William

Soll ich das übernehmen?«, fragte Thilda. Mit meinem Rasierzeug und einem Spiegel in den Händen stand sie in der Tür.

»Du könntest dich am Messer schneiden«, antwortete ich.

Sie nickte. Sie wusste genauso gut wie ich, dass sie noch nie eine ruhige Hand gehabt hatte.

Dann verließ sie das Zimmer und kam kurz darauf mit Waschschüssel, Seife und Bürste zurück. Sie stellte alles auf den Nachttisch, den sie näher ans Bett heranschob, damit ich eine gute Arbeitsposition hatte. Zuletzt legte sie den Spiegel ab. Sie blieb stehen und wartete, als ich ihn hob. Fürchtete sie meine Reaktion?

Es war ein anderer Mann, der mich da anstarrte. Ich hätte erschrecken müssen, aber dem war nicht so. Denn das Schwache, Weichliche war weg. Weg war der freundliche Kaufmann. Der Mann, der mich anstarrte, war einer, der etwas erlebt hatte. Es war ein Paradox, hatte ich doch monatelang nur im Bett gelegen und nichts erlebt, war von nichts umgeben gewesen als meinen eigenen, niederen Gedanken. Doch das Spiegelbild sagte etwas anderes. Es erinnerte an einen Segler, der nach Monaten auf dem Stillen Ozean wieder an Land ging, oder einen Grubenarbeiter, der nach einer langen Schicht wieder das Tageslicht sah, oder einen Wissenschaftler, der nach einer langen und dramatischen Forschungsreise durch den Dschungel wieder nach Hause zurückkehrte. Dieser Mann sah markant aus, schlank, auf elegante Weise abgehärtet. Er verkörperte gelebtes Leben.

»Hast du eine Schere?«

Thilda sah mich verwirrt an.

»Der Bart ist zu lang, als dass ich gleich mit dem Messer anfangen könnte.«

Sie verstand und nickte. Im nächsten Moment war sie mit einer Nähschere wieder da, die unpraktisch klein war, für flinke Frauenfinger gemacht, aber mir gelang es trotzdem, das schlimmste Gestrüpp damit zu beseitigen.

Sachte tauchte ich den Pinsel ins Wasser und rieb ihn dann gegen die Seife. Sie schäumte frisch und duftete nach Wacholder.

»Wo ist das Messer?« Ich sah mich um.

Sie stand nur da, die Hände vor der Schürze verschränkt, den Blick starr zu Boden gerichtet.

»Thilda?«

Endlich reichte sie mir das Rasiermesser, das sie in der Tasche gehabt hatte. Es zitterte in ihren Händen, als wollte sie es mir nicht ganz überlassen. Ich griff danach und begann die Rasur. Die Klinge kratzte auf der Haut, sie war stumpf.

Thilda blieb stehen und sah mich an.

»Danke. Du kannst jetzt gehen«, sagte ich zu ihr.

Doch sie blieb. Sie heftete ihren Blick auf mich und das Messer. Und plötzlich verstand ich, was sie fürchtete. Ich ließ die Hand sinken.

»Hältst du es denn nicht für ein Zeichen der Genesung, dass ich mich rasiere?«

Sie musste darüber nachdenken, wie immer.

»Ich bin überaus dankbar, dass du die Kraft dafür aufbringst«, antwortete sie schließlich, blieb aber dennoch stehen.

Plante man Derartiges tatsächlich, galt es, eine Methode zu finden, es wie einen ganz normalen Todesfall aussehen zu lassen. Auf diese Weise wollte ich Edmund schonen. Ich hatte mehrere Vorgehensweisen im Kopf – ich hatte schließlich genug Zeit gehabt, sie zu ersinnen –, aber das konnte Thilda natürlich nicht wissen. Sie vermutete, wenn sie mich mit einem scharfen Gegenstand im Zimmer allein ließe, würde ich sofort die Gelegenheit beim Schopfe packen, als gäbe es keine andere. Ein solch schlichtes Gemüt war sie.

