GEORGE
Ich hastete über die Wiese in Richtung Fluss. Kam an der Eiche vorbei. Mein Magen krampfte sich zusammen. Irgendwo mussten sie sein.
Ich nahm mein Handy, prüfte, ob ich einen Anruf verpasst hatte, vielleicht hatte jemand einen Schwarm in seinem Garten? Doch nein. Das Klingeln hätte ich gehört.
Das war kein Schwärmen. Natürlich nicht. Ich wusste es ja. Kein Bienenstock sah so aus, wenn sie schwärmten. Und kein Schwarm verließ die alte Königin.
Systematisch durchkämmte ich die Umgebung, lief hin und her.
Nichts.
Wieder griff ich zu meinem Handy. Ich musste Ordnung in diese Sache bringen und die Kontrolle wiedererlangen, und ich brauchte Hilfe.
Ich wählte Ricks Nummer. Er meldete sich sofort, im Hintergrund war Lärm zu hören, er war im Pub.
»Hier ist Rick, immer zu Diensten!«, sagte er lachend.
Ich konnte nicht antworten, die Worte steckten in meinem Hals fest.
»Hallo? George?«
»Ja. Hallo. Entschuldige die Störung.«
»Stimmt etwas nicht? Warte mal kurz.«
Um ihn herum wurde es stiller, offenbar hatte er das Lokal verlassen.
»Hallo. So. Jetzt kann ich dich besser hören.«
»Ja. Rick … ich wollte dich fragen, ob du kommen kannst. Zur Wiese am Fluss.«
Die Fröhlichkeit wich aus seiner Stimme, er hörte mir an, dass es ernst war.
»Wie meinst du das? Jetzt?«
»Ja. Ja …«
Meine Stimme brach.
»Es ist … so viel. Es gibt so unglaublich viel aufzuräumen.«
Emma weinte. Sie stand mitten auf der Wiese unter einem Baum und weinte. Die Blätter warfen Schatten auf ihr Gesicht, die sich über ihre nassen Wangen bewegten. Vielleicht hatte sie versucht, sich hier unter dem Baum zu verstecken, hatte ihre Verzweiflung verstecken wollen. Aber ich fand sie, legte die Arme um sie und hielt sie fest, wie ich es immer tat, wenn ihr die Tränen kamen. Es half, sie beruhigte sich. Und mich selbst beruhigte es wohl auch ein wenig.
Um uns verstreut lagen die umgestürzten Magazinbeuten, die Pastellfarben leuchteten grell in der Sonne. Sie waren wie kleine Häuser, von einem Riesen zerstört. Und der Riese war ich. Ich hatte nicht die Kraft gehabt, hinter mir aufzuräumen. Ich war über die Wiese hinweggetobt, hatte eine Beute nach der anderen kontrolliert, während mir das Blut in den Ohren rauschte.
Ich hatte nicht alle verloren. Die eine oder andere Beute war noch immer wie vorher, dort summten die Bienen umher und arbeiteten, als sei nichts geschehen, aber die gesunden Bienenstöcke waren zu wenige. Ich hatte keine Lust, sie zu zählen. Ich machte nur weiter. Immer weiter.
Rick und Jimmy waren beide gekommen und arbeiteten jetzt ein Stück von uns entfernt. Rick ging langsam vor und zurück, ausnahmsweise hielt er einmal den Mund, sein Körper wankte leicht, als wüsste er nicht, wo er anfangen sollte. Jimmy war dagegen schon voll im Einsatz, hievte die leeren Kisten hoch und stapelte sie ordentlich.
»So was kann doch nicht einfach so passieren«, schluchzte Emma in meinen Pullover.
Ich hatte keine Antwort.
»Irgendetwas muss … falsch gelaufen sein.«
Ich ließ sie los. »Du glaubst, es liegt an uns?«
»Nein, nein.« Ihr Schluchzen verebbte. »Aber … was ist mit dem Futter?« Sie richtete sich auf, ihr Gesicht lag noch immer im Schatten, und sie sah mich nicht an.
»Alles in Ordnung – Herrgott noch mal, du brauchst nur in den Kalender zu gucken, du weißt doch, dass ihnen jetzt nicht das Futter ausgeht.«
»Nein, nein.«
Emma trocknete sich die Tränen, und ich wusste nicht, was ich mit meinen Händen anstellen sollte.
Sie blickte aus dem Schatten hinaus zur Wiese, ins Licht.
»Es ist ziemlich warm. Viele von ihnen stehen ja den ganzen Tag in der Sonne.«
»Das tun sie jeden Sommer, schon seit Generationen.«
»Ja. Bitte entschuldige. Ich kann nur nicht glauben, dass sie einfach so verschwinden. Ohne Grund.«
Meine Kiefernmuskeln spannten sich an. Ich drehte ihr den Rücken zu.
»Nein. Das kannst du nicht glauben. Aber das hilft uns jetzt auch nicht viel weiter.«
Eine einsame Biene summte an uns vorbei.
