Schweiß tropft mir von der Stirn, als ich wieder und wieder auf den schlaffen Boxsack einschlage, der vor mir von der Decke hängt. Wumm. Minas selbstgefälliges Lächeln. Zack. Ummas strenge Regeln. Rumms. Ich, wie ich vor den Mädchen im Medientraining fliehe, statt für mich einzustehen. Wumm. Ich schlage das alles zu Brei, alles, was mich nervt, alle, die mir im Weg stehen, selbst wenn ich es selbst bin.
Appa, der den Boxsack festhält, schnauft, während ich schlage und schlage, immer wieder. »Du musst mich wirklich bewundern«, sagt er.
»Warum sagst du das?«, frage ich. Ich keuche vor Anstrengung.
»Offensichtlich versuchst du, in meine Fußstapfen zu treten.« Er lacht leise. Appa war früher Profiboxer. »Warum sollte meine siebzehnjährige Tochter sonst diesen Boxsack so quälen?«
»Achtzehn, Appa. In Korea bin ich achtzehn.« In Korea ist man ein Jahr alt, wenn man zur Welt kommt, man ist dort also immer ein Jahr älter als in Amerika. Ein Jahr näher am Ende meiner besten Jahre. Ein Jahr näher an zu alt fürs Debüt. Ich schlage wieder zu.
»Sorry, Tochter«, seufzt Appa.
Ich schlage ein letztes Mal zu und trete dann schweratmend zurück. Mein Pferdeschwanz klebt an meinem verschwitzten Nacken fest. Wenn ich bei DB wäre, wäre mir das peinlich: Die Trainer hassen es, wenn die Trainees schwitzen, selbst nach stundenlangem Training. Sie sagen, es sieht unprofessionell und schlampig aus. Außerdem tragen die meisten Mädchen ständig Make-up, und zerlaufene Wimperntusche sieht einfach nicht gut aus. In der Boxhalle genieße ich jede Minute. Das Training gibt mir das Gefühl, als hätte ich gerade jemandem in den Arsch getreten – wenn auch nur in meiner Vorstellung.
Appa schaut mich nachdenklich an. »Ist alles in Ordnung?«
Er nickt zum anderen Ende der Halle, wo Akari und die Cho-Zwillinge in Helmen und Handschuhen kämpfen. Sie begleiten mich ab und zu, wenn ich Appa in der Boxhalle besuche; Appa erzählt Geschichten aus den guten alten Zeiten, und wir bekommen das nötige Ausdauertraining.
»Ja, alles in Ordnung«, sage ich. So cool Appa auch ist, ich weiß genau, dass alles, was ich ihm erzähle, irgendwann doch bei Umma landet. Nicht, dass Appa keine Geheimnisse bewahren könnte. Im Gegenteil, er hat selbst ein ganz schön großes Geheimnis vor Umma. »Wie läuft es eigentlich mit dem Unterricht?«
Er schaut sich um, als würde er erwarten, dass Umma sich hinter dem Boxsack versteckt. Aber außer mir und meinen Freunden ist niemand da. Wie immer. »Gut … gut.« Er räuspert sich. »Du hast es immer noch nicht deiner Mutter oder Leah erzählt, oder?«
Ich schüttle den Kopf. Ich weiß sowieso nur von Appas Geheimnis, weil ich ein Jurabuch in seinem Büro entdeckt habe, als ich ihn zum Boxen besucht habe. Als ich ihn darauf ansprach, wurde er ganz nervös und versuchte, so zu tun, als würde er es einfach in seiner Freizeit lesen. Irgendwann hat er dann aber doch zugegeben, dass er heimlich einen Abendkurs in Jura besucht, und ich musste ihm versprechen, es nicht Umma oder Leah zu erzählen. »Nein, aber du gehst jetzt schon seit … wie lange ist es jetzt? Seit fast zwei Jahren hin? Meinst du nicht, es wird langsam Zeit, es ihnen zu sagen? Ich meine, du machst bald deinen Abschluss.«
»Ich will ihnen keine falschen Hoffnungen machen«, sagt er, genau wie damals, als ich das Buch gefunden habe. »Wir wissen alle, dass die Boxhalle nicht besonders gut läuft. Es ist nicht mehr wie früher, als …« Er hält inne, und auch ich denke über das Leben in New York nach. Appa war nach seiner Boxkarriere halbwegs berühmt, und das Studio, das er in unserem Viertel im West Village leitete, war immer voll. Umma war kurz davor, als Professorin für Englische Literaturwissenschaft an der NYU ernannt zu werden. Alle waren beschäftigt, aber irgendwie waren wir immer zusammen. Nach der Schule saßen Leah und ich hinten in Ummas Vorlesungen und malten Mandalas und machten unsere Hausaufgaben. Am Wochenende liefen wir in Appas Studio herum und reichten den Leuten Wasserbecher und Handtücher, und Umma half im Büro aus, machte die Trainingspläne und nahm Lieferungen entgegen. Danach aßen wir immer zusammen ein Eis und gingen mit Leah zu dem Mann, der im Washington Square Park riesige Seifenblasen machte.