Hätte ich einen Strich unter alles ziehen wollen, hätte ich mich längst in den Schnee hinausbegeben, lediglich mit meinem Nachthemd bekleidet. Dann wäre ich am nächsten Tag erfroren aufgefunden worden, mit Eiskristallen an Bart und Wimpern, und es hätte genau so ausgesehen – wie ein ganz normaler Todesfall. Der Saatguthändler hatte sich in der Dunkelheit verirrt und war erfroren, der Ärmste.

Oder Pilze. Im Wald wimmelte es nur so von ihnen, und einige davon hatten letzten Herbst ihren Weg in die oberste Schublade der Kommode ganz links im Laden gefunden, sorgfältig verschlossen, mit einem Schlüssel, auf den nur ich Zugriff hatte. Die Pilze wirkten schnell, im Laufe weniger Stunden wurde man schlaff und träge und schließlich bewusstlos, dann folgten einige wenige Tage, in denen der Körper zersetzt wurde, ehe seine Funktionen ganz aufhörten. Ein Arzt würde als Todesursache lediglich Organversagen feststellen. Niemand würde erfahren, dass man sein Ableben selbst herbeigeführt hatte.

Oder Ertrinken. Der Fluss hinter unserem Haus war selbst im Winter ein reißendes Gewässer.

Oder ich ging zum Hundehof der Blakes, wo immer mindestens sieben wilde Köter am Zaun geiferten.

Oder zu dem steilen Hang im Wald.

Die Möglichkeiten waren mannigfaltig, aber jetzt saß ich hier und rasierte mir den Bart ab und hatte keinerlei Absicht, mich einer von ihnen zu bedienen, auch nicht des Messers in meiner Hand. Denn ich war aufgestanden, und ich würde keine dieser Möglichkeiten je wieder in Betracht ziehen.

»Ich will dich nicht aufhalten«, sagte ich zu Thilda. »Du hast doch sicher zu tun da draußen.«

Ich zeigte auf die Tür, wie als Verweis auf das restliche Haus, das mit weiblichen Augen betrachtet offenbar unaufhörlich danach verlangte, dass Staub gewischt und Essen gekocht wurde, Kleider und Böden geschrubbt wurden und was es sonst noch alles zu erledigen gab.

Sie nickte erneut, dann ging sie endlich.

Es gab Momente, in denen ich den Eindruck hatte, Thilda wäre mehr als dankbar gewesen, ich hätte mir ein Rasiermesser, oder besser noch ein Tranchiermesser an den Hals gelegt und das Blut aus meiner Hauptschlagader pulsieren lassen, bis nichts von mir übriggeblieben wäre als eine leere Hülle, ein verlassener Kokon. Sie hatte es nie ausgesprochen, aber wir wussten wohl beide, dass wir im Nachhinein die Sonne verfluchten, die vor über siebzehn Jahren im Gemeindehaus ausgerechnet auf ihre Nase gefallen war. Es hätten so viele andere sein können, oder auch keine.

Damals war ich fünfundzwanzig Jahre alt und etwa ein Jahr zuvor in dieses Dorf gekommen. Ich weiß nicht, ob in diesem Monat irgendein besonderes Wetter geherrscht hatte, vielleicht war ein trockener Wind über die Gegend hinweggefegt, sodass ihre Lippen rot und trocken geworden waren und sie sie unentwegt mit Speichel befeuchtet hatte, oder ob sie heimlich darauf herumgekaut hatte, wie es junge Mädchen zu tun pflegen, damit ihre Münder verlockend aussehen. Jedenfalls bemerkte ich an diesem Tag nicht, dass sie fast keine Lippen besaß. Ich erinnere mich nur, dass ich mitten in meinem Vortrag war, als ich sie sah.

Ich war unglaublich gut vorbereitet gewesen, in erster Linie wegen Rahm, denn ich wünschte mir nichts mehr, als einen hervorragenden Eindruck bei ihm zu machen. Mir war bewusst, welches Glück ich gehabt hatte. Vielen meiner Kommilitonen waren weit weniger interessante Aufgaben zugeteilt worden. Als Absolvent durfte man kaum Ansprüche stellen, und von einem anerkannten Forscher unter die Fittiche genommen zu werden, war der beste Weg, um später selbst einmal Erfolg zu haben. Zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben war Rahm der einzige Mensch, der für mich von Bedeutung war. Von dem Moment an, als ich die Schwelle zu seinem Studierzimmer betreten hatte, war ich fest entschlossen gewesen: Er sollte meine wichtigste Bezugsperson sein, mir nicht nur ein Seelenverwandter und Mentor sein, sondern auch ein Vater. Zu meinem eigenen Vater hatte ich keinen Kontakt mehr und wünschte auch keinen, jedenfalls redete ich mir das immer wieder ein. Doch unter den Augen des Professors könnte ich wachsen und gedeihen. Er sollte mich zu dem machen, der ich eigentlich war.

