62.

Vier Telefongespräche, die ihn mitsamt der Wartezeit aufgrund von Besprechungen und bürokratischer Trödelei über drei Stunden gekostet hatten.

So viel war nötig gewesen, um zum Heiligen Gral durchgestellt zu werden, oder besser gesagt in sein Vorzimmer. Der Gral war natürlich Aaron Goldschmidt, Divisionschef und einer der zehn mächtigsten Männer des israelischen Geheimdiensts, des Mossad.

»My good old friend from Denmark, Axel Mossman …« So hatte der alte Riese in Tel Aviv ihn am Telefon begrüßt, nachdem es ihm endlich gelungen war, das letzte Hindernis zu überwinden und vom Vorzimmer zu ihm durchgestellt zu werden.

Sie waren gleich alt, und auch der Chef der Abteilung für Human Intelligence, HUMINT, würde vermutlich bald seinen Platz räumen. Von seiner überaus herzlichen Begrüßung durfte man sich nicht täuschen lassen. Goldschmidts Instinkt für vorteilhafte Allianzen und sein bisweilen gnadenloses Auftreten

Nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln hatte er dem Israeli die Situation kurz skizziert: Was waren Sinn und Zweck von Flemming Bülows Reise gewesen? Konnte der Mossad ihm weiterhelfen? Wollte der Mossad ihm helfen?

Aaron Goldschmidt verfügte natürlich nicht über Detailwissen in einem Fall von derartig kleinem Kaliber. Deshalb würde er ein paar Stunden brauchen, um sich bei seinem Fußvolk schlauzumachen.

Danach würde er sich wieder melden und Mossman einen speziellen Link schicken, damit sie über eine sichere Internetverbindung ein Videotelefonat führen konnten.

Nach dem Treffen mit Henri Laflamme wäre es ihm blauäugig erschienen, nach Kopenhagen zurückzufliegen. Also saß er jetzt hier im Novotel, mitten im Flughafen Charles de Gaulle, nur eine Minute Fußweg vom Terminal 3 und der fahrerlosen Flughafenbahn entfernt. Bereit zum schnellen Ausrücken, sollte es erforderlich werden.

Endlich landete der Link aus Tel Aviv in seinem Mailaccount, und wenige Augenblicke später erschien der breitschultrige Aaron Goldschmidt in einem kurzärmligen weißen Hemd auf seinem Bildschirm. Offensichtlich saß er immer noch in seinem alten Büro in dem riesigen Glilot-Komplex, denn hinter Goldschmidt meinte Mossman jede Menge Verkehr zu erkennen.

Während seiner vielen Jahre im PET war er einige Male dort gewesen. Der Glilot-Komplex bestand aus mehreren Gebäuden und beherbergte den israelischen Geheimdienst, der mit seinen rund siebentausend Mitarbeitern der zweitgrößte Nachrichtendienst nach dem CIA war. Das Hauptquartier lag auf einem Hügel, nach Westen weniger als einen Kilometer vom

»Die Jahre haben es gut mit Ihnen gemeint, Mossman. Sie haben sich überhaupt nicht verändert. Vielleicht ein wenig abgemagert, aber na ja …«

Aaron Goldschmidt entblößte beim Lachen eine Reihe schiefer gelber Zähne. Er hatte schon immer geraucht wie ein Schlot. Es musste ungefähr sechs Jahre her sein, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten.

»Sie haben sich genauso wenig verändert. Wir sind ein Alter, wissen Sie noch? Warten Sie etwa darauf, dass die Sie hier raustragen?«

Der Israeli schüttelte den Kopf.

»Nächstes Jahr im Juni ist Schluss. Bis dahin gibt es noch einiges, was ich zu Ende bringen will, wie jetzt zum Beispiel diesen … Flemming Bülow.«

»Haben Sie etwas gefunden?«

Aaron Goldschmidt nickte.

»Aber nichts auf dieser Welt ist umsonst.«

»Denken Sie daran, dass ich nicht mehr im Geschäft bin … Aber wenn ich kann, bin ich gern bereit, auch einen hohen Preis zu bezahlen.«

»Sie haben Kontakte, Mossman.«

»Lassen Sie hören.«

»Danish Thermo Tec ist eine Firma, die in mehreren Ländern im Mittleren Osten Geschäfte macht.«

»Der Name ist mir bekannt.«

»Aufgrund des Kundenportfolios, das auch eine ganze Reihe staatlicher Betriebe umfasst, sehen wir ein großes Potenzial in

Hinter Goldschmidts Rücken schwärmten die Autos vorbei. Der Israeli wirkte sehr bestimmt. Sein Preis war nicht verhandelbar. Wenn er liefern sollte, musste Mossman seine besten Verbindungen ins PET-Hauptquartier dafür anzapfen.