Jetzt ist alles anders. Umma arbeitet doppelt so hart, um wieder eine befristete Professur zu bekommen, und das könnte noch Jahre dauern. Leah ist nach der Schule jeden Tag stundenlang allein, während unsere Eltern arbeiten und ich Hausaufgaben mache oder versuche, das verpasste Training aufzuholen. Und Appas Boxhalle … Na ja, er hat das Studio ein Jahr, nachdem wir nach Seoul gezogen sind, gekauft, aber es ist nie so richtig in Schwung gekommen. Manchmal sind meine Freunde und ich wochenlang die einzigen Besucher.
Zum dritten Mal heute spüre ich, wie sich ein Kloß in meiner Kehle bildet. Ich weiß, dass Appa sich für mich freut und mir mein Leben als K-Pop-Trainee gönnt, aber ich fühle mich trotzdem schuldig, wegen all der Träume, die sie aufgegeben haben, damit ich meine verfolgen kann. Appa schüttelt den Kopf und lächelt. »Ich liebe dieses Studio, aber ich liebe dich und Leah und Umma so viel mehr. Ihr drei seid das, was wirklich zählt, und als Anwalt könnte ich dafür sorgen, dass wir finanziell abgesichert sind. Aber ich … ich will sie einfach nicht enttäuschen. Vor allem Leah nicht. Sie ist erst zw… dreizehn, und du weißt ja, wie sie ist. Sie kann so viel Vorfreude entwickeln. Warten wir noch ein bisschen, bis ich wirklich weiß, ob ich überhaupt eine Chance habe.«
Ich nicke zustimmend. Der Gedanke, meine Familie zu enttäuschen – die Menschen, die so viel aufgegeben haben, damit ich bei DB trainieren kann, um ein Star zu werden –, verfolgt mich, wohin ich auch gehe. Aber genau deswegen stellt sich mir auch nie die Frage, ob ich ein Star werde, sondern nur wann. Für mich gibt es keine Alternative zum Erfolg.
»Genug Alte-Männer-Geschichten«, sagt Appa. Sein Tonfall ist betont locker. »Na los, hab noch ein bisschen Spaß mit deinen Freunden.«
Akari hält jetzt den Boxsack für die Zwillinge, und diese wechseln sich mit Flanken und Stoßen ab. Cho Hyeri und Cho Juhyun sind meine besten Freundinnen von der Seoul International School, seit meinem ersten Tag in der vierten Klasse, als die Schulleiterin sie zu meinem offiziellen Willkommenskomitee erklärte. Ich machte mir solche Sorgen darüber, was alle über mein K-Pop-Training denken würden – würden sie mich seltsam finden oder für verwöhnt halten? Vielleicht würden sie auch verlangen, dass ich mich vor ihnen verbeuge, so wie Mina? Aber Hyeri und Juhyun winkten nur ab, nahmen mich bei der Hand, bevor ich mich überhaupt rühren oder auch nur ein Wort sagen konnte, und liefen mit mir durch die Schule. Für die glitzernden Aufnäher an meinen Converse interessierten sie sich deutlich mehr als für K-Pop – und dafür, wie es gewesen war, fußläufig von Soho und den Zelten im Bryant Park während der Fashion Week aufzuwachsen – allerdings hatte ich zu beidem enttäuschend wenig zu sagen. Sie sind beide sehr schlank, haben hohe Wangenknochen und seidiges, braunes Haar, das ihnen in – wie sie jedenfalls behaupten – natürlichen Wellen auf die Schultern fällt. Sie könnten Models sein, wenn sie wollten, und als Erbinnen der Molly-Folly-Make-up-Corporation hätten sie auch die nötigen Beziehungen, um es zu schaffen. Doch das Einzige, was Hyeri am Familien-Schönheits-Unternehmen interessiert, ist allerdings, das gesamte Ingenieurwesen und die Designabteilung zu revolutionieren. Sie redet ständig über die chemischen Reaktionen, die nötig sind, um einen Eyeliner herzustellen, der im Dunkeln leuchtet, oder macht mit glühendem Eifer Experimente, um hundert Prozent biologisch abbaubare Verpackungsmaterialien für die neue Lidschattenpalette zu entwerfen. Juhyun hingegen ist praktisch schon berühmt durch ihren YouTube-Channel. Selbst wenn sie hier im Studio schwitzt, ist ihr Make-up perfekt, vom matten Lippenstift bis hin zu ihren perfekt geschwungenen Wimpern.