Auch meiner mangelnden Erfahrung ist es zu verdanken, dass ich so gut vorbereitet war. Ich hatte schlicht und ergreifend noch nie vor einem Publikum gesprochen. Als Rahm mich bat, einen Beitrag zu seinem kleinen zoologischen Themenabend für die Bewohner von Maryville zu leisten, hielt ich es zunächst für eine Bagatelle. Doch mit jedem Tag, der verging, erschien mir die Aufgabe größer und wuchs sich zu etwas beinahe Unüberwindbarem aus. Wie würde es sich anfühlen, dort vor so vielen Menschen zu stehen, die alle meiner Stimme lauschten und ihre Aufmerksamkeit auf mich richteten? Auch wenn die Menschen im Dorf, um es vorsichtig auszudrücken, etwas schlichter waren als mein universitäres Umfeld, handelte es sich doch um einen wissenschaftlichen Vortrag. Wäre ich überhaupt in der Lage, eine solche Aufgabe zu bewältigen?

Nicht allein die Tatsache, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Vortrag halten würde, sondern auch die Bedeutung, die dieser für andere erlangen könnte, erfüllte mich mit Ehrfurcht. Die Naturwissenschaft war ein unbekanntes Terrain für die Dorfleute, ihre Weltanschauung gründete sich auf der Bibel, dem einzigen Buch, dem sie über den Weg trauten. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich die Möglichkeit hätte, ihnen mehr aufzuzeigen: Zusammenhänge zwischen dem Kleinen und dem Großen, zwischen Schöpfung und Schöpferkraft. Jetzt hatte ich die Gelegenheit, ihnen die Augen zu öffnen und ihren Blick auf die Welt, ja, auf die Existenz an sich zu verändern.

Allein, wie demonstrierte man so etwas am besten? Die Wahl des Themas wurde zu einer unlösbaren Aufgabe, die ich immer weiter vor mir herschob. Nahezu jeder Gegenstand war interessant, wenn man ihn aus naturwissenschaftlicher Perspektive betrachtete. Die Frucht der Erde, die Entdeckung Amerikas, die Jahreszeiten. Welche Wahlmöglichkeiten!

Am Ende traf Rahm die Entscheidung für mich. Er legte seine kühle Hand auf meine klamme und lächelte über meinen verwirrten Eifer. »Erzählen Sie etwas über das Mikroskop«, sagte er. »Welche Möglichkeiten es uns gebracht hat. Die meisten Zuschauer wissen nicht einmal, was ein solches Gerät eigentlich ist.«

Es war eine brillante Idee, auf die ich nie selbst verfallen wäre, und so nahm ich mich ihrer an.

Der Tag zog herauf, es wehte ein trockener Wind, und die Sonne stand hoch am Himmel. Wir waren unsicher, wie viele Zuhörer kommen würden. Einige ältere Dorfbewohner hatten darauf hingewiesen, dass unser Tun gottlos sei, denn man brauche keine anderen Bücher als die Bibel. Doch offensichtlich hatte bei den meisten die Neugier gesiegt, und das Gemeindehaus war bald so gefüllt, dass die Temperatur im Saal sommerlich anstieg, obwohl draußen noch frisches Aprilwetter war. Ereignisse wie diese hatten Seltenheitswert im kleinen Maryville.

Ich war als Erster dran, das war Rahms Wunsch. Vielleicht wollte er mich vorzeigen wie einen neugeborenen Säugling, vielleicht war er zu diesem Zeitpunkt noch stolz auf mich. Nach einigen langen Minuten, in denen meine Stimme mit meinen Knien um die Wette zitterte, wurde ich sicherer. Ich stützte mich auf die Worte, die ich so gründlich vorbereitet hatte, und entdeckte, dass sie nicht etwa ihre Glaubwürdigkeit verloren und zwischen mir und den Zuschauern in der Luft hängen blieben, wenn sie das Papier verließen, sondern ihr Ziel erreichten.