»Abgemacht«, sagte er, den Blick unverwandt nach Tel Aviv gerichtet.

»Entweder war Ihr Mann ein jämmerlicher Amateur oder es war ihm egal, dass er beschattet wurde. Herrgott, ab einem gewissen Zeitpunkt standen die Briten, die Franzosen und wir selbst hinter ihm Schlange. Das war in Damaskus.«

»Aber was wollte Bülow?«

»Die Franzosen haben ihn in Beirut verloren, in Louaizeh, einem Vorort. Bülow verschwand in einem der Wohnblöcke. Wir haben die Wohnung unter Überwachung gestellt. Das ist ein regelrechtes Hisbollah-Nest. Dort hat er seinen letzten Mittelsmann vor Kadan Ghabour getroffen.«

»Dieser Ghabour ist der Mann vom syrischen Außenministerium?«

»Richtig.«

»Und er ist auch der Kontakt zu Zakwan Alma. So hat es mir jedenfalls Anthony Musselwhite erzählt.«

»Korrekt.«

»Ich gehe davon aus, dass Sie diese Vorstadtwohnung abhören?«

»Selbstverständlich.«

Aaron Goldschmidt lächelte liebenswürdig.

»Mossman, ich würde Sie gern um einen weiteren kleinen Gefallen bitten.«

»Hamid Al-Khalil, Palästinenser mit Wohnsitz in Ihrem Land, einem Ort namens Brøndby Strand. Ich brauche alles, was der PET über ihn weiß.«

»Sie machen es mir nicht leicht, mein Freund.«

»Sie würden uns viel lästigen Aufwand ersparen.«

»Ich sehe, was ich tun kann.«

»Danke.«

»Zurück zur Wohnung. Sie haben also mitgehört?«

»Der Däne hat darum gebeten, ihn mit dem Geheimdienst der Iranischen Revolutionsgarde in Kontakt zu bringen.«

»Der Revolutionsgarde? Das darf doch nicht wahr sein … Sind Sie sicher?«

Aaron Goldschmidt rollte auf seinem Bürostuhl fast ganz aus dem Bild.

»Ich lese Ihnen das Transkript der Aufzeichnung vor. Ich habe es hier auf meinem zweiten Computerbildschirm«, sagte er und fing an, laut zu lesen.

Es gab keinen Zweifel. Bülows Absicht war unmissverständlich. Goldschmidt rollte zurück ins Bild und zuckte mit den breiten Schultern.

»Ihr kleiner Däne hat, ohne zu blinzeln, den Kopf in die Höhle des Löwen gestreckt, Mossman.«

»Mutig. Oder naiv. Vermutlich Letzteres.«

»Was wissen Sie über den iranischen Nachrichtendienst, Mossman?«

»Ganz ehrlich? Nicht sehr viel, zumindest nicht, was den aktuellen Stand betrifft. Vergessen Sie nicht … Ich bin pensioniert.«

»Es gibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt sechzehn Nachrichtendienste in Iran.«

Goldschmidt hob die Hände.

»Ja, es ist eng … Der wichtigste Dienst ist der VAJA, früher bekannt unter VEVAK oder MOIS, das Ministerium für Nachrichtenwesen. Und dann natürlich der Nachrichtendienst der Revolutionsgarde. Die sind am besten aufgestellt. Die Revolutionsgarde ist die mächtigste militärische Organisation Irans. Sie kontrolliert große Teile der Wirtschaft und verfügt über eigenständige Truppen, einschließlich Luftwaffe und Marine. Und eben auch einen eigenen Geheimdienst. Außerdem haben sie offenbar die übergeordnete Verantwortung für mehrere Abteilungen des VAJA und anderer Dienste. Von außen betrachtet, ist das iranische Geheimdienstwesen ein chaotisches, unübersichtliches und verfilztes Konstrukt ohne logische Kommandowege. Darüber hinaus bekriegen sich einige der sechzehn Dienste auch noch gern untereinander.«

»Das klingt lustig. Aber solange sie sich selbst noch zurechtfinden«, brummte er.