»Trinkpause?«, schlage ich vor und ziehe meine Boxhandschuhe aus.
»Oh, ja, bitte«, stöhnt Hyeri und schlägt ein letztes Mal auf den Boxsack ein. »Ich glaube, irgendwer hat auch was von Eis und Hotteok gesagt?«
»Du hast was von Eis gesagt«, gibt Juhyun zurück.
»So?« Hyeri grinst und schlägt ihrer Schwester sanft auf die Schulter. »Und du hast gesagt: ›Wer zum Teufel isst bitte Eis ohne Hotteok?‹«
Juhyun schnaubt belustigt. »Na ja, das stimmt ja wohl auch.«
Akari lässt den Boxsack los, der quietschend an der Deckenhalterung hin und her schwingt. Wir nehmen alle unsere Wasserflaschen und trinken durstig, Akari spritzt sich noch etwas davon ins Gesicht.
»Alles ok, Rachel?«, fragt Juhyun und wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Du hast heute besonders hart zugeschlagen.«
»Denkst du immer noch über Mina nach?«, fragt Akari besorgt.
»Ay, Shibal! Was hat diese Ziege denn jetzt schon wieder gemacht?«, stöhnt Hyeri.
Ich erzähle den Zwillingen davon, wie Mina mich vor Mr. Noh zu den späten Proben im Nachwuchshaus eingeladen hat. Sie nicken verständnisvoll. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich bei ihnen über DB und vor allem über Mina beschwere.
»Sie hat das mit Absicht getan!« Mein Gesicht wird rot, als ich daran denke, was ich zu Mina gesagt habe. Ich seufze laut. Ich hätte nie sagen sollen, dass ich essen kann, was immer ich will. »Meine Mom lässt mich niemals ins Nachwuchshaus, und ihr wisst ja genauso gut wie ich, dass Mr. Noh es sofort erfährt, wenn ich heute Abend nicht dort auftauche. Und dann kann ich mich von meiner Zukunft verabschieden.« Bei diesem Gedanken durchfährt mich ein panisches Kribbeln.
»Dann geh hin«, sagt Akari. »Geh hin und zeig ihr und den anderen, dass du es ganz genauso verdient hast wie sie.«
»Und du? Dich hat sie doch auch eingeladen.«
Sie zuckt die Schultern. »Heute ist Familienabend auf der Basis, und da ist Anwesenheitspflicht. Ich würde kommen, wenn ich könnte, aber eigentlich ist es auch völlig egal. Ich bin jetzt seit fünf Jahren bei DB, und ich glaube nicht, dass Mr. Noh überhaupt weiß, wer ich bin. Wenn Yujin-Unni nicht wäre, wäre ich garantiert schon weg.«
Ich verziehe das Gesicht. Obwohl sie mit ihrer Familie in der Basis lebt, ist sie jeden Tag bei DB und trainiert mit Mina und den anderen. Und Akari kann unglaublich gut tanzen – Yujin sagt sogar, dass sie Frankie von Red Hot blass aussehen lässt, die objektiv gesehen die beste K-Pop-Tänzerin im Business ist. Trotzdem wissen wir alle, dass beim K-Pop-Training Talent nicht alles ist. Deshalb tun wir auch alle, was wir nur können, um von Mr. Noh und dem Rest des Managements beachtet zu werden. Denn alle dreißig Tage versammeln sich alle Trainees in der Halle vor dem gesamten Management und werden bewertet und beurteilt. Dort wird entschieden, ob man gut genug ist, um zu bleiben, oder ob man gehen muss. Nach sieben Jahren ständiger Bewertung ist das fast zur Routine geworden, doch vor ein paar Monaten wurde Akari nach dem Bewertungstag in Mr. Nohs Büro gerufen – ein sicheres Zeichen, dass sie gehen muss, dass sie nicht genug getan hatte, um aufzufallen. Ich weiß nicht, was Yujin gesagt oder getan hat, aber am nächsten Tag war Akari wieder da, ein bisschen still und niedergeschlagen, aber immerhin da. Sie hat die Sache seitdem nicht erwähnt. Ich werfe einen Blick zu den Zwillingen, die mit den Schultern zucken und genau wie ich nicht wissen, was sie sagen sollen.