Ich begann mit einem kurzen Abriss der Geschichte, erzählte von der Sammellinse, die schon seit dem 16. Jahrhundert in Gebrauch war, und anschließend von den zusammengesetzten optischen Mikroskopen, wie sie unter anderem im Jahre 1610 von Galileo Galilei beschrieben worden waren. Um die Bedeutung des Mikroskops in der Praxis zu zeigen, hatte ich beschlossen, von einer bestimmten Person auszugehen. Ich wählte den niederländischen Zoologen Jan Swammerdam. Er hatte im 17. Jahrhundert gelebt und war von seinen Zeitgenossen nie richtig anerkannt worden, vielleicht gerade weil er die Schöpfung in all ihren natürlichen Facetten so deutlich in Beziehung zur Schöpferkraft setzte.

»Swammerdam«, sagte ich und ließ meinen Blick über die Zuhörer schweifen. »Merken Sie sich seinen Namen. Seine Arbeit hat uns gezeigt, dass die verschiedenen Stadien im Leben eines Insekts, Ei, Larve und Puppe, tatsächlich verschiedene Formen ein und desselben Lebewesens sind. Swammerdam entwickelte selbst ein Mikroskop, das es ihm ermöglichte, die Insekten im Detail zu studieren. Während dieser Beobachtungen fertigte er Zeichnungen an, wie wir sie noch nie gesehen haben.«

Mit einer dramatischen Handbewegung, die ich genau einstudiert hatte, zog ich eine Wandkarte hinter mir herab.

»Hier sehen sie Swammerdams Darstellung der Anatomie der Bienen, so wie er sie in seiner Biblia Naturae gezeichnet hat.«

Ich gönnte mir eine Kunstpause und ließ meinen Blick auf der Versammlung ruhen, während diese die außergewöhnlich detaillierte Zeichnung auf sich wirken ließ. Genau in diesem Augenblick hatte die Frühlingssonne bei ihrer Wanderung über das Gemeindehaus das Fenster zu meiner Linken erreicht. Ein einsamer Sonnenstrahl fiel in den Raum, der offenbar nicht häufig genug geputzt wurde, erleuchtete die Fettflecken auf der Scheibe und die wirbelnden Staubkörner und strich über die Bankreihen hinweg, um schließlich eine Person zu treffen, die am äußersten Rand neben ihren beiden Freundinnen saß: Thilda.

Im Nachhinein verstand ich, dass unsere Begegnung für sie gar nicht im selben Maße überraschend gewesen war wie für mich. Natürlich war ich manch einer jungen Dame aufgefallen; der Naturforscher, in der Hauptstadt ausgebildet, modern gekleidet, redegewandt, ein wenig klein vielleicht und nicht eben athletisch – denn um ehrlich zu sein, kämpfte ich schon damals gegen mein beginnendes Übergewicht –, doch was ich an körperlichen Vorzügen missen ließ, machte ich mit meinem Intellekt wieder wett. Davon zeugte schon die Brille auf meiner Nase. Ich pflegte sie ein Stück nach unten zu schieben, damit ich klug über ihren Rand hinwegblinzeln konnte. Als die Brille neu war, brauchte ich einen ganzen Abend, um die perfekte Position für sie zu finden, exakt die Stelle auf der Nase, wo sie sicher saß und ich die Leute direkt ansehen konnte, ohne durch die kleinen, ovalen Gläser blicken zu müssen, deren konkave Linsen die Augen kleiner wirken ließen. Auch wusste ich, dass viele junge Frauen meine volle Haarpracht attraktiv fanden. Ich trug das Haar halblang, damit es zur vollen Geltung kam. Vielleicht hatte Thilda mich schon lange im Auge gehabt, mich begutachtet und mit den anderen jungen Burschen im Dorf verglichen. Hatte gesehen, mit welchem Respekt man mir entgegentrat, tiefe Verbeugungen und demütige Blicke, ganz ungleich den anderen jungen Männern in ihrem Umfeld, die sich vermutlich genauso grob gebärdeten, wie sie sich kleideten, und dementsprechend behandelt wurden.