»Wir vom Mossad blicken jedenfalls nicht mehr durch. Aber es heißt ja immer, die totale Undurchsichtigkeit des Gottesstaates ist gleichzeitig sein bester Schutz vor Feinden. Und dem schließe ich mich an.«

»Well, Goldschmidt, allem Anschein nach wussten Sie, was bei dem Dänen im Busch war. Als Einzige. Was ist nach dem Treffen mit Zakwan Alma im Club Africana passiert? Ich meine … Bülow saß noch zwei weitere Tage in Damaskus, bevor er wieder nach Hause geflogen ist.«

»Die Briten haben das Interesse an ihm verloren. Die Franzosen haben das Hotel noch einen Tag überwacht. Dann haben auch sie zusammengepackt.«

»Wir wussten ja ein bisschen mehr als die Kollegen. Wir haben zügig Abhörgeräte in seinem Zimmer installiert und das Hotel Cham Palace rund um die Uhr observiert. Nur ohne Ergebnis.«

»Aber Bülow hat doch nicht zum Spaß zwei Tage herumgesessen.«

»Glauben Sie mir. Niemand sitzt zum Spaß in Damaskus herum. Wir haben zwei Theorien: Erstens, es ist ihm gelungen, das Hotel im Schutz der Dunkelheit unbemerkt durch einen Hinterausgang zu verlassen. Zweitens, und dazu tendieren wir am ehesten: Bülows Treffen mit Vertretern des Nachrichtendienstes der Iranischen Revolutionsgarde hat im Hotel stattgefunden. Vermutlich bei einem der anderen Gäste. Bei wem, konnten wir nicht herausfinden. Die Chance haben wir verpasst.«

Aaron Goldschmidt schwieg und verhielt sich abwartend. Er selbst dachte einen Augenblick lang nach. Da war noch mehr. Das war noch nicht alles.

»So, wie ich den Mossad kenne«, fing er an, »haben Sie ihn in Damaskus nicht vom Haken gelassen.«

Goldschmidt nickte leicht.

»Wir sind ihm nach Hause gefolgt.«

»Und wo ist zu Hause?«

Goldschmidt rollte erneut aus dem Bild.

Er las vom anderen Bildschirm ab: »Eine Kellerwohnung, Ægirsgade 27, Nørrebro, Kopenhagen. Es stand kein Name an der Tür. Ich habe Fotos gesehen. Nicht gerade eine noble Adresse.«

»Bülow hatte keinen offiziellen Wohnsitz. Vielleicht hat er dort vorübergehend zur Untermiete gewohnt. Und was ist dann passiert?«

»Ein Kurier …«

»Sieht ganz danach aus.«

Aaron Goldschmidt rollte erneut aus dem Sichtfeld der Kamera, er konnte nur noch seine tiefe Stimme hören.

»Wir sind ihm zu einer Adresse in einem Industriegebiet im Vorort Kista gefolgt. Zu einer Firma namens Omar’s Fruit of Persia. Eine Stunde später stieg Bülow in den Zug zurück nach Kopenhagen. Ohne Koffer …«

Goldschmidt tauchte wieder auf.

»Nach ein paar von Routine geprägten Tagen haben wir ihn laufen lassen. So etwas kostet Ressourcen. Aber wem sage ich das. Wir haben ihn noch ein paarmal überprüft. Und eines Tages war er weg und kam nicht wieder. Wir waren in der Kellerwohnung und haben nicht den geringsten Hinweis darauf gefunden, dass er jemals dort gewesen ist. End of story, Mossman.«

»Haben Sie sich Omar’s Fruit of Persia genauer angeschaut?«

»Nein. Das liegt außerhalb unseres traditionellen Zuständigkeitsbereichs. Aber sagen wir mal so – gelegentlich haben wir ein Auge darauf.«

»Haben Sie zu irgendeinem Zeitpunkt dem PET Bescheid gegeben?«

Der Israeli lachte und schüttelte den Kopf.

»Solche Geschichten bringen nur Komplikationen mit sich. Wir arbeiten anders als ihr Dänen … Aber wir haben die Ware ins Regal gelegt. Es ist immer gut, etwas auf Vorrat zu haben, falls jemand kommt und ein Geschäft machen möchte. Nicht wahr?«

»Und jetzt können Sie ihn von der Liste streichen«, bemerkte er.

»Erschossen, sagten Sie?«

»Ja. An den Strand gespült.«

»Täter?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Nein, aber nach denen suche ich auch nicht. Ich suche nach einem guten Freund, der verschwunden ist.«

Der Israeli nickte verständnisvoll.

»Aber Sie denken trotzdem an die Danish Thermo Tec und unser kleines Objekt aus Brøndby Strand, nicht wahr?«

Er nickte.

»Ist notiert, aber geben Sie mir etwas Zeit. Im Augenblick arbeite ich gegen die Uhr.«

»Um Ihren Freund zu finden?«

»Ja.«

»Mir scheint, dass Ihnen diese Sache wirklich viel bedeutet, Mossman.«

»Sie bedeutet … alles.«

»Dann sage ich Ihnen jetzt etwas, um der alten Freundschaft willen.«

Er richtete aufmerksam den Blick auf den alternden Mann in Tel Aviv.

Aaron Goldschmidts Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Ich kann Ihnen nur den einen Rat geben: Schauen Sie nach Moskau. Schauen Sie zu Kirill Lyssenko.«