»Schon okay, ich sage das nicht, um euer Mitleid zu bekommen.« Sie lächelt und wechselt schnell das Thema. »Es ist nur ein Abend. Und hier geht es schließlich um deine Zukunft.«
»Da stimme ich Akari zu«, sagt Hyeri und macht ihre Wasserflasche zu. »Du willst das mehr als alles andere, oder? Wenn eine späte Probe im Nachwuchshaus dazu beitragen kann, dann musst du eben hin.«
Ich werfe einen Blick zu Appa hinüber. Er ist am anderen Ende der Halle und vernichtet einen der Boxsäcke. Schweißtropfen fliegen nach allen Seiten. Er ist in seinem Element. »Ich weiß nicht«, sage ich. »Meine Mom würde ausrasten.«
Juhyun legt den Kopf schief. »Ist es das wert?«
Ich wische mir den Schweiß vom Gesicht. Ist es das wert? Das ist eine Frage, die ich mir jeden Tag stelle. Das ganze Training, all die verlorenen Wochenenden, die Opfer, die meine Familie bringt. Das Gefühl, nie wirklich dort hinzugehören, wo ich unbedingt sein will. Alles, um mir meinen Traum zu erfüllen, ein K-Pop-Star zu werden. Ich denke an die elfjährige Rachel. Das kleine Mädchen, das immer und überall zu spät kam, weil sie es nicht lassen konnte, zwischen den Unterrichtsstunden auf dem Klo K-Pop-Videos anzuschauen. Irgendwie hat sich gar nicht so viel verändert. Andererseits hat sich alles verändert.
»Es bedeutet mir alles.«
»Na also«, sagt Akari.
Juhyuns Augen glänzen unter dem Neonlicht. »Mina unterschätzt dich jedenfalls, Prinzessin Rachel.« Sie zieht ihre Boxhandschuhe aus. Ihre Bandagen und die perfekt manikürten Nägel mit blassrosa und dunkelblauem Blumenmuster kommen zum Vorschein. »Jetzt geh und zeig dieser Kuh, wer hier die Chefin ist.«
Ich drücke den Aufzugknopf mit der Nummer achtzehn, ganz zappelig, weil ich es plötzlich so eilig habe, nach Hause zu kommen und zu duschen, nachdem Appa es geschafft hat, Akari und mich dazu zu bringen, dass wir noch eine halbe Stunde mit ihm in den Ring steigen.
Das Erste, was ich höre, als ich unsere Wohnung betrete, ist K-Pop, dann Leahs Lachen und das Kichern einer ganzen Gruppe junger Mädchen. Ich schlüpfe in meine Hausschuhe und gehe Richtung Wohnzimmer, wo Leah mit den Mädchen aus ihrer Klasse auf dem Boden fläzt. Sie schauen sich das neueste Girls-Forever-Video auf ihren Handys an. Ich erkenne es sofort – die legendäre Kang Jina und der Rest der Gruppe, die alle in leuchtend orangefarbenen Jumpsuits vor einem tiefschwarzen Bühnenhintergrund tanzen. Das DB-Video, das am schnellsten viral gegangen ist, mehr als sechsunddreißig Millionen Klicks in nur vierundzwanzig Stunden. Leah steht auf, hält sich ihre Bürste wie ein Mikrophon vor den Mund und singt lautstark mit Jinas starkem Sopran mit. Ich muss lächeln. Sie hat definitiv Talent.
Als eine von ihren Freundinnen, ein Mädchen mit herzförmigem Gesicht und diamantenbesetzten Hello-Kitty-Ohrringen, mich sieht, stupst sie Leahs Zeh an. »Deine Unni ist zu Hause«, sagt sie und nickt zu mir.
Leah wirbelt herum und hält mir die Bürste hin. »Gib alles, Unni!«
Ich strecke halbherzig die Hand nach der Bürste aus, aber das Lied ist schon zu Ende, und eine peinliche Stille breitet sich im Raum aus.
»Schade«, sagt die Herzförmige. »Wir hätten eine Performance von einem echten K-Pop-Trainee hören können.«
Ein anderes Mädchen mit gestreiftem Hemd runzelt die Stirn. Sie begutachtet mein unordentliches, fettiges Haar und die lockere Jogginghose. »Ähm, bist du sicher, dass sie die K-Pop-Schwester ist? Vielleicht hat Leah noch eine andere.«
Leah lacht angespannt und lässt sich wieder auf den Boden fallen. »Nein, das ist sie. Ich habe nur eine Unni.«
»Die einzig Wahre«, sage ich.
Die mit den Streifen sieht schockiert aus. »Im Ernst?«
O Mann, Mina und ihre Crew können diesen bösartigen Mädchen nicht das Wasser reichen.
