GEORGE
Emma sollte recht behalten, was den Schnee an ging. Schon tags darauf sickerte und gluckerte das Schmelzwasser so laut, dass man keine anderen Geräusche mehr hörte, und die Sonne brannte auf die Holzbalken des Hauses und bleichte die Südwand noch mehr. Die Temperaturen kletterten, und es wurde warm genug für den Reinigungsflug der Bienen. Sie waren reinliche Tiere und machten nicht in den Bienenstock. Erst wenn die Sonne endlich wieder wärmte, flogen sie aus ihren Magazinbeuten, um ihren Darm zu entleeren. Tatsächlich hatte ich genau darauf gehofft: dass der Winter seinen Rückzug antrat, solange Tom noch zu Hause war. Denn dann konnte er mit mir zu den verlassenen Behausungen hinausfahren und die Bodenbretter der Beuten reinigen. Ich hatte sogar Jimmy und Rick freigegeben, damit Tom und ich alleine arbeiten konnten. Aber erst am Donnerstag war der richtige Zeitpunkt gekommen, nur drei Tage vor seiner Abreise.
Es war eine ruhige Woche gewesen. Wir gingen einander aus dem Weg, er und ich. Emma balancierte ausgleichend zwischen uns, lachend und plaudernd wie immer. Anscheinend hatte sie sich mit Leib und Seele der Aufgabe verschrieben, das richtige Essen für Tom zu finden, denn sie zauberte ein Fischgericht nach dem anderen auf den Tisch, und die »interessanten« und »leckeren« Fischarten in der Tiefkühltruhe unseres Supermarktes schienen unerschöpflich zu sein. Und Tom war dankbar, er freute sich »riesig über das Superessen«.
Wenn wir wieder einmal einen solchen Fisch verzehrt hatten, blieb er meistens am Küchentisch sitzen. Er las erschreckend dicke Bücher, tippte eifrig auf seinem Laptop oder war vollkommen von irgendwelchen japanischen Kreuzworträtseln gefesselt, die er Sudoku nannte. Anscheinend kam er gar nicht auf den Gedanken, sich an einen anderen Ort zu begeben, und bemerkte nicht, dass draußen alles so lichtüberflutet war, als hätte jemand im Himmel eine stärkere Birne reingedreht.
Ich suchte mir Aufgaben, es war ja nicht so, dass ich mich nicht beschäftigen konnte. An einem Tag fuhr ich nach Autumn und kaufte Farbe fürs Haus. Als ich draußen stand und die Südwand strich, spürte ich, wie mir die Sonne auf den Kopf brannte, und ich wusste, dass ich jetzt einen Ausflug zu den Bienenstöcken wagen konnte. Eigentlich musste ich die Bodenbretter noch nicht vollständig reinigen, aber für Tom war es die letzte Chance, und es konnte nicht schaden, mit einigen wenigen Stöcken anzufangen. Die Bienen waren schon seit einer Weile unterwegs, sie sammelten Pollen, sobald die Sonne schien.
Normalerweise mochte Tom das. Er war immer gern mit hinausgefahren. Jimmy und ich säuberten im Laufe des Winters mehrmals die Fluglöcher, davon abgesehen ließen wir die Bienen aber in Ruhe, weshalb es immer etwas Besonderes war, wenn wir zum ersten Mal draußen bei den Bienenstöcken waren. Die Bienen nach so langer Zeit zu sehen, ihr vertrautes Summen zu hören war die reinste Freude, ein Fest der Wiedervereinigung.
»Ich bräuchte Hilfe mit den Bodenbrettern«, sagte ich.
Ich hatte mich schon angezogen, stand in Overall und Gummistiefeln mitten im Zimmer und konnte die Füße kaum stillhalten, so sehr freute ich mich. Den Schleier hatte ich nach oben geschlagen, um besser sehen zu können. Ich hatte auch eine zusätzliche Ausrüstung dabei und hielt sie mit beiden Händen vor mich.
