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Ich ging um die Hausecke. Der Zaun lag vor mir. Im Licht des Halbmondes leuchtete er streng, hoch und weiß in der Dunkelheit. Die Erde dampfte, es war warm und feucht, am Wegrand spross das Gras.

Ich schlich mich am Wachmann vorbei, sein Gesicht lag im Dunkeln, aber sein Kopf hing noch immer nach unten, und ich konnte seinen schweren, ruhigen Atem hören.

Etwas schwebte in der Luft, ein leises Summen, vielleicht zehn Meter vor mir. Ein Insekt? Nein, dafür war es zu groß. Das Geräusch verschwand jedoch schnell, und es wurde wieder still.

Vorsichtig streckte ich eine Hand aus und berührte den Zaun. Stand einfach nur da, vollkommen still. Ich erwartete einen Alarm, eine heulende Sirene. Doch nichts geschah.

Ich ging ein paar Meter am Zaun entlang, fuhr mit der Hand über den glatten, dichtgewebten Stoff, mit dem er bezogen war. Und dort, zwischen meinen Fingern, spürte ich plötzlich einen Übergang. Die Plane war straff gespannt, aber es gelang mir trotzdem, die Hand zwischen die beiden Teilstücke zu schieben. Ich zerrte ein wenig daran. Mit einem schwachen Geräusch lösten sie sich voneinander. Bald hatte ich ein Loch hineingerissen, das groß genug war, um hindurchzuschlüpfen.

Ich warf einen letzten Blick zu dem Soldaten, der noch immer fest schlief. Dann zwängte ich mich durch die Planen hindurch.

Dahinter war es dunkler. Ich wusste, dass es Scheinwerfer gab, am Abend hatten wir manchmal ein schweifendes Licht gesehen, doch jetzt waren sie alle ausgeschaltet.

Gab es auch im Inneren Wachleute? Ich wusste es nicht, ich blieb einfach nur stehen und versuchte, meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Allmählich tauchten die Bäume vor mir auf. Sie waren verblüht, aber immer noch voller Laub.

Alles war still bis auf den leichten Wind, der durch die Blätter und das Laub rauschte, und dennoch zitterte ich vor Aufregung. Was ich hier tat, war verboten, was würde passieren, wenn man mich erwischte?

Ich bewegte mich langsam voran. Ein Stück entfernt konnte ich den Pfad erkennen, auf dem wir den Hang hinaufgegangen waren. Ich ging dorthin.

In meinem ganzen Leben hatte ich hier draußen noch nie Furcht empfunden, viele andere Gefühle, Resignation, Langeweile und manchmal auch Freude, aber nie Furcht. Jetzt bewegte ich mich so leise, wie ich nur konnte, während mir der eigene Herzschlag in den Ohren dröhnte und mein Rücken schweißnass wurde.

Der Pfad führte mich zwischen den Bäumen hindurch. Mit einem Mal bewegte sich etwas in meinem Augenwinkel, ein Schatten. War dort jemand? Hastig drehte ich mich um, sah jedoch nichts. Die Welt hier draußen war leer und still. Es war nur meine eigene Angst gewesen, die mir einen Streich gespielt hatte.

Ich tat einige Schritte.

Engelchen, flieg. Engelchen, flieg.

Hier waren wir gegangen.

Wei-Wen zwischen uns. Gesund, entschlossen, warm, zart. Mein Junge.

Ich musste stehen bleiben und mich krümmen, plötzlich fuhr mir ein so brutaler Schmerz in den Bauch, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte.

Ruhig atmen. An etwas anderes denken. Mich aufrichten. Rational handeln. Mich umsehen. Wie weit war es jetzt noch? Bis zu dem Hügel, wo wir gepicknickt hatten?

Vorwärts.

Ich war noch nicht weit gekommen, als ich es bemerkte. Licht. In einiger Ferne lag ein gelber Schimmer über dem Gelände.

Ich ging näher, jetzt langsamer. Setzte die Füße immer vorsichtiger auf.

Und da sah ich das Zelt. Es stand am Rand des Waldes, vor einem Hintergrund von wildwüchsigen Büschen und Bäumen. Es war rund, so groß wie ein kleineres Haus, von allen Seiten beleuchtet und aus demselben Material wie der Zaun. Dasselbe sterile Weiß. Davor konnte ich die Konturen mehrerer patrouillierender Soldaten erkennen. Das Zelt war viel schwerer bewacht als der Zaun. Sie liefen ruhig auf und ab, ihre Konturen zeichneten sich scharf vor dem Stoff ab, ein merkwürdiges Schattentheater vor einem farblosen Zirkuszelt. Stellten sie eine Bedrohung dar oder einen Schutz?