Leah verschluckt sich an einem weiteren Lachen, ihre Wangen sind ganz pink. »Kommt schon, Leute. Vertraut mir. Wisst ihr nicht mehr, die Mädchen aus der Neunten, die sie im Bus den ganzen Weg zum DB-Hauptquartier verfolgt haben, um zu sehen, ob sie wirklich dort trainiert? Seid nicht so wie die.«
»Wenn du wirklich ein echter Trainee bist, was kannst du uns dann über DB erzählen?«, fragt ein weiteres Mädchen. Sie beugt sich mit weit aufgerissenen Augen zu mir vor. »Siehst du manchmal Jason Lee?«
»Ich habe gehört, er hat heimlich eine Freundin, die er nur bei Vollmond sieht«, sagt die Vierte. »Stimmt das?«
»Wie romantisch«, seufzt die Herzförmige. »Stimmt es, dass er sich auf seinen Social-Media-Kanälen einen Superfan aussucht und ihn oder sie mit einem gemeinsamen Tagesausflug überrascht? Er ist einfach der Beste.«
Ich muss lachen. Selbst außerhalb von DB kann der Klatsch Jason ›Angel Boy‹ Lees unbeflecktem Ruf nicht im Geringsten schaden. »Na ja, eigentlich sehe ich ihn nicht wirklich oft.« Das ist die Wahrheit, aber offensichtlich nicht die Antwort, auf die die Mädchen gehofft hatten.
»Und was ist mit Electric Flower? Verstehen die sich alle gut miteinander? Ich wette, Mr. Noh mag Kang Jina am liebsten. Sie ist offensichtlich die Hübscheste.«
»Ich … ich weiß nicht?« Mein Körper ist wirklich müde von dem halbstündigen Boxkampf, und ich kann ihren Fragen kaum noch folgen.
Die Gestreifte seufzt genervt und bläst sich ihren Pony aus dem Gesicht. »Wie … interessant.« Sie läuft auf Zehenspitzen um das verschwitzte Sweatshirt herum, das ich auf den Boden habe fallen lassen. »Trainee zu sein ist wohl gar nicht so toll … oder so glamourös … wie wir dachten. Unser Fehler. Kommt schon, Mädels. Lasst uns im Coex shoppen gehen.« Sie nickt den anderen drei zu, würdigt Leah aber dabei keines Blickes. Sie stehen schnell auf und laufen im Gänsemarsch an mir vorbei, um ihre Schuhe anzuziehen.
»Ähm, wartet doch! Ich liebe Shopping!« Leah stolpert hinter ihnen her und sieht zu, wie diese die Wohnung verlassen. Sie lässt den Kopf hängen, als die Herzförmige die Tür hinter ihnen schließt. Autsch.
»Tut mir leid, Le…« Bevor ich den Satz beenden kann, wirbelt Leah zu mir herum. Ihr Gesicht ist ganz rot vor Ärger. »Unni! Würde es dich wirklich umbringen, einmal so zu tun, als wärst du eine von den Coolen?«
Verletzt weiche ich zurück. »Was? Hier geht es doch nicht um mich. Du hast jede Woche eine andere Gruppe von Mädchen hier – warum freundest du dich nicht mal mit Menschen an, die dich deinetwegen mögen und nicht wegen dem Tratsch, den sie hier erwarten?«
»Na ja … vielleicht hätten sie mich ja irgendwann gemocht! Du weißt schon, wenn du sie nicht mit deiner Ahjussi-Jogginghose und deinen ekligen Haaren verjagt hättest«, schnappt sie zurück. »Ich weiß genau, dass es eine Frauenumkleide in Appas Studio gibt. Sei nicht immer so faul.«
Ich seufze. Ich weiß, dass diese Mädchen keine echten Freundinnen sind, aber ich weiß auch, dass Leah traurig ist. Genau wie Appa hat sie nie darum gebeten, New York und das Leben, das unsere Familie dort führte, zu verlassen und um die halbe Welt zu reisen, damit ich meinen Traum leben kann. Und trotzdem unterstützt sie mich in allem, was ich tue. Bisher war sie noch zu jung, aber ich glaube, mittlerweile wünscht sie sich auch, zu einem DB-Casting zu gehen. Aber nach allem, was ich durchgemacht habe, würde Umma das niemals erlauben, und das weiß Leah ganz genau. Also hätte ich wahrscheinlich einfach ein bisschen Show für ihre Freundinnen machen können. Was hätte es schon geschadet?
Aber jetzt ist es zu spät.
Ich weiß trotzdem, wie ich sie aufheitern kann.
»Vielleicht ist ja der wahre Grund, weshalb ich deinen Freundinnen nicht gesagt habe, was bei DB los ist, dass ich es dir als Erster erzählen wollte.« Ich lasse mich auf die Couch fallen und klopfe neben mich. »Schwestern bekommen die Insiderinfos vor allen anderen.«
Zögernd setzt Leah sich neben mich. Sie rückt so weit wie möglich von mir ab und schaut mich herausfordernd an. Sie ist noch nicht bereit, ihre Wut gehen zu lassen, aber sie kann ihrer Neugier auch nicht widerstehen. Ich mache es so interessant wie möglich und erzähle ihr alles über meinen Showdown mit Mina im Medientraining, Minas Einladung ins Nachwuchshaus, die eigentlich eine Falle war, und Mr. Nohs Erklärung, dass meine Zukunft bei DB davon abhängt, ob ich heute Abend hingehe. Leah kommt immer näher, während ich rede, bis sie praktisch auf meinem Schoß sitzt.
