27.

Margrethe Franck hatte die Hände vor dem Gesicht gefaltet und mit leichter Skepsis im Blick zugehört,

Dass sie heute einen Volltreffer gelandet hatte und es ihr gelungen war, den Toten vom Strand als den ehemaligen Jägersoldaten Flemming Bülow zu identifizieren, hatte sie ihm schon auf der Rückfahrt von Aalborg am Telefon erzählt.

Er reichte ihr zwei kleine wiederverschließbare Plastiktüten.

»Hier, schau selbst.«

Franck setzte ihre Lesebrille auf und betrachtete den Inhalt gründlich von allen Seiten.

»Die Tabletten? Zusammen mit den Spuren, die du gefunden hast, würde ich sagen: Ganz sicher ja, das waren die vier Veteranen. Aber dieser kleine hellgrüne Schnipsel hier?«

Sie wedelte mit der Tüte.

»Also ich weiß nicht, Niels … Wir leben in einer Gesellschaft, die in Plastik erstickt. Auf den Weltmeeren treiben ganze Plastikinseln herum und unsere Nahrungskette ist mit Mikroplastik durchseucht. Eines schönen Tages werden wir noch Plastikfische aus der Nordsee angeln … Wie soll dieses kleine Stück da eine echte Spur sein? Es könnte auch einfach dorthin geweht worden sein.«

»Egal, woher es stammt – es hat auf keinen Fall monatelang draußen gelegen. Sind wir uns da einig?«

Sie nickte und betrachtete wieder den Inhalt der Tüte.

»Man geht davon aus, dass es rund fünfhundert Jahre dauert, bis Plastik in der Natur verrottet ist. Wusstest du das?«

»Nein.«

»Aber es sieht von beiden Seiten wie neu aus. Also ja, wir sind uns einig. Und natürlich lassen wir das Teil im Labor untersuchen. Sonst noch was?«

Er erzählte ihr, wie er der Windschutzhecke bis ans Ende

»Die vier Veteranen sind also mit dem Bus angekommen. Es gibt mehrere Linien, die in Bindeballe halten. Vermutlich sind sie mit dem Zug nach Vejle gefahren und dort in den Bus umgestiegen.«

»Interessant. Und wo war der Schütze? Wenn deine Theorie stimmt, dann müsste er die Veteranen ja im Bus beschattet haben.«

»Ich gehe davon aus, dass er mit dem Auto gefahren ist. Er könnte die Veteranen abgehört haben. Dann kannte er ihre Pläne und hat in Bindeballe auf sie gewartet.«

»Wir brauchen handfeste Belege dafür, dass sie dort waren, also schicken wir jemanden hin, der die Anwohner abklappert. Hast du noch mehr?«

Er schüttelte den Kopf.

»Du bist dran.«

Franck griff nach ihrem Notizbuch.

Wie an den beiden vorhergehenden Abenden saß sie auf ihrem Bett, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, das leere Hosenbein über die Bettkante baumelnd. Diesmal lag die Prothese auf ihren Schnürstiefeln.

»Wie du ja schon weißt, haben wir die Identität des Toten von Tuse Næs. Der Chef der Jäger-Basis hat ihn auf den Fotos sofort erkannt. Er heißt, wie gesagt, Flemming Bülow. Neununddreißig Jahre, geschieden, vor vier Jahren aus dem Jägerkorps ausgeschieden. Aber dir sagt der Name nichts, oder?«

»Keine Vorfälle, keine Streitigkeiten, ein ganz gewöhnlicher Typ – so gewöhnlich, wie ein Jäger eben sein kann. Er hatte verschiedene Auslandseinsätze hinter sich. Welche, konnte man mir nicht sagen. Als Begründung für sein Ausscheiden hat Bülow angegeben, er habe Lust auf etwas Neues. Und damit hat er alles hinter sich gelassen.«

»Wo kam er her?«

»Tønder. Mehr weiß ich nicht, aber ich habe meine Quelle schon auf der Rückfahrt mit Nachforschungen beauftragt. Wir können nicht über die üblichen Kanäle gehen. Sonst verraten wir, dass wir etwas wissen. Ich denke, dass ich morgen mehr erfahren werde. Für den späteren Abend wurden mir übrigens auch noch Informationen zu unserer kleinen Freundin Sally Finnsen versprochen.«

Franck trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Stumpf ihres Oberschenkels unter der zerschlissenen Jeans.