»Jetzt schon?«, fragte er, ohne aufzusehen. Er war zähflüssiger als Honig, klebte immer nur bleichgesichtig vor seinem Computer, die Finger auf der Tastatur.
Plötzlich merkte ich, dass ich den Anzug und den Imkerhut etwas zu weit vorstreckte, als wollte ich ihm ein Geschenk überreichen, das er nicht haben wollte. Ich klemmte mir beides unter den einen Arm und stemmte die andere Hand in die Seite.
»Sonst fault es unter ihnen. Das weißt du doch. Niemand wohnt gern im Dreck. Wobei, Studentenbuden gelten ja auch nicht gerade als sauber …«
Ich versuchte zu lachen, aber es klang eher wie ein Quaken. Außerdem bildete mein Ellbogen einen seltsamen Winkel, ich nahm die Hand wieder von der Hüfte. Sie hing schlaff herunter, fühlte sich leer an, und ich kratzte mich an der Stirn, damit sie etwas zu tun hatte.
»Aber sonst wartest du doch immer noch ein paar Wochen?«, sagte er.
Jetzt sah er auf. Seine schönen Augen starrten mich an.
»Nein, tue ich nicht.«
»Papa …«
Er sah mir an, dass ich log, hatte eine Augenbraue hochgezogen und einen spöttischen Zug um den Mund.
»Es ist warm genug«, fügte ich schnell hinzu. »Und wir werden uns nur ein paar wenige vornehmen. Um den Rest brauchst du dich nicht zu kümmern. Das übernehme ich dann nächste Woche mit Jimmy und Rick.«
Ich versuchte noch einmal, ihm den Overall und den Imkerhut zu reichen, aber er nahm sie nicht an. Er machte keinerlei Anstalten, sich zu bewegen, deutete nur mit dem Kopf auf seinen Computer.
»Ich schreibe gerade eine Hausarbeit.«
»Hast du denn keine Ferien?«
Ich legte die Ausrüstung vor ihm auf den Tisch. Versuchte, ihn entschlossen anzublicken, mit meinen Augen auszudrücken, dass er sich doch bitte bequemen möge, mir zu helfen, wenn er es schon endlich einmal für richtig befunden hatte, bei seinen Eltern vorbeizuschauen.
»Wir sehen uns in fünf Minuten draußen.«
Wir besaßen 324 Magazinbeuten. 324 Königinnen mit ihren Bienenvölkern, die an unterschiedlichen Stellen in der Umgebung verteilt waren, selten mehr als 20 an einem Ort. Hätten wir in einem anderen Staat gelebt, hätten wir bis zu 70 Bienenstöcke an einem Ort aufstellen können. Ich kannte einen Imker in Montana mit nahezu hundert Magazinbeuten an einem Ort. Die Gegend dort war so fruchtbar, dass die Bienen nur wenige Meter fliegen mussten, schon hatten sie alles gefunden, was sie brauchten. Hier dagegen, in Ohio, war die Landwirtschaft zu einseitig. Meilenweit nur Mais und Sojabohnen. Zu wenig Zugang zu Nektar, nicht genug, als dass die Bienen davon leben konnten.
Über die Jahre hinweg hatte Emma all unsere Bienenstöcke in Pastellfarben gestrichen. Rosa, Türkis, Hellgelb und ein grünlicher Pistazienton, der so künstlich aussah wie Marshmallows mit Farbstoff. Sie fand, das sähe lustig aus. Meinetwegen hätten sie ruhig weiß bleiben können, so wie vorher. Mein Vater hatte sie stets weiß gestrichen, genau wie sein Vater und Großvater. Sie hatten immer gesagt, die inneren Werte zählten – das Wichtigste war das, was sich in den Bienenstöcken befand. Emma war jedoch der Meinung, den Bienen gefiele es so, ein bisschen persönlicher. Wer weiß, vielleicht hatte sie recht. Und ich muss gestehen, dass mir beim Anblick der bunten, in der Natur verstreuten Kästen, die aussahen, als hätte ein Riese seine Süßigkeiten verloren, immer warm ums Herz wurde.