»Unni!«, schreit sie und packt mich bei den Schultern. »Ein Abend im Nachwuchshaus! Das ist doch wirklich ein Traum.«
Ich lache und lasse zu, dass sie mich schüttelt wie einen Wackeldackel. »Freu dich nicht zu früh, kleine Schwester. Du weißt ganz genau, dass Umma mich nie gehen lässt.«
»Oh, stimmt ja.« Leah schlägt sich die Hände vors Gesicht.
Ich denke an mein Gespräch mit Juhyun zurück. »Natürlich«, sage ich fest entschlossen, »könnte ich mich einfach rausschleichen …?«
Leah quietscht begeistert. »Ich helfe dir, ich helfe dir! Ich hab’ sogar schon einen Plan!«
Ich runzele die Stirn. »Ich hoffe, ich muss dazu nicht aus dem Fenster unserer Wohnung im achtzehnten Stock klettern.« Meine kleine Schwester ist besessen von The Rock.
»Na gut, dann eben Plan B.« Ihre Augen glänzen. »Wenn du mir ein Autogramm von Jason Lee besorgst. Du weißt ja, ich bin total in ihn verknallt.«
»Für wen soll er es denn schreiben? Leah Kim, meine geliebte zukünftige Ehefrau?«
Sie kreischt wieder, lässt sich begeistert rückwärts auf die Couch fallen und zappelt mit den Füßen in der Luft herum. »Ich würde tot umfallen! Nein, zuerst würde ich es einrahmen, dann würde ich tot umfallen.« Sie setzt sich auf und greift nach meinen Händen. »Versprich mir, dass du es mit mir begräbst.«
Ich lache.
Wir hören, wie die Tür aufgeht. Umma ruft nach uns. Leah und ich schauen uns an. Wir haken unsere kleinen Finger ineinander, beugen uns vor, küssen unsere Fäuste und reiben unsere Wangen aneinander, unser ganz persönliches geheimes Kim-Schwestern-Versprechen, das wir uns vor Jahren ausgedacht haben.
Umma kommt ins Wohnzimmer. Sie hat eine Tüte mit Essen von Two Two Fried Chicken dabei. Abendessen. Umma ist Professorin für Sprachwissenschaft an der Ewha Women’s University, und weil bald ihre Revision ansteht, ist sie meistens zu müde, um noch zu kochen, wenn sie nach Hause kommt. Nicht, dass wir uns darüber beschweren würden. Ummas Vorstellung von einer selbstgekochten Mahlzeit ist es, ein Ei über einem Topf Shin Ramyun aufzuschlagen und eine Scheibe Sandwichkäse daraufzulegen – superlecker, aber es liegt definitiv schwer im Magen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass sie mich absichtlich mit Nudeln vollstopft, damit ich aufgebläht bin, wenn ich am nächsten Tag zum Training gehe. Eine kleine, unterbewusste Kaloriensabotage.
»Hunger?«, fragt sie und hält die Tüte hoch.
Wir greifen zu und kramen Boxen mit dampfendem Brathähnchen und Banchan, Daikon Kimchi und knackigem Salat voller Big-Mac-Soße hervor. Es ist kalt für April, also ist der Boden unter unserem Küchentisch schön warm. Ich setze mich hin und greife nach einem Stück Yangnyeom-Hähnchen. Die süßsaure Soße klebt mir jetzt schon die Finger zusammen. Umma legt ein paar Stücke von dem Hähnchen mit grünen Zwiebeln zur Seite, Appas Lieblingsessen. Er bleibt heute länger im Studio und reinigt die Boxsäcke, wie jede Woche (normalerweise bedeutet das, dass er zu seiner Vorlesung in Patentrecht geht), also essen wir nur zu dritt.
»Und, wie war dein Tag, Leah?«, fragt Umma.
Leah plappert drauf los, von Kang Jina und Electric Flower (»Sie ist ja so hübsch!«), Jason Lee (»Ich habe gehört, dass er eine Organisation gründet, die Musiktherapie für kleine Kindern in Korea anbietet. Ist er nicht süß?!«) und das neueste K-Drama auf Netflix (»Wenn Park Dohee in Oh My Dreams nicht bald ihre Erinnerung zurückbekommt, schaue ich nicht mehr weiter!«). Umma nickt und lächelt abwesend, während sie in ihrem Salat herumstochert. Ich löse sorgfältig die Haut von meinem Hähnchen und warte darauf, dass sie mich auch fragt, wie mein Tag war. Es ist Samstag, sie weiß also, dass ich bei DB war.
