Yujin wartet in der Lobby, als ich im DB-Hauptquartier ankomme. Sobald sie mich sieht, läuft sie zu mir und umarmt mich fest.

»Rachel! Ich habe alles gehört, was passiert ist.«

»Alles?« Mein Herz springt mir fast in die Kehle. Gehört zu diesem »alles« auch meine Beziehung mit Jason? O Gott, hoffentlich nicht.

Sie tritt zurück, und ihre Augen blitzen verärgert. »Ich habe gehört, dass Jason alleine weitermacht und Mina und dich benutzt hat, um Werbung für sich zu machen.« Klug wie immer runzelt sie die Stirn und mustert mich eingehend. »Warum? Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?«

Ich schüttle den Kopf. Innerlich seufze ich erleichtert. »Nein, überhaupt nichts.«

Sie sieht misstrauisch aus, aber ihr Gesichtsausdruck wird trotzdem weicher. »Hör zu, Rachel, ich hatte keine Ahnung, was DB plant. Wirklich nicht. Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich getan, was in meiner Macht steht, um sie aufzuhalten.« Ihre Lippen sind eine dünne Linie, als würde sie versuchen, sich zusammenzunehmen. »Es tut mir leid, dass ich nicht mehr tun konnte, um dich zu schützen.«

Das ist nur halb gelogen.

»Wirklich?« Yujin mustert mich eingehend. »Bist du sicher, dass es sonst nichts gibt, was du mir sagen möchtest?«

Sie kennt mich zu gut. Eine Sekunde lang denke ich daran, wie gut es tun würde, ihr von mir und Jason zu erzählen. Es wäre so eine Erleichterung, mir alles von der Seele zu reden.

Keine Geheimnisse mehr. Keine Lügen. Aber dann stelle ich mir ihren enttäuschten Gesichtsausdruck vor und setze mein bestes Lächeln auf.

»Wirklich. Mach dir keine Sorgen.«

Sie seufzt. »Es nützt nichts, mir das zu sagen. Es gibt immer etwas, worüber ich mir Sorgen machen kann.«

Gegenüber kommen zwei Trainees aus dem zweiten Jahr aus der Cafeteria. Sie reden wahnsinnig schnell.

»Hast du das von Akari gehört?«

»Ja, ich fasse es nicht! Von allen Mädchen bei DB, ich hätte nie gedacht …«

Ich strenge mich an, um zu hören, was sie sagen, aber ihre Stimmen werden zu schnell leiser, als sie den Flur entlanglaufen.

Ich schaue wieder zu Yujin. »Hast du das gehört? Was ist mit Akari?«

»Du hast es nicht gehört?« Yujins Augenbrauen schießen nach oben. Als ich sie fragend ansehe, beißt sie sich

Mir wird ganz flau im Magen. »Was?«

Nein. Das kann nicht sein. Wenn es wirklich stimmen würde, wüsste ich davon. Oder?

Noch während ich das denke, weiß ich, dass es nicht stimmt. Ich hatte in letzter Zeit so wenig mit Akari zu tun … Wie könnte ich wissen, was gerade bei ihr los ist? Mein Mund wird ganz trocken, als mir einfällt, dass sie mir gestern geschrieben hat, gerade, als alles auf mich eingestürmt ist. Ich habe sie einfach ignoriert.

Schon wieder.

Ich nehme mein Handy und schreibe ihr, aber die SMS kommt als nicht zugestellt zurück. Ich rufe sie an, und ich versuche es sogar mit FaceTime, aber nichts funktioniert. Es gibt ihre Nummer nicht mehr.

Sie ist weg.

»Komm«, sagt Yujin sanft, nimmt mich beim Arm und geht mit mir den Flur entlang. »Die Neuen kommen heute. Ich weiß, du hast wahrscheinlich keine Lust darauf, aber es wird dich ablenken. Na los.«

Ich folge ihr völlig willenlos in die Halle. Mein Kopf ist komplett leer. Yujin stupst mich in Richtung Bühne, wo die anderen stehen und die Verbeugungen der Neuen in Empfang nehmen. Alle, natürlich, mit Ausnahme von Akari. Jetzt bin ich wirklich niedergeschlagen.

