I ch hasse Ärzte. Und Krankenhäuser hasse ich noch viel mehr.
Ich konnte meinen Unmut nur schwer verbergen. Tante Sara zuliebe beließ ich es bei einem genervten Schnauben und verkniff mir jeglichen Kommentar in Richtung der vorbeiziehenden weißen Kittel. Wir warteten nun schon drei Stunden auf einen Termin bei diesem Superspezialisten. Drei Stunden, in denen meine arme kranke Tante sich kaum auf dem Stuhl halten konnte. Es war eine Schande, dass sie uns so lange warten ließen. Wer war dieser super Arzt überhaupt, dass alle Welt zu ihm pilgerte wie zum Heiligen Gral?
Vierzehn Wochen hatte Tante Sara auf diesen Termin warten müssen. Der beste Onkologe des Staates war ausgebuchter als der Präsident. Es schien ihm egal zu sein, dass seine Patienten so schnell wie möglich Hilfe brauchten.
Bei einem genervten Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass wir nun schon fast vier Stunden hier herumsaßen und auf den kotzgrün-marmorierten Boden starrten.
»Wir sind ... sicher gleich an der Reihe«, redete Tante Sara mir gut zu.
Ich bewunderte ihren Mut und ihre Geduld. Meine war längst aufgebraucht. Das war sie eigentlich schon gewesen, als meine Tante ihre Diagnose bekommen hatte. Lungenkrebs war nichts, worüber man Späße machte. Und seitdem ich wusste, dass unsere Zeit begrenzt sein könnte, war ich immer hin und her gerissen zwischen Arbeiten und Kartenspielen mit ihr.
»Ich habe Karten dabei, wenn es noch länger dauert, spielen wir, oder?«, wandte ich mich mit einem aufgesetzten Lächeln an sie.
Sie drückte meine Hand. »Es ist sicher gleich soweit.«
Ihre Stimme klang dünn und brüchig, aber die Wärme darin war noch immer dieselbe. Ich konnte sie nur bewundern. Denn ich wüsste nicht, wie ich mit einer Diagnose, wie ihrer umgehen würde.
Unvermittelt schob sich ein ganz anderes Bild in meinen Kopf. Heiße nackte Körper, Stöhnen und Keuchen und der Geruch von Holz und Leder. Zwei Wochen war es her, dass ich den besten Sex meines Lebens gehabt hatte und seitdem träumte ich jede Nacht davon. Natürlich war mir klar gewesen, dass das Ganze nur ein Spiel gewesen war, ich war nur der Spielball für einen reichen Mann gewesen. Und doch hatte ich jede Sekunde davon genossen. Mehr sogar, als ich mir selbst eingestehen wollte.
»Soll ich uns Tee besorgen?«, wandte ich mich an Tante Sara, da jetzt definitiv nicht der richtige Zeitpunkt dafür war, in Erinnerungen zu versinken.
Die Sache mit Mr. Dawn war ein einmaliges Erlebnis gewesen. Eines, das sich so niemals wiederholen würde. Es war ein Traum, der irgendwann verblasste.
»Sara Jones?«, rief eine Schwester und sorgte dafür, dass ich fast vom Stuhl kippte.
»Hier«, sagte meine Tante und hob die Hand.
Mein Kreislauf stolperte genauso wie meine Füße, als ich mich viel zu schnell aufrichtete. Aber ich fasste mich rasch und bot meiner Tante den Arm an. Sie konnte auch ohne meine Hilfe gehen, aber ich spürte sehr deutlich, wie aufgeregt sie war. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte.
»Er soll der Beste sein«, murmelte sie auf dem Weg zum Behandlungszimmer. »Rosie hat von ihm in den höchsten Tönen geschwärmt. Mit seiner Hilfe hat sie ihren Krebs innerhalb weniger Wochen besiegt.«
»Es wird alles gut.« Ich wusste, dass es eine Floskel war, die ich in den letzten drei Monaten viel zu häufig gebraucht hatte. Aber es war das Einzige, woran ich mich klammern konnte. Hoffnung. Ich wollte sie nicht verlieren. Das Leben war grausam genug und für uns, die jeden Cent umdrehen mussten, sogar noch härter.
