokbokki-Soße aufwischt. »Arme Jina.« Jason schüttelt den Kopf. »Wirklich scheiße, was sie gerade durchmacht. Es geht ihr offensichtlich gar nicht gut.«

Die Art, wie er das sagt, und sein Tonfall lassen mich aufhorchen. »Natürlich geht es ihr nicht gut. Du hast doch gehört, was sie gesagt hat, oder? Wie sollte es ihr da gutgehen?«

Er nickt. »Ich habe sie schon gehört. Aber … ich weiß nicht. Jede Geschichte hat zwei Seiten. Es stimmt schon, dass DB uns nicht besonders gut bezahlt, aber wie Jina sagt, sie geben uns auch Kleider und Wohnungen. Es ist nicht besonders schwer, damit auszukommen, wenn man sich ein bisschen Mühe gibt.« Er zuckt mit den Schultern. »Ich meine, mich haben sie immer ziemlich gut behandelt.«

»Weil du Jason Lee bist!« Langsam bin ich wirklich frustriert, vor allem, wenn ich daran denke, was Jina über Gyumin gesagt hat. »Natürlich behandeln sie dich gut! Das Schlimmste, was du je getan hast, ist, Romeos persönliches Orange für deine Haare zu klauen!«

»Was?« Jason starrt mich verständnislos an.

Ich seufze. Jetzt ist definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um diese alten Gerüchte auszupacken. »Ist ja auch egal. Aber du kannst mir doch nicht erzählen, dass du diese Doppelmoral im Business nicht bemerkt hast? Mädchen und Jungs werden mit zweierlei Maß gemessen.«

Er runzelt die Stirn, und ich blinzle, die Zweifel, die ich nach dem Gespräch in der Schlange vor der Achterbahn hatte, stürzen wieder auf mich ein.

»Um ehrlich zu sein, nicht wirklich.« Er runzelt immer noch die Stirn. »Letztendlich ist DB ein Unternehmen. Es macht aus wirtschaftlicher Sicht überhaupt keinen Sinn, die Mädchen anders zu behandeln als die Jungs.«

Mein Hals zieht sich zusammen. Meint er das ernst? »Was ist mit den Mädchen in der Lotte World? Du hast doch selbst gehört, wie sie dich über den grünen Klee gelobt und auf mich und Mina geschissen haben.«

»Rachel, das ist doch nur die Meinung von ein paar komischen Mädels. Das passiert allen – selbst mir. Es bedeutet nicht, dass das ganze Business sexistisch ist oder voreingenommen oder was auch immer.«

Ich hole tief Luft.

Oh. Wow. Er meint es wirklich ernst. Ich lache ungläubig, fahre mir mit den Händen über das Gesicht und schüttle den Kopf. »Für jemanden, der K-Pop lebt und atmet, siehst du wirklich erstaunlich wenig von dem, was wirklich abgeht.«

Die Furchen in seiner Stirn werden immer tiefer. »Was soll das denn heißen?«

Der Eingang des roten Zeltes öffnet sich, und ich drehe den Kopf. Das Pärchen, das gerade das Pojangmacha betreten hat, mustert Jason und mich neugierig. Panik steigt in mir auf. Haben sie uns erkannt?

Ein übles Gefühl macht sich in mir breit, und mir wird klar, dass es schon in mir wächst, seit ich mit meiner Familie Naengmyeon gegessen habe. Seit Leah mir erzählt hat, dass Jina ihren Vertrag mit Electric Flower nicht verlängert hat.

Aber das hatte Jina auch. Sie hat mir gesagt, dass es nicht nur schwierig sein würde, mit Jason zusammen zu sein, sondern auch gefährlich. Und das stimmt auch. Aber es ist auch ungerecht. Ich habe DB mein Leben gegeben, und am Ende wird diese Entscheidung – eine Entscheidung die wir beide getroffen haben – mich zerstören. Nur mich. Am Ende werde ich diejenige sein, die alles verliert, wofür sie gearbeitet hat – die Fans, die Musik, die Magie. Zum ersten Mal seit langem spüre ich, wie all die Fäden meines Lebens sich mit perfekter Klarheit zusammenweben. Und sie lassen nur einen Schluss zu: Ich will vielleicht mit Jason zusammen sein, aber ich brauche mein Debüt. Und mit Jason zusammen zu sein würde mich meine Karriere kosten, bevor sie überhaupt begonnen hat.

Der Druck in meiner Brust wird immer stärker, und das Atmen fällt mir schwer. »Ich kann nicht glauben, dass ich zugelassen habe, dass die Dinge zwischen uns so weit gehen. Das hier ist mein Untergang.«

Jasons Gesichtsausdruck wird weicher. Er nimmt meine Hände. »Hey, sag doch so was nicht. Was auch immer zwischen Kang Jina und ihrem Freund passiert ist, bei uns ist es anders. Wir sagen Mr. Noh, dass wir einander wirklich wichtig sind, und er wird das verstehen. Wahrscheinlich freut er sich sogar für uns.«

»Sich für uns freuen?« Ich ziehe ruckartig meine Hände weg. »Mach doch die Augen auf, Jason. Sie ändern vielleicht für dich und für Song Gyumin die Regeln, aber nicht für mich. Ein weiterer Fehltritt, und ich fliege raus. Kang Jina war einer von DBs größten Stars, und sie haben sie nicht nur rausgeschmissen, sie haben sie ruiniert. Und es ist ihnen völlig egal. Du kannst dir vorstellen, wie wenig ich als Trainee ihnen bedeute.«

Ich starre ihn an, und mir wird klar, dass nichts, was ich sage, dafür sorgen kann, dass er versteht, dass es für mich anders ist als für ihn. Jason ist vielleicht DBs Angel Boy, aber ich musste für jeden einzelnen Schritt kämpfen, und ich habe immer noch das Gefühl, dass ich kaum das Gleichgewicht halten kann. DB hätte nicht das geringste Problem damit, mich rauszuwerfen, sobald sie einen Makel finden, der ihr perfektes, lupenreines Image beschädigen könnte. Und eine Beziehung mit Jason wäre so ein Makel.

»Es ist vorbei, Jason.« Ich stehe auf. »Ich kann das nicht mehr. Ich habe zu hart für meine Träume gearbeitet, um zuzulassen, dass mir etwas im Weg steht. Nicht einmal, wenn du das bist.«

Jason starrt mich an, er ist komplett schockiert. »Ich kann nicht fassen, wie sehr du überreagierst.«

Mein Herz zerspringt bei seinen Worten in tausend Stücke. Ich weiß nicht, auf welche Reaktion ich gehofft hatte, aber das war sie jedenfalls nicht. Ich verlasse das Pojangmacha, ohne mich noch einmal umzusehen. Ich höre Jason nach mir rufen, aber es ist mir egal. Sobald ich draußen bin, fange ich an zu rennen. Ich bleibe nicht stehen, bis ich in der U-Bahn sitze, außer Atem und mit gebrochenem Herzen.

Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle hinunter und weigere mich zu weinen. Ich habe das Richtige getan.

Ich denke an Yujin und wie sie ihre Karriere aufs Spiel gesetzt hat, um mir mit dem Video zu helfen, wie sie mich immer unterstützt, auch wenn es sie selbst in Schwierigkeiten bringt. Ich denke an meine Familie. Ich

Meine Gefühle haben mich einfach überrumpelt, aber das ist jetzt vorbei. In ein paar Wochen kündigt DB die Family-Tour an, und ich muss mich voll konzentrieren. Von jetzt an werde ich fokussierter sein als je zuvor.

Nur ich, das ganz normale Nachwuchsleben, ganz ohne Jason Lee.