Thilda trug ein blaues Sonntagsgewand, ein Kleid oder vielleicht auch eine Bluse, die sich hübsch an ihre Brust schmiegte. Ihr rundes Gesicht war von Korkenzieherlocken umrahmt, die bis auf die Schultern fielen, jene uniforme Frisur, die sie mit all ihren Freundinnen teilte und die man auch an vielen verheirateten Frauen sah – auch wenn man meinen sollte, Letztere hätten nun keinen Anlass mehr zu solch einem äußerlichen Firlefanz. Indessen waren es weder die Locken noch die Kleidung, die ich wahrnahm. Was der Sonnenstrahl durch die stickige Luft hindurch ertastet hatte, war eine außergewöhnlich gerade und wohlproportionierte Nase, die wie eine Illustration aus einem Anatomielehrbuch aussah. Es war eine klassische Nase, die mir sofort Lust machte, sie zu zeichnen, zu studieren, eine Nase, deren Form perfekt ihrer Funktion entsprach. Wie sich später herausstellte, stimmte meine Beobachtung allerdings nicht mit Thildas Wirklichkeit überein, weil die Nase infolge eines immerwährenden Schnupfens stets rot war und lief. Doch an jenem Tag leuchtete sie mir entgegen, und sie war weder gerötet noch tropfend, sondern einfach nur ungeheuer an mir und meinen Worten interessiert, und ich konnte den Blick nicht mehr davon abwenden.

Meine Kunstpause geriet zu lang. Das Publikum wurde unruhig, und ich hörte ein lautes, aufgesetztes Räuspern von Rahm, der hinter mir stand. Die Karte hing noch immer unkommentiert da und schaukelte hin und her.

Ich beeilte mich, darauf zu deuten. »Ganze fünf Jahre verwandte Swammerdam darauf, das Leben im Bienenstock zu studieren. Immer mit Hilfe des Mikroskops, das ihm die Möglichkeit gab, jedes kleinste Detail zu erfassen … Hier, ja … hier sehen Sie die Ovarien der Bienenkönigin. Mit seinen Studien konnte Swammerdam tatsächlich beweisen, dass jede Bienenkönigin Eier legt, aus denen alle drei verschiedenen Bienentypen entstehen – Drohnen, Arbeiterinnen und neue Königinnen.«

Die Zuhörer starrten mich an, einige wanden sich auf ihren Stühlen, keiner schien mich zu verstehen. »Seinerzeit war das bahnbrechend, weil man bis dato dachte, ein Bienenkönig, also eine männliche Biene, würde den Hofstaat regieren. Noch faszinierter und enthusiastischer aber widmete Swammerdam sich den Geschlechtsorganen der männlichen Biene. Und hier sehen Sie das Ergebnis.« Ich zog eine neue Karte herunter.

»Dies also sind die Genitalien der männlichen Biene.«

Leere Gesichter.

Wieder kam Unruhe im Saal auf. Einige Zuhörer richteten die Blicke auf ihre eigenen Arme, um einen losen Faden im Stoff zu mustern, andere interessierten sich mit einem Mal leidenschaftlich für die Wolkenformationen am Himmel.

Mit einem Mal wurde mir schlagartig bewusst, dass keiner von ihnen wusste, was Ovarien oder Genitalien waren, und ich verspürte das dringende Bedürfnis, es ihnen zu erklären. Nun folgte jener Teil meiner Rede, den Thilda stets ausließ, wenn sie den Kindern von unserem Kennenlernen erzählte, und genauso wenig hatte er je zwischen uns Erwähnung gefunden. Allein der Gedanke daran, was nun kam, trieb mir noch Jahre später die Schamesröte ins Gesicht.

»Die Ovarien sind also dasselbe wie die Eierstöcke … Also das Reproduktionssystem, in dem die Eier entstehen … die wiederum zu Larven werden.«

Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, wurde mir klar, wo ich mich hineinbegeben hatte, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. »Und die Genitalien sind also dasselbe wie … äh, die reproduzierenden Organe der männlichen Biene. Diese sind unerlässlich im Prozess der … Produktion neuer Bienen.«

Ein Raunen ging durch den Saal, als sie verstanden, wovon sie da Zeichnungen sahen. Warum hatte ich nicht vorausgesehen, welchen Effekt dieses Thema auf sie haben würde? Für mich war es ein selbstverständlicher Teil der Naturwissenschaft, für sie hingegen etwas Sündiges, was man für sich behielt und worüber man niemals sprach. In ihren Augen war meine Leidenschaft mit Schmutz behaftet.