Sie sollte hier sein. Ich kann nicht fassen, dass sie wirklich weg ist.

Von der Bühne aus schaut Eunji mich abschätzig an. »Schaut doch, wer so gnädig war, auch noch zu kommen.« Sie macht eine nach Wassermelone duftende Kaugummiblase und lässt sie über ihren Lippen zerplatzen.

»Komm schon, Prinzessin.« Mina verstellt mir den Weg und lächelt so breit, dass man ihr ganzes Gebiss sieht. Wenn ihr der Skandal etwas ausgemacht hat, sieht man es ihr jedenfalls nicht an. Sie sieht so kühl aus wie immer. »Man sollte wirklich meinen, dass du mittlerweile weißt, wo dein Platz ist.«

Minas Kommentar weckt mich wieder auf. Sie hat recht.

Ich weiß, wo mein Platz ist.

Ich gehe ganz nach vorne, an die Spitze der Schlange und stelle mich neben Mina. Genau dort gehöre ich der Hierarchie nach hin.

»Ich glaube, das hier ist mein Platz«, sage ich.

Die ganze Bühne schweigt, als Mina und ich einander anstarren. Die Spannung zwischen uns hallt geradezu im Saal wider. Es fühlt sich an, als würden alle den Atem anhalten und darauf warten, was als Nächstes passiert. Aber sobald die Neuen herauskommen und mit den Verbeugungen anfangen, Mr. Noh direkt hinter ihnen, schaut Mina weg.

Alle atmen auf.

Ich strecke meinen Rücken, und die Entschlossenheit fließt kräftig durch meine Adern. Ich mache mich heute vor niemandem klein.

Dafür habe ich zu hart gearbeitet, um hier zu stehen.

Ich habe mir das hier mehr als verdient.

Nicht einmal das DB-Management kann mir das hier wegnehmen, denke ich, als eine Gruppe von ihnen genau vor mir stehen bleibt. Sie lächeln breit, aber wissend.

»Rachel«, sagt Ms. Shim.

»Wie geht es dir?«, fragt Mr. Noh. Ich höre, dass er kurz zögert. Ich sehe mein blasses, müdes Gesicht in seinen Brillengläsern.

»Ja«, sagt Mr. Lim. Er schafft es nicht, seine Verachtung komplett aus seiner Stimme zu verbannen. »Wir … äh, waren uns nicht sicher, ob wir dich heute hier sehen würden.«

Ich schaue sie mit vorgerecktem Kiefer an. Mr. Lims Augen glänzen gefährlich, und Mr. Noh fummelt immer wieder an seinem Taschentuch herum – und plötzlich wird mir klar, dass sie wissen, dass ich alles weiß, und dass sie sehen wollen, wie ich meine Karten ausspiele. Na ja. Wenn es ums Spielen geht, habe ich von den Besten gelernt.

Ich habe schließlich nicht umsonst bei DB trainiert.

»Das hier würde ich doch um nichts in der Welt verpassen. Und ich habe auch nicht vor, so bald irgendwohin zu gehen.« Ich strahle, die perfekte Performerin, und schaue Mr. Noh in die Augen. »Wir sind schließlich eine Familie. Und wie wir alle wissen, ist Familie schließlich für immer.«

Mr. Lims Blick wird eiskalt, aber Mr. Noh wirft mir ein kleines, resigniertes Lächeln zu. »Etwas anderes hätte ich von dir auch nicht erwartet.«

Er sieht irgendwie berechnend aus, und ich bin mir nicht sicher, was das bedeutet, aber er geht bereits an der Schlange entlang, von mir weg. Ich entspanne mich erst, als wir die Bühne wieder verlassen haben und auf unseren Plätzen sitzen. Ich bin ganz allein hier hinten und lasse zu, dass mein Körper in sich zusammensackt. Ich schließe die Augen und lehne mich fest an den Samtbezug. Wenigstens ist das Schlimmste geschafft.

Es ist Jason.

Einen Moment lang starren wir einander an. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber so wie er zappelt und mit den Beinen wackelt, weiß er das auch nicht. Er sieht müde und abgekämpft aus, wie ein Schatten seiner selbst, dem Jason, der nur so vor Selbstbewusstsein strotzt und ohne Zweifel weiß, dass die ganze Welt sein bester Freund ist.