»Entschuldige«, sagte sie leise. »Bitte komm zu mir.«
Sie breitete die Arme aus, ganz sanft und ruhig, strahlte Geborgenheit aus. Ich vergrub mein Gesicht in ihrem Pullover, hätte gern so wie sie geweint, aber meine Augen waren staubtrocken. Stattdessen bekam ich kaum Luft. Es wurde zu eng, ihr Pullover erstickte mich, ihre Haut strahlte viel zu warm durch den Stoff.
Ich zog mich zurück. Stapelte einige Bretter, hatte aber keinen Ort, an dem ich sie ablegen konnte, also schichtete ich sie auf dem Boden zu einem Haufen. Aufräumen ohne Sinn und Verstand.
Sie kam zu mir, streckte erneut die Arme aus.
»Du …«
Ich war verraten worden, so wie Cupido von seiner Mutter. Aber ich hatte keine Mutter, vor der ich weinen konnte. Auch keine Mutter, der ich etwas vorwerfen konnte, denn ich wusste nicht, wer mich verraten hatte …
Und noch dazu konnte ich auch nicht einfach jammern wie ein mit Stichen übersätes Kind.
Ich schüttelte heftig den Kopf, als Emma mir die Arme entgegenstreckte. »Muss jetzt arbeiten.«
Dann nahm ich weitere Bretter, legte sie auf die anderen, ein wackeliger Turm.
»Na gut.« Sie ließ ihre Arme sinken.
»Ich mache euch was zu essen.«
Sie drehte sich um und ging.
Die Abendsonne war ein feuerroter Kreis am Himmel. Harte Strahlen und lange Schatten.
Mein Körper tat weh, aber ich machte einfach weiter. Ich hatte Beuten an sieben verschiedenen Plätzen stehen, doch überall bot sich mir derselbe Anblick.
Jetzt waren wir beim letzten Ort angelangt, dem Wald hinter dem Hof von McKenzie. Es war ein kleiner Forst, umgeben von Feldern. Die Beuten standen im Halbschatten. Normalerweise summten die Bienen gegen die zwitschernden Vögel und umhersurrenden Fliegen an. Jetzt war alles still.
Plötzlich stand Jimmy mit den drei Klappstühlen da.
»Wir müssen uns jetzt setzen«, sagte er.
Er suchte uns einen Platz ein Stück von den Beuten entfernt. Rick und ich stapften hinterher. Rick hatte den ganzen Nachmittag kein Wort gesagt, und ich ertappte mich dabei, dass ich seine Geschichten vermisste. Immer wenn ich ihn ansah, drehte er sich weg, vielleicht wollte er seine feuchten Augen verbergen.
Jimmy packte eine Thermoskanne und Kekse aus. Hatte er sie dabeigehabt? Oder von Emma bekommen? Ich wusste es nicht. Er zog die Plastikfolie von der Kekspackung und legte sie zwischen uns, dann schenkte er Kaffee ein. Wir nahmen die Tassen. Diesmal stießen wir nicht miteinander an.
Der Klappstuhl quietschte. Ich versuchte, ruhig zu sitzen, mich gar nicht zu bewegen, das Geräusch wirkte fehl am Platz. Es gehörte einer anderen Zeit an. Jimmy trank einen Schluck Kaffee und schlürfte dabei. Auch dieses Geräusch klang falsch. Alltäglich. Wie entspannt er die Tasse hielt, plötzlich bekam ich Lust, seine ruhige Hand zu packen und ihm den Kaffee ins Gesicht zu schütten, damit Ruhe einkehrte. Nein, was dachte ich da bloß … Armer Jimmy. Es war nicht seine Schuld.
Wir drei konnten über vieles reden. Über die Imkerei. Über Landwirtschaft, Werkzeug, Handwerk, Tischlerei. Und über den Ort, die Leute, den neuesten Klatsch und Tratsch. Über Gareth konnten wir lange reden. Auch über Frauen, jedenfalls Rick und ich. Normalerweise plauderten wir munter drauflos. Wir fanden immer etwas, worüber wir lachen konnten. Jimmy und ich bestimmten das Tempo, unsere Dialoge waren wir Pingpong, während Rick die längsten Monologe hielt.
Heute fanden wir jedoch keine Worte. Immer, wenn ich etwas sagen wollte, hielt ich inne. Und ich glaube, den anderen ging es genauso. Denn Jimmy räusperte sich ständig, und Rick sah vom einen zum anderen und holte in regelmäßigen Abständen tief Luft. Doch es kam nichts.
Also tranken wir Kaffee und aßen Kekse. Und versuchten, ganz ruhig zu sitzen, damit uns das Quietschen der Stühle nicht daran erinnerte, dass es allzu still zwischen uns war. Der Kaffee war lauwarm und schmeckte nach nichts. Die Kekse ließen sich essen, sie sorgten für ein wenig Linderung, und erst jetzt verstand ich, dass das Ziehen in meinem Bauch Hunger war.
So saßen wir, während sich die Dunkelheit herabsenkte, über uns, um uns. Bis auf die Knochen.