»Setzen Sie sich bitte, der Doktor kommt gleich«, sagte die Schwester und schloss hinter uns die Tür.
Tante Sara zitterte ein wenig. Ich setzte sie behutsam auf dem bequemen Armlehnensessel ab, der vor einem riesigen weißen Schreibtisch stand.
Das Zimmer wirkte gar nicht wie das eines Arztes. Mehr wie ein Büro in einem Hochhauskomplex. Ich musste es wissen, denn ich putzte solche Büros öfter. Und ich sah dabei auch, wie unfassbar verschwenderisch und arrogant Menschen mit Geld sein konnten. Sie kauften sich irgendwelche komischen sinnlosen Skulpturen, während andere sich nicht mal eine ärztliche Behandlung leisten konnten. Es war einfach ungerecht und das Behandlungszimmer von diesem Superonkologen passte leider ziemlich genau ins Bild.
»Meinst du, er ist Millionär?«, fragte ich mit Blick auf das Modellauto einer Corvette im Regal hinter dem Schreibtisch.
»Vielleicht, aber das geht uns nichts an«, war die wieder mal vernünftige Antwort meiner Tante.
* * *
Der Superspezialist kam natürlich nicht innerhalb von fünf Minuten. Eine halbe Stunde saßen wir nun schon in seinem Büro und ich hatte einfach schon alles gesehen, was meine Augen erreichen konnten.
Tante Sara hing immer schiefer im Sessel und versuchte ihren rasselnden Atem zu kontrollieren.
Ich stand kurz davor auszuflippen. Bevor ich noch den teuren iMac runterstieß, stand ich auf und ging ein paar Schritte im Raum. Ich war so voller Wut, dass ich einfach nicht mehr sitzen konnte. Wie konnte ein Arzt, der Menschen mit schweren Krebsleiden behandelte, sich nur guten Gewissens so viel Zeit lassen?
»Setz dich bitte wieder hin, Jack«, bat mich Tante Sara.
»Ich schwöre dir, ich raste gleich aus.« Ich konnte ihrer Bitte nicht nachkommen. Stattdessen lief ich wie ein Tiger im Käfig auf und ab. Je mehr ich mir die noble Einrichtung ansah, desto mehr war mir zum Kotzen zumute. Ärzte waren Arschlöcher und ich war mir nicht sicher, ob meine extra Überstunden das ganze überhaupt wert waren.
»Bitte.«
Ich seufzte, nickte aber. Ich wollte Tante Sara nicht noch mehr Kummer bereiten. Sie schlug sich wacker, obwohl sie sichtbar mit den Schmerzen zu kämpfen hatte.
Als ich gerade zurück auf meinen Platz gehen wollte, fiel mein Blick auf einen Bilderrahmen auf dem Tisch. Er war so gedreht, dass ihn der Besitzer nur von seinem Schreibtisch aus erkennen konnte.
Ich wollte mir ansehen, welcher Lackaffe uns so lange warten ließ und erstarrte. Das Gesicht kam mir bekannt vor. Es war ein Junge, keine zehn Jahre alt, doch seine Züge hatte ich schon mal gesehen. Eine Ecke war schwarz abgeklebt.
Ist das? Kann das sein?
»Jack«, zischte Tante Sara, als ich das Bild in die Hand nahm, um es genau zu betrachten. »Stell es bitte wieder hin. Du kannst doch nicht-«
Die Tür schwang auf und krachte beinahe gegen die Wand. Mit dem Wind wurde der Geruch von Holz und Leder hereingetragen.
Ich hob den Kopf und mein Herz setzte aus. Der Bilderrahmen glitt mir aus den Fingern und fiel krachend zu Boden. Glas zerbrach, als ich den dicken Kloß in meinem Hals herunterschluckte.
Das darf nicht wahr sein.