Wir begannen auf der Wiese zwischen dem Hof von Menton, der Hauptstraße und dem schmalen Alabast River, der trotz seines klangvollen Namens hier im Süden nicht viel breiter war als ein Bach. An dieser Stelle hatte ich die meisten Magazinbeuten an einem Ort versammelt. 26 Bienenvölker. Wir begannen mit einer quietschrosa Beute. Es war gut, zu zweit zu sein. Tom hob den Bienenstock an, während ich das Brett austauschte. Ich zog das alte heraus, das voller Abfall und toter Bienen aus dem Winter war, und setzte ein neues, sauberes ein. Letztes Jahr hatten wir in moderne Gitterböden mit Schublade investiert. Sie waren teuer gewesen, aber es hatte sich gelohnt. So war die Belüftung besser und die Reinigung leichter. Die meisten Imker, die in derselben Größenordnung produzierten wie wir, verzichteten auf einen so frühen Wechsel der Beutenbretter, aber ich wollte keine Kompromisse eingehen. Meinen Bienen sollte es gut gehen.
Im Laufe des Winters hatte sich viel Dreck auf dem Beutenboden gesammelt, ansonsten sah alles gut aus. Wir hatten Glück, die Bienen verhielten sich ruhig, nur wenige flogen hinaus. Es war schön, Tom hier draußen zu sehen. Er arbeitete schnell und routiniert, war wieder in seinem Element. Ein paarmal wollte er beim Heben den Rücken beugen, aber davon hielt ich ihn ab.
»Du musst in die Knie gehen.«
Ich kannte mehrere Leute, die sich wegen der falschen Hebetechnik etwas ausgerenkt oder sogar einen Bandscheibenvorfall erlitten hatten. Und Toms Rücken sollte schließlich noch viele Jahre durchhalten und tausende Bienenstöcke heben.
Wir arbeiteten bis zur Mittagspause durch. Währenddessen redeten wir nicht viel, nur ein paar Worte, und nur über die Arbeit. »Hier musst du anpacken, ja, genau, gut.« Ich wartete die ganze Zeit darauf, dass er um eine Pause bat, aber er tat es nicht, und als es fast halb zwölf war, knurrte mein Magen so laut, dass ich am Ende selbst den Vorschlag machen musste, einen Imbiss zu nehmen.
Wir setzten uns auf die Ladefläche des Wagens und ließen die Beine baumeln. Ich hatte eine Thermoskanne mit Kaffee und ein paar Brote mitgenommen. Das Brot hatte die Erdnussbutter aufgesogen wie ein Schwamm, und die Scheiben waren klitschig, aber es war erstaunlich, wie gut alles schmeckte, wenn man an der frischen Luft gearbeitet hatte. Tom sagte nichts. Mein Sohn war eindeutig kein großes Konversationstalent. Aber wenn er es so wollte, war es für mich in Ordnung. Ich hatte ihn hierher bewegt, das war das Wichtigste. Ich hoffte nur, er genoss es auch ein bisschen und erlebte dieselbe Wiedersehensfreude.
Als ich längst fertig war und vom Wagen sprang, um weiterzuarbeiten, mühte er sich immer noch mit seinem Brot ab. Nahm kleine Mäusebissen und starrte eingehend die Scheibe an, als würde etwas mit ihr nicht stimmen.
Und dann rückte er plötzlich damit heraus.
»Ich habe einen sehr guten Englischdozenten.«
»Aha«, sagte ich und hielt inne. Ich versuchte zu lächeln, aber irgendetwas daran, wie er diesen ganz normalen Satz sagte, versetzte mir einen Stich. »Das ist gut.«
Er nahm einen neuen Bissen und kaute und kaute, als hätte er das Schlucken verlernt.
»Er hat mich ermutigt, mehr zu schreiben.«
»Mehr? Mehr von was denn?«
»Er sagt, dass …«
Er verstummte. Legte das Brot beiseite und griff nach der Kaffeetasse, trank jedoch nicht. Erst jetzt fiel mir auf, dass seine Hand ein bisschen zitterte.
