Hilfe für die magischen Jahre
Kinder entwickeln dabei: Zwischen zwei und fünf Jahren ist das Denken der Kinder magisch. Diese »magischen Jahre« sind eine wichtige Phase in der Persönlichkeitsentwicklung des Vorschulkindes. Diese Gedankenwelt ist vielen Erwachsenen fremd. Kinder stehen der »unsichtbaren« Welt sehr nahe. Fantasie, Traumbilder und Märchenwesen entsprechen ihrem Entwicklungsstand.
Spiel ist die Sprache des Herzens. Wer sie hören kann, erfasst die Gedanken- und Erlebniswelt der zwei bis fünfjährigen Kinder und bekommt Verständnis für das Geheimnis dieser magischen Zeit.
In diesem besonderen Zeitraum sind für kleine Magier Gedanken und Taten dasselbe. Sie glauben, dass Wünsche wirkliche Ereignisse herbeizaubern können. In dem Zauberwort »Abrakadabra« steckt so viel Kraft, dass sich aus Kindersicht alles verwandeln lässt. Die Vorschulzeit sind die Jahre des Zauberhaften, aber auch die Jahre der Ängste und Kämpfe mit Gespenstern, Tigern und Drachen.
Die Ängste eines Zweijährigen sind nicht dieselben wie die eines Fünfjährigen, selbst wenn dasselbe Krokodil in seiner inneren Vorstellung unter dem Bett liegt. Denn das Zweijährige glaubt, dass das Krokodil wirklich unter dem Bett daliegt. Mit Vernunft ist ihm nicht beizukommen.
Das fünfjährige Kind weiß schon um die Gleichzeitigkeit von Spiel und Realität. Trotzdem glaubt es noch an magische Kräfte. Das Ungetüm steht glasklar vor seinem inneren Auge... Manchmal fängt ein Fünfjähriges an, Probleme auch über die Sprache zu lösen. Das kann das Zweijährige nicht, weil es der Sprache noch nicht mächtig ist.
Kinder kämpfen in der frühen Kindheit mit den gefährlichen Geschöpfen ihrer Vorstellung. Sie müssen sich den Gefahren der inneren und der äußeren Welt stellen. Das gehört zum Entwicklungsweg jedes Heranwachsenden: Kinder verlassen symbolisch das Schloss der Geborgenheit, gehen durch den Wald ihrer Gefühle, stellen sich Gefahren und lösen Probleme, genau wie der Held oder die Heldin im Märchen, die ausziehen, das Fürchten zu lernen, Prüfungen zu bestehen und Rätsel zu lösen. Am Schluss kehren sie zurück und werden König oder Königin. Durch ihren handelnden Weg sind sie zu eigenständigen, souveränen Menschen geworden. »Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute...«
Was sehen und erleben Kinder anders?
Das Kind ist davon überzeugt, dass alle Dinge eine Seele haben, dass sie lebendig sind und fühlen und handeln können. Ein Stein lebt für das Kind, weil er einen Abhang hinunterkullern oder durch die Luft fliegen kann. Es glaubt, dass der Fluss lebt und einen eigenen Willen hat, weil sein Wasser fließt. Jeder Baum erscheint ihm als lebendiges Wesen, weil er seine Äste im Wind schütteln kann und seine Blätter tanzen lässt. In diesem Alter ist die Trennungslinie zwischen leblosen Gegenständen und lebendigen Wesen fließend.
Kinder sind überzeugt, dass wir die Sprache der Bäume, des Windes und des Wassers verstehen können, wenn wir nur gut genug hinhören. Sie unterhalten sich mit ihren »stummen« Spieltieren und Puppen. Sie sprechen auch mit ihren unsichtbaren Freunden, die sie oft über Jahre begleiten.
