Hatte er soeben das Gatter geöffnet und den Wolf ins Schafsgehege gelassen?
Er saß in seinem Hotelzimmer in Vejle und hinterfragte seine eigene Entscheidung, während das Handy noch in seiner Hand auf dem Oberschenkel lag.
Oder war er in einem Geniestreich die einzige Allianz eingegangen, die ihnen bei den Ermittlungen zu einem echten Durchbruch verhelfen konnte?
Die Antwort ließ auf sich warten.
Er hatte nur ein paar Minuten gebraucht, um sich zu entscheiden. Ein paar Minuten raschen Abwägens nach Axel Mossmans Scheinmanöver. Denn natürlich hatte Mossman nicht angerufen, um sich nett zu unterhalten. Nicht mit ihm. Also hatte er den Großmeister zurückgerufen, kurz nachdem sie aufgelegt hatten.
Das Handy vibrierte auf seinem Oberschenkel und das Display leuchtete auf. Es war eine SMS von Margrethe Franck.
»Heute Abend kein Treffen. Komme erst nach Mitternacht zurück.«
Es gab nur zwei mögliche Reaktionen, wenn Franck erfuhr, dass er Axel Mossman ins Boot geholt hatte. Sie würde komplett ausflippen. Oder seinen Argumenten gelassen zustimmen und die Entscheidung gutheißen. Dazwischen gab es nichts.
Er hatte Axel Mossman erzählt, dass sie nach einem gewissen Flemming Bülow suchten, einem ehemaligen Jägersoldaten.
Aber er hatte ihm nicht erzählt, dass der Betreffende gut gekühlt in der Rechtsmedizin lag.
So funktionierte das Spiel mit dem Großmeister. Man gab ihm ein kleines bisschen. Und behielt ein wenig für sich. Man sorgte für Bewegung, indem man einen Handel einging und kleine oder große Informationsbrocken austauschte. Das hatte er während seiner Zeit mit dem anglophilen Riesen schnell gelernt, der längst nicht mehr so riesig war.
In Wahrheit war es die Tatsache, dass Bülows Exfrau Jack Bræmer so eindeutig wiedererkannt hatte, die ihn zu dem schnellen Entschluss gebracht hatte, Axel Mossman zu aktivieren.
Irene Honoré hatte sich an ihren alten Deutschlehrer erinnert und deshalb auch an Shelter/Bræmer, der in ihrem Carport neben der Mülltonne gestanden und mit ihrem Mann Dosenbier getrunken hatte.
Diese Erinnerung hatte zwei ihrer zentralen Figuren zweifellos miteinander verbunden, und das bedeutete, dass zwischen dem getöteten Jägersoldaten vom Strand und den beiden Anschlägen des Heckenschützen, die sieben Veteranen das Leben gekostet hatten, ein Zusammenhang bestehen konnte.
Der PET hatte ihn für die Veteranen-Fälle angeheuert und auch Margrethe Franck darauf angesetzt. Und zwar nur wenige Stunden nachdem ihr Chef sie zunächst mit dem seltsamen Auftrag losgeschickt hatte, die Bergung der Leiche vor Tuse Næs zu überwachen.
Also hing Flemming Bülows Tod mit den beiden anderen Fällen zusammen, und der PET war in alle drei verwickelt. Sie konnten es nur noch nicht beweisen. Aber bevor sie sich wieder an die PET-Spitze wenden und Fragen stellen – oder Antworten verlangen – konnten, mussten sie sich zuerst in eine günstigere Position bringen.
Abgesehen davon, dass Irene Honoré Jack Bræmers Visage erkannt hatte, gab es noch einen anderen Umstand, der ihn in seinem Verdacht bestärkte, dass es einen Zusammenhang zwischen Bülow und dem PET gab:
Der ehemalige Jägersoldat hatte offenbar vom großen Geld geträumt, um sich sein Leben zu versüßen, und mit der Securitybranche geflirtet, die ebenso undurchsichtig und moralisch verdorben war wie die Hauptdarsteller in der Welt der Geheimdienste.
Die Art und Weise, wie Flemming Bülow plötzlich von der Bildfläche verschwunden war und sich nur noch per E-Mail zu Wort gemeldet hatte, selbst als es um den Hausverkauf ging, deutete darauf hin, dass er im Begriff gewesen sein könnte, in gewisse Kreise aufgenommen zu werden, und sich in einem Vakuum oder einer Ruhezone befand, die durch so etwas Profanes wie einen Hausverkauf nicht gestört werden sollte. Zumindest nicht, indem er persönlich zu irgendwelchen Besprechungen bei seiner Exfrau in Tønder erschien.
Mit der bestätigten Verbindung zwischen Bülow und Bræmer konnte die Theorie aber auch ganz anders aussehen. Der ehemalige Jägersoldat könnte kriminell gewesen sein und mit dem Kriegsveteranen aus Esbjerg gemeinsame Sache gemacht haben, auf eine Weise, die über die Zuständigkeit der Polizei weit hinausging und in das Interessengebiet des PET hineinreichte.
Den Entschluss, Axel Mossman die Tür zu öffnen, hatte er im Gedanken an einen Satz gefasst, den Margrethe Franck schon mehrfach im Zusammenhang mit der Liquidierung der Veteranen geäußert hatte: It takes one to catch one.
Entweder würden sie es allein gar nicht schaffen, sich zu der Wahrheit über Flemming Bülow vorzuarbeiten – oder aber es würde viel zu lang dauern und zu viele Ressourcen verschlingen. Deshalb brauchten sie einen Menschen, der die richtigen Kontakte hatte und sich routiniert in der Welt der Schatten bewegen konnte.
Axel Mossmans fleischiges Gesicht hatte inzwischen lose Hautfalten und an Volumen verloren, und er hatte schon oft gedacht, dass der alte PETler ihn zunehmend an einen melancholischen Bluthund erinnerte.
It takes one to catch one war sicher nicht verkehrt. Nur war es in diesem Fall kein Soldat. Stattdessen hatte er sich dafür entschieden, einen Bluthund auf die Fährte anzusetzen. Einen erfahrenen, alten Bluthund mit einer äußerst empfindlichen Spürnase.