Leahs Geplapper wird endlich weniger, und ich bereite mich aufs Erzählen vor. Ich stelle mir vor, dass es dieses Mal anders ist. Dass Umma mich fragt, wie mein Tag bei DB war, und dass sie verständnisvoll zuhört, während ich ihr von Mina und Mr. Noh erzähle, und dass sie mir erlaubt, später zum Nachwuchshaus zu gehen. Aber als sie sich endlich zu mir umdreht, sagt sie nur: »Hast du deine Hausaufgaben fertig? Und die Hausarbeit, um die ich dich gebeten habe?« Sie schaut zu dem schmutzigen Geschirr im Spülbecken hinüber.
Zack. Traum geplatzt.
Mein Kiefer verspannt sich, als ich die Zähne zusammenbeiße. »Mein Tag war super, danke der Nachfrage. Ich habe den ganzen Tag trainiert, dann war ich bei Appa im Studio.« Ich halte kurz inne. »Tut mir leid, dass ich die Hausarbeit noch nicht geschafft habe.« Ich habe das Gefühl, an diesem Satz zu ersticken wie an einem Hähnchenknochen, der mir im Hals steckt. Es tut mir nicht leid, dass ich mich aufs Training konzentriert habe, aber sie hat so verärgert die Brauen zusammengezogen, wie früher, wenn wir uns in der New Yorker U-Bahn danebenbenommen haben, als würde sie sagen: »Du wirst noch den Tag bereuen, an dem du geboren wurdest.«
Sie seufzt und greift in ihre Tasche, die auf dem Tisch liegt. »Immer am Trainieren. Warum machst du nicht mal etwas anderes? Es ist nicht gesund, so besessen von einer einzigen Sache zu sein.« Sie zieht einen dicken Stapel Papier aus der Tasche und reicht ihn mir. Ich werfe einen Blick darauf und lese »Anmeldung zum Universal College« rechts oben in der Ecke. Mir wird ganz schwindelig vor Angst, als meine Mom breit lächelnd begeistert die Hände zusammenschlägt. »Rachel, die habe ich dir mitgebracht. Morgen ist am Ewha ein Seminar! Es ist extra für Schülerinnen der Highschool, um euch auf den Bewerbungsprozess am College vorzubereiten. Geh doch mal hin! Sie können dir mit diesen Formularen helfen, und vielleicht kann ich dir sogar danach noch den Campus zeigen.«
Es wird ganz heiß in meiner Brust, als ich die Hand hebe, um den Papierstapel von mir wegzuschieben, aber dann sehe ich Ummas Gesicht, ihr hoffnungsvolles Lächeln, und eine Welle an Schuldgefühlen schlägt über mir zusammen. Wir sind jetzt schon sieben Jahre hier, und ich habe mir immer noch nicht den Campus angeschaut, auf dem sie arbeitet. Das ist so anders als damals, als ich immer unter ihrem Schreibtisch gesessen und gelesen habe, während sie ihre Sprechstunden hielt. Ich nehme die Bewerbungsformulare mit einem Seufzen in die Hand. »Umma«, sage ich sanft. »Du weißt, dass ich Ehwa wirklich gerne sehen würde, aber ich … ich kann einfach nicht. Morgen ist Sonntag.«
»Wir sprechen hier über den Rest deines Lebens, Rachel, nicht nur diesen einen Tag«, sagt Umma leichthin.
»Ja, klar, aber … das Training ist doch für den Rest meines Lebens, oder? Ich meine, deswegen sind wir doch hergekommen?«
Leah legt ihr Hähnchen zurück auf den Teller. Ihr Blick wandert besorgt zwischen uns hin und her. Sie weiß, dass Umma und ich uns häufig wegen dieser Dinge in die Haare kriegen.
Umma schaut auf ihren Teller und seufzt. »Es gibt … viele Gründe, aus denen wir nach Korea gekommen sind.« Sie öffnet den Mund, so als wollte sie noch etwas sagen, aber dann schüttelt sie bloß den Kopf. Sie dreht sich zu mir um, und ich kann fast die Tränen in ihren Augen sehen, aber ihre Stimme ist klar und fest. »Du weißt, dass ich früher Volleyball gespielt habe.« Ich widerstehe dem Drang, die Augen zu verdrehen. Will Umma jetzt wirklich Volleyball in ihrem Highschool-Team mit meiner K-Pop-Ausbildung vergleichen? »Aber wo wäre ich wohl heute – wo wäre meine Familie –, wenn ich für diesen Traum alles aufgegeben hätte?«
»Aber das ist doch genau das, was du gerade von mir verlangst – alles aufzugeben, wofür ich so hart gearbeitet habe, nur für ein College-Seminar.« Ich stopfe mir ein Stück Hähnchen in den Mund, mit Haut und allem. Was scheren mich die zusätzlichen Kalorien?