Das Kind geht davon aus, dass die Beziehung zur unbelebten Welt gleichgeartet ist wie die zur belebten Welt. Es zeigt spontan alle Gefühle. Es streichelt und küsst die Mutter, weil es sie liebt. Also wird auch jeder andere liebenswerte Gegenstand geküsst und gestreichelt: eine Halskette etwa, ein Spiegel, ein Spielzeug oder ein Paar Schuhe.
Stößt sich das Kind an der Tischkante, schlägt es den Tisch, weil er böse ist. Fällt vor ihm eine Tür ins Schloss, tritt es wütend dagegen und schimpft mit ihr. Es bestraft die Tür, weil es sicher ist, dass diese aus böser Absicht gehandelt hat.
»Hör auf mit den Lügen!«
In dieses kindliche Weltbild dringen nun die Erwachsenen ein und weisen das Kind zurecht: »Das gibt es nicht! Dinge können nicht fühlen und sprechen! Schluss mit dem Blödsinn, es ist unmöglich, dass du im Ausguss der Badewanne verschwindest! Grüne Sonnen gibt es nicht!« Und wenn das Kind eine Fantasiegeschichte erfindet, sagen sie nicht selten: »Hör auf mit den Lügen!«
Um den Erwachsenen zu gefallen und nicht lächerlich gemacht zu werden, täuscht das Kind vor zu glauben, was ihm gesagt wird. Doch tief in seinem Herzen ist es anderer Überzeugung. Unter dem rationalen und materialistischen Einfluss der Erwachsenen vergräbt das Kind sein wahres Wissen in sich. Es glaubt einfach nicht, was ihm da erzählt wird, weil es die Welt anders erlebt.
Für Kinder ist Sichtbares und Unsichtbares in gleicher Weise Realität. Deswegen kommen sie oft in einen inneren Zwiespalt. Hier können die Ursprünge von Ängsten, Problemen und negativen Verhaltensweisen liegen, welche die Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen.
Es braucht eine bestimmte Reife, bis Kinder den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge verstehen. Zwischen zwei und sechs Jahren leben die Kinder wie gesagt im magischen Alter. Für sie ist alles, was sich bewegt, beseelt und lebendig. Darum ist es für sie selbstverständlich, dass Tiere im Märchen sprechen, sich Leute in Steine verwandeln oder zur Frau Sonne in den Himmel steigen, um sich Rat zu holen. Kinder wandeln traumsicher zwischen der realen und der unsichtbaren Welt hin und her. In diesem Alter fällt es ihnen schwer, Wirklichkeit und Fantasie voneinander zu trennen. Sie malen sich in Geschichten aus und glauben an das, was sie gerade schildern. Das hat mit bewusstem Lügen nichts zu tun, sondern mit dem magischen Alter und ihrer reichen Fantasie!
Ist Fantasie gefährlich?
Andere Ausdrücke für Fantasie sind etwa: Einbildungskraft, Vorstellungsvermögen, Schöpferkraft, Erfindungsgabe, Bildkraft und Eingebung. Es zirkulieren auch negative Ausdrücke wie Dunstbild, Übertreibung, Wahn, Trugbild, Schwärmerei und Hirngespinst. Nach diesen unterschiedlichen Vorstellungen von Fantasie stellt sich uns die Frage: Ist Fantasie gefährlich? Kann sie Kindern schaden? Nein, natürlich nicht! Fantasie, Vorstellungsvermögen, innere Bildkraft und Erfindungsgabe sind sogar unerlässlich für ihre gesunde Entwicklung.
Fantasievolle Kinder sind bloß für uns Erwachsene manchmal unbequem. Sie haben eigene Ideen, sind selbstständig, schöpferisch und voller Tatendrang. Sie passen nicht in unseren genormten Alltag. Sie sind nicht pflegeleicht und schlecht steuerbar. Fantasie ist für Kinder eine Quelle der Lebensfreude und Kraft. Für Erwachsene sind fantasievolle Kinder oft ein Störfaktor und ein Ärgernis.