Aber keiner ging, keiner hielt mich auf. Hätte es bloß jemand getan. Doch lediglich ein paar gedämpfte Geräusche kündeten von der bevorstehenden Katastrophe, Hinterteile, die auf Holzbänken hin- und herrutschten, Stühle, die über den Boden scharrten, leises Räuspern. Thilda senkte den Kopf. Errötete sie? Ihre Freundinnen warfen sich amüsierte Blicke zu, und ich Rindvieh fuhr einfach fort, in der Hoffnung, der Rest meiner Rede würde die Aufmerksamkeit von den soeben gesagten Worten weglenken und hin zu dem, was wirklich wichtig war.

»Drei ganze Seiten hat er ihnen in seinem Lebenswerk, der Biblia Naturae oder auch Bibel der Natur gewidmet. Hier sehen wir einige seiner ungewöhnlich detaillierten Zeichnungen der Drohnen und ihrer … Geni… Genitalien.« Das Wort kam mir kaum noch über die Lippen. »Die verschiedenen Stadien, wie sie sich öffnen, entfalten und … zu ihrer vollen Größe expandieren.« Hatte ich das wirklich gesagt? Ein flüchtiger Blick ins Publikum verriet mir, dass dem so war. Ich zwang meinen Blick wieder auf das Manuskript und las weiter, obwohl ich es damit nur umso schlimmer machte.

»Swammerdam beschrieb sie selbst als … exotische Seeungeheuer.«

Jetzt kicherten die Freundinnen.

Ich wagte es nicht, zu ihnen hinüberzusehen. Stattdessen nahm ich Swammerdams Werk zur Hand und zitierte die fabelhaften Worte, über die ich selbst so oft nachgesonnen hatte, ich klammerte mich an das Buch und hoffte, meine Zuhörer würden nun endlich nachvollziehen können, worin die wahre Leidenschaft bestand.

»Aus so wenigen Beispielen kann man ersehen, was für Wunder an den Insekten zu bemerken sein müssen, und wie dienlich uns die Untersuchung ihrer natürlichen Beschaffenheit zur Verherrlichung des göttlichen Rahmens sein könne, der große Dinge tut, die man nicht ergründen kann, und Wunder, die man nicht erzählen kann.«

Ich erdreistete mich aufzusehen, und mir wurde deutlich, ja, vollkommen klar, dass ich verloren hatte, denn die Gesichter, die mich anstarrten, waren im besten Fall erschüttert, im schlimmsten sogar erbost, und endlich verstand ich das ganze Ausmaß dessen, was ich getan hatte. Es war mir nicht im Entferntesten gelungen, ihnen von den Wundern der Natur zu berichten. Ich hatte hier oben gestanden und ihnen vom Niedersten des Niederen erzählt und noch dazu Gott in diese Sache mit hineingezogen.

Den Rest der Geschichte ließ ich aus. Der arme Swammerdam war anschließend zu nichts mehr im Stande gewesen und hatte seine Karriere beendet. Durch das Studium der Bienen war er in einen Strudel religiöser Grübeleien geraten, denn die Perfektion der Bienen erschreckte ihn, und er musste sich ständig in Erinnerung rufen, dass nur Gott allein – und nicht dieses kleine Wesen – seine Liebe und Aufmerksamkeit verdient hatte. Angesichts der Biene konnte man nur schwer glauben, dass es dort draußen etwas noch Perfekteres gab, nicht einmal Gott. Die fünf Jahre, die er beinahe im Bienenstock gelebt hatte, richteten ihn für immer zu Grunde.

Doch in diesem Moment sah ich ein, dass ich nicht nur das Gespött der Menschen auf mich ziehen würde, sondern auch ihren Hass, wenn ich ihnen das erzählte, denn den Allmächtigen forderte man nicht heraus.