Sie hatte die Brille auf der Nase, die Ponysträhne in die zerzausten blondierten Haare zurückgestrichen und strahlte eine enorme Energie aus. Langsam kam Bewegung in die Sache. Die ersten Informationen flatterten herein. In solchen Phasen lebte Margrethe Franck so intensiv wie nie und schien sich von dieser hektischen Aktivität förmlich zu ernähren.

Sie stemmte sich aus dem Bett, ließ sich auf den Boden sinken, mit der Bettkante als Rückenlehne, und zog sich ein paar Stücke weiße Pappe heran, die unter einer kleinen Plastiktüte lagen. Sie nahm eine Handvoll dicker Edding-Stifte in verschiedenen Farben und eine große Rolle Packband.

»Setz dich zu mir, Niels. Oh, und bring mir bitte ein Glas Wasser mit.«

Er schenkte ihr Wasser ein, reichte ihr das Glas und setzte

Die Schlange kroch noch immer an ihrem linken Ohr hoch. Ganz in seiner Nähe. Er sah ihr Auge. Einer Schlange tief in die Augen zu blicken, konnte einen in Hypnose versetzen. Er blinzelte … Für den Bruchteil einer Sekunde sah er ein silbernes Kamel davontraben, dann züngelte die Schlange plötzlich mit ihrer gespaltenen Zunge, und er musste …

 

»Ist es die Schlange? Die kennst du doch? Aber du hast sie nie gemocht, oder? Zumindest hast du nie etwas Nettes darüber gesagt …«

Sie spürte, wie Niels Oxen neben ihr versteinerte, und sie hatte das Gefühl, dass er die Schlange an ihrem Ohr anstarrte. Sie drehte sich zu ihm um und schaute ihm in die Augen.

»Oder?«

Er sah sie fragend an.

»Oder was?«

»Oder magst du die Schlange?«

Oxen zuckte mit der Schulter.

»Die Schlange? Von so was habe ich keine Ahnung. Darüber habe ich auch gar nicht nachgedacht. Ich habe überlegt, wie wir jetzt weitermachen sollen.«

»Niels, weißt du, was die giftigste Schlange der Welt ist?«

»Warum? Ist das ein Witz?«

»Nein. Nur so.«

»Der Inlandtaipan, der in den Wüstengegenden Australiens

»Hundertdreißigtausend? Wahnsinn … Über solche Themen weißt du wirklich alles, oder? Aus dem Fernsehen? … Ich kenne ja nur eine Art Viper.«

»Was für eine?«

Sie wusste, dass Oxen sich in der Tierwelt unglaublich gut auskannte. Er sah sie fragend an.

»Dodge Viper«, antwortete sie grinsend.

»Dodge?«

»VX I, fünfte Generation, 8,4 Liter Motor, 650 PS. Der könnte sogar meinen Mini aus dem Nest schubsen. Okay, lass uns anfangen. Wir haben das bei unseren Ermittlungen ja schon öfter gemacht, wenn wir keinen Zusammenhang erkennen konnten.«

Sie nahm die Rolle mit dem Packband, drehte sich um, stellte sich auf das eine Knie und balancierte sich mit dem Stumpf ihres Oberschenkels aus. Dann klebte sie vier Kartons zu einer Art Tafel zusammen, während sie Oxen in Bezug auf die Lagebesprechung im Präsidium in Vejle auf den aktuellen Stand brachte.

»Hauptsächlich ging es um die Verbindungen der vier Toten vom Shelterplatz untereinander. Der Chefermittler aus Næstved war auch da. Er hat berichtet, was sie bisher über die Beziehungen der drei aus der Kiesgrube herausgefunden haben. Und

Sie beugte sich vor und fing an zu schreiben.