»Rachel …«, beginnt er, aber dann schweigt er wieder. Es sieht kurz aus, als wolle er nach meiner Hand greifen, aber dann überlegt er es sich anders und nimmt stattdessen die Armlehne. »Herzlichen Glückwunsch«, sagt er endlich und lächelt mich angespannt an. Dann steht er wieder auf und geht den Mittelgang entlang, bis ich ihn nicht mehr sehe.

Ich starre ihm ungläubig nach. Herzlichen Glückwunsch?

Herzlichen Glückwunsch wozu?

Mr. Noh geht auf die Bühne, um ein paar Ankündigungen zu machen. Ich bin so sehr mit dem, was Jason gesagt hat, beschäftigt, dass ich fast nicht mitbekomme, was er sagt.

Es stellt sich heraus, dass das nicht die letzte Überraschung war.

»Wir freuen uns alle so sehr«, hallt seine Stimme aus den Lautsprechern, »über das Debüt unserer neuesten Girlgroup, Girls Forever! Bitte applaudiert mit mir den neun Mädchen, die die neuen Gesichter und Stimmen der Band werden, die, und da bin ich mir sicher, die neue Nummer eins in Korea wird!«

Der Saal ist wie elektrisch aufgeladen, Trainees und

Ich hatte keine Ahnung, dass DB heute eine neue Debütgruppe ankündigen würde. Und so überrascht, wie die anderen aussehen, wussten sie es ebenfalls nicht.

»Ich bitte die Mädchen, auf die Bühne zu kommen«, sagt Mr. Noh. »Als Erste haben wir Shin Eunji, die aus allem, was sie tut, das reinste Feuerwerk macht. Ryu Sumin, ein Bild von Anmut und Eleganz. Yoon Youngeun, Meisterin der Harmonie. Lee Jiyoon, Künstlerin der Kreativität. Shim Ari, mit einer Stimme, die jede Balladensängerin blass aussehen lässt. Im Lizzie, Tänzerin der Extraklasse. Choi Sunhee, die beste Rapperin des Jahrgangs.«

Er macht eine gewichtige Pause und schaut sich im Publikum um. Die Luft ist so voller Spannung, dass ich fast spüren kann, wie sie mir auf die Brust drückt. Mina hat sich in ihrem Stuhl nach vorne gebeugt, ihre Finger graben sich in die Armlehnen. Er hat noch keine von uns beiden aufgerufen.

Ist das der Moment, in dem er uns fallenlässt? Wird er es öffentlich ansagen, nachdem er alle neuen Mitglieder von Girls Forever aufgerufen hat? Was für eine grausame Art, uns gehen zu lassen, und dennoch, wie passend für DB. Ich versuche, mich auf das, was er als Nächstes sagt, gefasst zu machen.

»Und zuletzt möchte ich mit besonderem Stolz die letzten beiden Mitglieder bekanntgeben.« Er breitet die Arme aus, ganz der stolze Vater. »Diese beiden jungen Damen haben DB schon jetzt große Erfolge verschafft. Sie stehen für alles, was wir als Familie sind, und ich weiß,

Ich freue mich, euch Rachel Kim als Leadsängerin vorzustellen. Die Worte kreisen in meinem Kopf, wieder und wieder, und mir weicht jegliches Gefühl aus den Beinen. Ich weiß nicht, wie ich es mache, aber irgendwie schaffe ich es, den Mittelgang entlang und auf die Bühne zu gehen. Meine Knie wackeln wie Pudding, und ich bemerke das Klatschen und Jubeln aus dem Publikum nur wie aus der Ferne.

Heute Morgen dachte ich, meine Karriere wäre vorbei.

Jetzt habe ich ein Debüt.

Mr. Noh schüttelt mir mit einem breiten Lächeln die Hand.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagt er. Und dann, als hätte er meine Gedanken gelesen: »Deine Träume werden jetzt Wirklichkeit.«

Ich bemerke erst, dass ich weine, als ich die Feuchtigkeit auf meinen Wangen spüre. Schnell wische ich die an meinem Handrücken ab. Das hier passiert wirklich. Es ist echt. Es passiert endlich.