Einen Eingang konnte ich nicht sehen, auch keine Fenster. Näher wagte ich mich nicht heran, ich ging lieber weiter, in einem Abstand von etwa hundert Metern, parallel zum Zelt, um die andere Seite zu sehen. Ich kam an dem Hügel vorbei, und mit einem Mal wurde mir klar, dass das Zelt ungefähr an derselben Stelle stand, wo Kuan unseren Sohn gefunden hatte. Angesichts dieser Erkenntnis verschlimmerte sich meine Angst. Meine Beine zitterten so sehr, dass sie mich kaum noch trugen. Mir wurde bewusst, wie sehr ich die ganze Zeit gehofft hatte, dass es keinen Zusammenhang gab, dass der Zaun und das Militär nichts mit Wei-Wen zu tun hatten.

Aber jetzt … Der Anruf, auf den ich gehofft hatte, die Nachricht, dass Wei-Wen lediglich gestürzt sei und sich eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen habe und auf dem Weg der Besserung sei, dass wir ihn besuchen und bald mit nach Hause nehmen könnten, all diese Gedanken erschienen mir jetzt in noch größerem Maße wie das, was sie in Wirklichkeit waren: hilflose, verzweifelte Phantasien.

Zwischen mir und dem Zelt entdeckte ich einen Stapel mit Pappkartons. Ich schlich mich näher heran, dahinter war ich vor den Wachleuten verborgen.

Einige Kartons waren zusammengefaltet, andere nicht. Ich hob einen an und spähte hinein, strich mit der Hand über den Boden, nahm den Inhalt heraus. Erde und Reste von Wurzeln. Auf der Seite standen ein Name, eine Postleitzahl und ein Ortsname. Peking.

Ich stellte ihn wieder ab und schlich mich vorsichtig weiter. Ich fürchtete, meine übliche Tollpatschigkeit könnte mich verraten, die Zweige könnten unter mir knacken, und ich spannte jeden Muskel meines Körpers an, um mich so lautlos wie möglich voranzubewegen.

Jetzt konnte ich die Vorderseite des Zelts sehen. Ebenso weiß und undurchdringlich, jedoch mit einer Öffnung an der Seite, die von einem straffen, breiten Reißverschluss verschlossen war. Ich ging in die Hocke. Wartete. Früher oder später musste doch wohl jemand kommen oder gehen.

So saß ich, bis mir die Beine einschliefen und ich meine Position ändern musste. Der Boden war feucht, aber ich setzte mich trotzdem darauf, die nasse Kälte drang durch meine Kleider. Erst jetzt fiel mir der Stapel mit Ästen vor dem Zelt auf. Sie hatten etwa zehn Obstbäume gefällt, um Platz zu schaffen. Trockene Zweige reckten sich dem Zelt entgegen.

Nichts geschah. Mitunter hörte ich leise Stimmen aus dem Inneren dringen, ohne etwas zu verstehen.

Lange saß ich so da, von Dunkelheit umhüllt. Die Minuten vergingen, wurden zu einer Stunde. Die stickige Luft machte mich allmählich dösig.

Dann: das ratschende Geräusch eines Reißverschlusses. Das Zelt wurde geöffnet, und zwei Gestalten in weißen Schutzanzügen traten heraus, sie steckten die Köpfe zusammen und diskutierten leise und eindringlich. Ich beugte mich vor, kniff die Augen zusammen, um etwas zu erkennen. Das Zelt stand nur für einen kurzen Moment offen, aber ich konnte trotzdem ein wenig von dem sehen, was sich darin verbarg. Ein durchsichtiges Innenzelt voller Pflanzen. Glaswände. Blumen. Ein Gewächshaus? Leuchtend grüne Blätter, rosa, orange, weiße und rote Blüten, in gelbes Licht getaucht. Wie eine Märchenlandschaft, bunt und warm, eine andere Welt, lebende Gewächse, blühende Pflanzen, wie ich sie noch nie gesehen hatte, wie es sie zwischen den einförmigen Reihen der Obstbäume nicht gab.

Mit einem Mal begann eine der Gestalten, in meine Richtung zu gehen. Ich blieb sitzen, aber sie kam immer näher.

Ich stand auf und wich leise zurück.

Die Gestalt blieb stehen, als würde sie mich wittern. Horchte. Ich wagte es nicht, mich noch mehr zu bewegen, blieb reglos stehen, in der Hoffnung, eins mit den Baumstämmen zu werden.

Auch die Gestalt verharrte noch eine Weile, dann wandte sie sich um und ging wieder zum Zelt. In dem Moment sah ich zu, dass ich wegkam, und rannte so leise ich konnte zum Zaun zurück.

Ich hatte etwas gesehen, aber ich wusste nicht, was. Den Zaun, die Kartons, das Zelt. Es ergab keinen Sinn.

Weder hier noch im Krankenhaus wollte mir irgendein Mensch das geben, was ich brauchte. Niemand wollte mir eine Antwort geben. Und auch meinen Jungen wollten sie mir nicht geben.

Schließlich erreichte ich den Zaun, kroch durch dasselbe Schlupfloch, kam an dem Wachmann vorbei. Er schnarchte noch immer auf seinem Platz vor sich hin.

Ich blieb in der milden Nacht stehen. Der Zaun thronte über mir. Doch Wei-Wen war nicht hier. Er war nicht einmal in diesem Teil des Landes. Er war dort, wo die Pflanzen herkamen. In Peking.