Ich schob mein Manuskript zusammen, während mir die Röte ins Gesicht stieg, und als ich vom Podium steigen wollte, stolperte ich wie ein kleiner Junge. Rahm, den ich mit meinem Vortrag mehr hatte beeindrucken wollen als jeden anderen, musste sich offensichtlich das Lachen verkneifen, denn sein Gesicht war zu einem sonderbaren Grinsen erstarrt. Er erinnerte mich an meinen Vater, an meinen eigentlichen Vater.

Nach dem Vortrag schüttelte ich mehreren Anwesenden die Hand. Einige wussten nicht, was sie sagen sollten, und ich bemerkte, wie die Leute um mich herum tuschelten, einige kichernd und ungläubig, andere wütend und schockiert. Meine Röte wanderte vom Gesicht nach unten, kroch das Rückgrat entlang, setzte sich bis in die Beine fort und verwandelte sich in ein unkontrolliertes Zittern, das ich vergebens vor meiner Umgebung zu verbergen suchte. Zumindest Rahm musste es gesehen haben, denn er legte mir eine Hand auf die Schulter und sagte leise: »Sie sind im Trivialen gefangen, das müssen Sie verstehen. Sie werden nie so sein wie wir.«

Die Worte verfehlten ihre tröstende Wirkung, sie verdeutlichten nur umso mehr den Unterschied zwischen uns, denn er hätte niemals Beispiele gewählt, an denen sich das Publikum stieß. Er verstand genau, wie viel man ihnen zumuten konnte, er beherrschte die Balance zwischen uns und ihnen, und er wusste, dass die Welt der Wissenschaft und die Welt der Menschen zwei unterschiedliche Orte waren. Als wollte er dies und mein fehlendes Verständnis für die Zuhörerschaft noch einmal betonen, lachte er plötzlich. Es war das erste Mal, dass ich sein Lachen hörte, es war kurz und leise, aber ich erschrak dennoch. Ich wandte mich ab, konnte ihn nicht ansehen, sein Lachen wog zu schwer für mich, es nahm dem Trost all sein Gewicht, es brannte so stark in mir, dass ich mich wegdrehen und einen Schritt von ihm zurückweichen musste.

Und da stand sie.

Vielleicht sorgte meine Schwäche, diese schlecht verborgene Verletzlichkeit an jenem Tag dafür, dass Thilda sich zu mir vorwagte. Ich war nicht länger der geheimnisvolle Zugezogene, der beim Herrn Professor mit irgendetwas Abgehobenem und Unverständlichem beschäftigt war. Denn sie lachte nicht. Sie reichte mir ihre behandschuhte Hand, knickste und bedankte sich für den »äh … fabelhaften« Vortrag. Im Hintergrund giggelten ihre Freundinnen noch immer. Doch ihr Gekicher verschwand für mich, sie verschwanden, ich sah auch Rahm nicht mehr, nur ihre Hand. Sie verhöhnte mich nicht, sie lachte nicht über mich, und dafür war ich ihr unendlich dankbar. Die Augen dieses bezaubernden Wesens glitzerten, sie standen weit auseinander, waren so empfänglich für die Welt und das Leben, in erster Linie aber für mich. Nicht auszudenken, für mich! Nie zuvor hatte mich eine junge Frau so angesehen, es war ein Blick, der mir sagte, dass sie willens war, sich vollkommen hinzugeben, mir alles zu geben, und zwar nur mir, denn sie sah keinen der Umstehenden so an wie mich. Bei dem Gedanken begannen meine Knie sofort wieder zu zittern, bis ich schließlich nach unten sah. Es war, als hätte man mir eine Sehne durchschnitten, wie ein körperlicher Schmerz, und ich wünschte mir nichts mehr, als den Blickkontakt wiederaufzunehmen und die Welt um mich herum fahren zu lassen.