Reflexartig suche ich in der Menge nach Yujin. Sie klatscht wie wild, und auch sie weint. Ich möchte zu ihr laufen und sie umarmen, aber ich weiß, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist. Stattdessen entdecke ich Jason, ganz hinten in einer Ecke. Ich stelle erschrocken fest, dass Mr. Choo neben ihm steht und ihm etwas ins Ohr flüstert. Jason nickt entschlossen. Als die Ansagen vorbei sind, geht Mr. Noh von der Bühne zu ihnen. Jason

Die Nervosität breitet sich in meinem Magen aus. Das muss es sein, wozu Jason mir eben gratuliert hat. Er wusste, dass ich mein Debüt bekomme. Dass ich nicht rausfliege. Woher wusste er es?

Und was musste er dafür tun?

»Herzlichen Glückwunsch, Rachel.«

Ich drehe mich um und sehe, dass Mina vor mir steht, flankiert von Lizzie und Eunji.

»Leadsängerin«, sagt Lizzie. Ihre Stimme trieft vor gespielter Begeisterung. »Was für ein beeindruckender Titel.«

»Es wird so toll, wenn wir alle zusammen in einer Gruppe sind«, fügt Eunji hinzu. »Denk doch nur, wie viel Spaß wir haben werden.«

»Mädels, gebt mir mal eine Minute mit Rachel allein«, sagt Mina. »Ich möchte ihr ganz persönlich gratulieren.«

Gehorsam wie immer gehen Lizzie und Eunji von der Bühne. Mina dreht sich zu mir um, sie strahlt über das ganze Gesicht. In ihren Augen sehe ich das altbekannte böse Funkeln.

»Dein kleiner Stunt bei der Verbeugungszeremonie war wirklich süß, Rachel«, sagt sie, ihre Stimme ist jetzt nur noch ein leises Flüstern. »Aber du brauchst nicht zu glauben, dass das irgendetwas daran ändert, wo wirklich dein Platz ist. Jetzt, wo wir zusammen debütieren, wird Yujin-Unni nicht mehr da sein, um dich zu beschützen. Glaubst du wirklich, dass du ohne sie sehr lange überlebst?«

»Ich glaube, ich komme schon klar, Mina«, sage ich und verschränke die Arme. »Ich bin schließlich die Leadsängerin.«

Sie zückt ihr Handy, hält es mir hin und spielt ein Video ab. Wieder eine wacklige Fancam aus dem Olympiastadion von Seoul, aber diesmal ist es »Starlight River« von Electric Flower. Ich runzle die Stirn und schaue sie misstrauisch an. Warum zeigt sie mir das?

Und dann sehe ich es. Der Sternenhimmel wird gelüftet, das Licht geht an, und da, in einer Ecke des Bildschirms, sieht man kurz Jason und mich, wie wir uns hinter der Bühne küssen. Es ist nur eine halbe Sekunde, aber es sind eindeutig wir.

»Woher hast du das?« Meine Stimme zittert so sehr, dass ich nicht einmal so tun kann, als würde mich das Video kaltlassen.

»Leah«, sagt sie aalglatt. »Als ich bei euch war. Bevor du gekommen bist, hat sie mir Videos vom Konzert gezeigt, und ich habe zufällig etwas äußerst Interessantes auf einem gesehen. Ich habe sie gebeten, es mir zu schicken. Du weißt ja, dass ich ein Riesenfan von Electric Flower bin.«

Ich schlucke schwer und beiße die Zähne zusammen. Wenn dieses Video je nach außen dringt, bin ich ruiniert, genau wie Kang Jina. Jason war sich sicher, dass das K-Pop-Business sich verändert, aber wenn mir die letzten zwei Tage eines gezeigt haben, dann, dass es sich nicht schnell genug ändert, um für mich einen Unterschied zu machen. »Das würdest du nicht tun«, sage ich, obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt. Sie würde keine Sekunde zögern.

Sie lächelt und steckt das Handy zurück in ihre Rocktasche. »Noch mal herzlichen Glückwunsch, Rachel. Das nächste Jahr wird so toll.«