»Also, die beiden Fälle heißen offiziell ›Shelter‹ und ›Kiesgrube‹, und sie sind auch unter diesen Namen im PEDpoint abgespeichert, falls du …«

»PEDpoint? Was ist das?«

»Ach so, ja, das ist so neu, dass du es noch nicht kennst. PEDpoint ist ein Dokumentationssystem für Ermittlungen, das bei großen, schweren Fällen genutzt wird, in die mehrere Polizeibezirke involviert sind. Eine gemeinsame Database, auf die alle Zugriff haben, die an der jeweiligen Ermittlung beteiligt sind.«

»Schlau. Wäre noch besser gewesen, wenn man das schon länger erfunden hätte. Kurz nach dem Rad vielleicht …«

»Du kennst das Behörden-Tempo, Niels. Aber wenn du irgendetwas brauchst, kannst du dich über meinen Zugang in die Datenbank einloggen. Lass uns hier dieselben Kategorien verwenden wie in den offiziellen Ermittlungsunterlagen.«

Sie schrieb »Shelter« auf die Tafel und listete die Nachnamen der vier Opfer darunter auf. Dann schrieb sie »Kiesgrube« und entsprechend die Namen der drei Toten.

»Wir klassifizieren die einzelnen Personen, indem wir den Namen des Falls voranstellen, Schrägstrich und dann den Nachnamen. Starke Verbindungen untereinander kennzeichne ich mit roten Linien, schwächere mit gelben.«

Sie schaute über die Schulter zu Oxen. Er sah ihr aufmerksam zu.

»Die Antwort kam erst am späten Nachmittag, war also nicht mehr Teil unserer Besprechung. Lass uns die Namen braun unterstreichen, bei denen uns relevante Informationen der Militärjustiz vorliegen.«

 

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und gähnte. Sie waren mit allem durch für heute. Franck erklärte, immer noch enthusiastisch, eine letzte Verbindung zwischen zwei der Kriegsveteranen. Es war eine gelbe.

»Schau, das könnte vielleicht interessant sein. Der hier aus der Sheltergruppe ist im Therapiezentrum Teglgård wegen PTBS behandelt worden. Dasselbe gilt für den hier aus der Kiesgrubengruppe.«

Franck zeigte auf die beiden untersten Namen in jeder Spalte.

»Zur selben Zeit?«, fragte er.

»Nein, deshalb auch nur gelb. Der Teglgård ist auf die Therapie und Unterstützung von Kriegsveteranen spezialisiert. Übrigens mit sehr guten Ergebnissen. Kennst du die Einrichtung?«

»Ich habe davon gehört. Die Stiftung wird von einem ehemaligen Jäger geleitet. Sein Name fällt mir aber nicht mehr ein.«

Franck richtete sich auf und streckte sich. Sie hatte die ganze Zeit auf dem Boden gekniet und, nur von wenigen Pausen unterbrochen, über eine Stunde lang geschrieben, geredet und zusammengefasst.

Zwischen Silberschlangen, Kamelen und dem Duft von Kräutern hatte er sich für einen kurzen Moment von der Tatsache ablenken lassen, dass Margrethe Franck immer noch einen

Ihr Vortrag hatte allerdings eine solche Konzentration erfordert, dass ihm keine freien Ressourcen blieben, um diese (Wieder-)Entdeckung in einen größeren Kontext zu bringen. Aber sollte er das überhaupt?

Sie drückte sich hoch auf die Bettkante und betrachtete ihr Werk. Namen, Farben, Pfeile und Verbindungslinien.

»Ergibt das Sinn, Niels?«

»Wenn man sich genauer damit beschäftigt, ja …«

»Wir müssen noch unseren tätowierten Jäger unterbringen, aber das muss warten.«

»Vor allem vor dem Hintergrund, dass er nicht unbedingt Teil des Ganzen ist«, fügte er hinzu.

Jetzt gähnte auch Franck herzhaft.

Er studierte noch einmal die Tafel. Da waren klare Linien, da waren Möglichkeiten und Sackgassen, da war ein Meer aus offenen Fragen – und vermutlich ebenso viele, die sie noch gar nicht sehen konnten.

Er schielte wieder auf seine Uhr. In ein paar Minuten war Mitternacht. Zeit, schlafen zu gehen. Er wollte gerade aufstehen, als Francks Handy ein kurzes Signal von sich gab.

Sie riss die Augen auf.

»Wow. Die Ergebnisse der Nachforschungen zu Sally Finnsen sind gerade gekommen.«