Es dauerte Monate, ehe die Leute im Dorf nicht mehr über meinen Auftritt sprachen. War man mir früher ausschließlich mit Respekt und Ehrfurcht begegnet, kam es jetzt öfter vor, dass man mir etwas fester die Hand schüttelte, mir auf die Schultern klopfte, vor allem die Männer, und feixend und mit unverhohlener Ironie zu mir sprach. Und die Worte zu ihrer vollen Größe expandieren, Bibel der Natur und exotische Seeungeheuer verfolgten mich noch Jahre danach. Alle merkten sich den Namen Swammerdam, der später in vielen, sehr unterschiedlichen Zusammenhängen Verwendung fand. Paarten sich Pferde auf einer Wiese, wurde dies als »Swammerdam’sche Betätigung« bezeichnet; wenn sie austreten mussten, sagten betrunkene Männer im Wirtshaus, sie würden eben kurz »ihren Swammerdam lüften«, und die Spezialität der hiesigen Bäckerei, eine längliche, mit Fleisch gefüllte Pastete, wurde plötzlich nur noch »Swammerpie« genannt.

Es belastete mich erstaunlich wenig. In gewisser Weise hatte sich mein Abstieg gelohnt. Jedenfalls dachte ich das, als ich wenige Monate danach Mathilda Tucker heiratete. Als wir zum Altar schritten, hatte ich ihre schmalen, typisch britischen Lippen längst bemerkt. Beim Hochzeitsantrag hatte ich mich erdreistet, sie zu küssen, und zu meiner Enttäuschung bemerkt, dass sich ihr Mund, ganz entgegen meinen nächtlichen Phantasien, keineswegs wie eine große, geheimnisvolle, taubenetzte Blume öffnete oder entfaltete wie ein Swammerdam’sches Seeungeheuer. Er war genauso trocken und steif, wie er aussah. Und die Nase war, streng genommen, eine Ahnung zu groß. Dennoch waren meine Wangen heiß, als wir nun vom Pfarrer getraut werden sollten. Immerhin würde ich heiraten und ernsthaft erwachsen werden, ohne zu ahnen, dass das Erwachsenenleben Dinge voraussetzte, die einen Großteil meiner Träume unmöglich machen und mich zwingen würden, die Welt der Wissenschaft hinter mir zu lassen. Denn Rahm hatte recht. Auch wenn ich mit einfachen, halbherzigen Forschungsaufgaben fortfuhr, hatte ich mich doch gegen meine Leidenschaft für das Fach entschieden.

Aber ich war so sicher gewesen, so vollkommen überzeugt davon, dass Thilda die Richtige für mich war. Ihre Besonnenheit faszinierte mich enorm. Sie dachte immer genau nach, ehe sie eine Frage beantwortete. In gleicher Weise war ich von ihrem stolzen Wesen angetan, ich war voller Bewunderung, wie sie zu ihrer Meinung stand, eine Eigenschaft, die bei den jungen Damen sonst eher selten zu finden war. Erst später, jedoch nicht viel später, nach wenigen Ehemonaten schon, verstand ich, dass sie ihre Antworten nur deshalb so lange abwog, weil sie nicht gerade ein großer Geist war, und ich erkannte, was eigentlich hinter ihrem vermeintlichen Stolz steckte: eine unverbesserliche Sturheit. Denn wie sich herausstellen sollte, gab sie niemals nach. Niemals.

Den dringlichsten Grund, warum ich sie geheiratet hatte, wollte ich nicht einmal mir selbst eingestehen, erst jetzt, auf meinem Krankenlager, konfrontierte ich mich damit, und es war eine Erkenntnis, die mir zeigte, dass ich noch immer so primitiv und lüstern war wie der zehnjährige Junge von einst. Es war die Tatsache, dass sie ein lebendiger, weicher Körper war. Dass sie mein sein würde, mir zugänglich wäre. Dass ich bald die Gelegenheit hätte, mich an diesen Leib zu pressen, mich auf ihn zu legen und dagegenzustoßen, als wäre er frische, feuchte Erde.

Doch auch dies gestaltete sich am Ende nicht so, wie ich es mir ausgemalt hatte, sondern erwies sich als eine eher trockene und anstrengende Angelegenheit mit viel zu vielen Knöpfen und Bändern, mit Fischbeinen vom Korsett, kratzenden Wollstrümpfen und saurem Schweißgeruch. Trotzdem wurde ich mit dem Instinkt einer Tiers, einer Drohne, von ihr angezogen. Wieder und wieder, paarungsbereit, obwohl Nachkommen das Letzte waren, was ich mir wünschte. Und wie die Drohne opferte auch ich mein Leben der Fortpflanzung.