Umma zuckt mit den Schultern. Sie sieht traurig, aber entschlossen aus. »Ich sage ja nur, dass du dir vielleicht deine Möglichkeiten offenhalten solltest.« Sie schiebt ein Kresseblatt auf ihrem Teller hin und her. »Du kannst nie wissen, was die Zukunft bringt, Rachel. Und wenn es mit deiner Ausbildung nicht klappt … Ich möchte nur nicht, dass dich das zu sehr überrascht.«
Meine Augen füllen sich mit Tränen, und ich blinzele, weil ich nicht möchte, dass sie mir über das Gesicht laufen. Selbst nach sieben Jahren trifft mich die Einstellung meiner Mutter meinem Training gegenüber sehr. Manchmal frage ich mich, ob sie es bereut, dass wir nach Seoul gezogen sind. Ob sie sich wünscht, dass wir Halmonis Wohnung einfach verkauft hätten und sie das Ganze hinter sich gelassen hätte. Oder ob sie überhaupt an mein Talent glaubt. Ich beiße mir auf die Lippe und möchte vom Tisch aufstehen, aber dann meldet sich Leah zu Wort. Sie stützt sich auf ihre Knie und dreht sich zu Umma.
»Lustig, dass du das Seminar erwähnst, Umma«, sagt sie. »Die Cho-Zwillinge machen ein Lernwochenende als Vorbereitung fürs College. Sie haben sogar einen Nachhilfelehrer engagiert, damit sie spät abends noch Unterricht bekommen können. Eine Übernachtungslernparty haben sie es, glaube ich, genannt. Oder, Unni?« Unschuldig lächelt sie zu unserer Mom hoch.
Ich setze mich auf. Jetzt oder nie, Rachel. »Stimmt«, sage ich langsam.
»Woher weißt du das?«, fragt Umma Leah und runzelt die Stirn.
»Ich habe gehört, wie Rachel mit Hyeri am Telefon darüber gesprochen hat«, lügt Leah gekonnt.
Ich konzentriere mich darauf, mein Hühnchen zu kauen und einen neutralen Gesichtsausdruck zu bewahren. Meine Damen und Herren, meine Schwester, die zukünftige Oscar-Gewinnerin.
Umma wendet sich an mich. »Warum hast du das nicht gesagt, Rachel? Das ist genau das, was du brauchst, um dich auf den richtigen Weg zu bringen.«
Ich nicke und schlucke eine weitere Welle der Enttäuschung mit dem Hähnchenfleisch herunter. »Ich … ich wollte nicht woanders übernachten, wenn ich nicht einmal meine Hausarbeit geschafft habe.« Ich werfe einen Blick auf die volle Spüle. »Tut mir leid«, sage ich wieder, nur zur Sicherheit.
»Oh«, sagt Umma. »Na ja, das Spülen wird nicht lange dauern. Warum machst du es nicht schnell fertig und gehst dann zu den Chos? So, wie ich ihre Eltern kenne, haben sie bestimmt den besten Nachhilfelehrer von Seoul engagiert. Ich packe dir ein bisschen Hähnchen zum Mitnehmen ein.«
»Wirklich?« Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich sie angelogen habe, aber nur eine Sekunde lang. Dann wird es von einer kribbelnden Energie ersetzt, die sich in meinem ganzen Körper ausbreitet. Meine erste Nacht im Nachwuchshaus! Ein Schritt näher an meinem Traum. »Danke, Umma.«
Sie lächelt und räumt ihren Teller ab, dann legt sie ein paar Stücke Hähnchenfleisch in eine kleine, leuchtend grüne Tupperdose. Als sie uns den Rücken zudreht, hebt Leah begeistert den Daumen. Ich zwinkere ihr zu. »Danke!«, sage ich lautlos.
Sobald ich das Geschirr gespült habe, mache ich, dass ich unter die Dusche komme. Schnell flechte ich mein Haar zu einem holländischen Zopf. Ich ziehe schwarze Leggins an und einen cremefarbenen Oversize-Pullover, gerade gemütlich genug. Dann ziehe ich meinen bequemsten Schlafanzug darüber – den mit Snoopy darauf, den ich im Frühling in Dongdaemun gekauft habe –, damit Umma keinen Verdacht schöpft. Ich werfe noch einen letzten Blick in den Spiegel, dann schnappe ich mir die Tupperdose und mache mich auf den Weg zu meinem ersten Abend im Nachwuchshaus.