»Er sagt, dass ich eine eigene Stimme habe.«
Eine Stimme? Was für ein Akademikergeschwätz. Ich grinste, so etwas konnte ich einfach nicht ernst nehmen.
»Das hätte ich dir schon lange sagen können«, erwiderte ich. »Besonders, als du klein warst. Laut und durchdringend war sie. Zum Glück kamst du irgendwann in den Stimmbruch.«
Er lächelte nicht, saß nur schweigend da.
Mir verging das Grinsen auch wieder. Er wollte mir irgendetwas mitteilen, daran bestand kein Zweifel. Irgendwas hatte er auf dem Herzen, und ich hatte den starken Verdacht, dass es etwas war, das ich auf keinen Fall hören wollte.
»Es ist schön, dass deine Lehrer so zufrieden mit dir sind«, sagte ich schließlich.
»Er hat mich wirklich sehr dazu ermutigt, mehr zu schreiben«, sagte Tom leise und mit Betonung auf sehr. »Er sagt, dass ich mich auf Stipendien bewerben könnte, und dann vielleicht sogar weitermachen.«
»Weitermachen?«
»Ja, promovieren.«
Meine Brust wurde eng, mein Hals schwoll zu, ich hatte einen penetranten Geschmack von Erdnussbutter im Mund, konnte sie aber nicht herunterschlucken.
»Aha, sagt er das.«
Tom nickte.
Ich versuchte, ruhig zu klingen. »Machen das denn viele, dieses Promovieren?«
Er starrte nur auf seine Schuhe, ohne zu antworten.
»Ich bin nicht mehr der Jüngste«, setzte ich hinzu. »Und die Arbeit erledigt sich nicht gerade von selbst.«
»Nein, das weiß ich«, sagte er leise. »Aber du hast doch Hilfe?«
»Jimmy und Rick kommen und gehen, wann sie wollen. Es ist nun mal nicht ihr Hof. Außerdem ist ihre Hilfe nicht umsonst.«
Ich machte mich wieder an die Arbeit, warf die schmutzigen Beutenböden aufs Auto, das Holz prallte mit einem dumpfen Scheppern auf das Blech der Ladefläche. Wir hatten schon früher von Toms Lehrern gehört, dass er gut mit Sprache umgehen konnte. Er hatte immer die beste Note in Englisch gehabt und war sicher nicht auf den Kopf gefallen. Aber an Englisch hatten wir nicht unbedingt gedacht, als wir ihn aufs College schickten. Betriebswirtschaft und Marketing, solche Sachen sollte er lernen, um den Hof zukunftsfähig zu machen. Expandieren, modernisieren, effizienter werden. Und vielleicht auch eine ordentliche Homepage gestalten. So etwas sollte er lernen. Deshalb hatten wir jeden Cent für die Studiengebühren gespart, seit er ein kleiner Knopf war. Nicht einen richtigen Urlaub hatten wir uns gegönnt. Alle Ersparnisse waren auf das Collegekonto gewandert.
Was wusste dieser Englischdozent schon? Sicher saß er dort in irgendeinem staubigen Büro voller Bücher, die er gar nicht gelesen hatte, schlürfte Tee und trimmte seinen Bart mit einer alten Nähschere. Und währenddessen verteilte er schlaue Ratschläge an junge Männer, die zufällig ganz gut schreiben konnten, ohne auch nur im Ansatz zu verstehen, was er damit auslöste.
»Lass uns später darüber sprechen«, sagte ich.
Wir führten dieses Gespräch nie. Er reiste ab, bevor wir die Zeit dafür fanden. Ich entschied für mich, dass »später« in weiter Ferne war. Vielleicht hatte er dasselbe gedacht. Oder Emma. Denn die restliche Zeit, die er bei uns war, waren wir nie allein im Zimmer. Emma scharwenzelte gurrend um uns herum wie eine wild gewordene Taube, deckte den Tisch, räumte ihn wieder ab und redete ununterbrochen über nichts und wieder nichts.
In diesen Tagen war ich unglaublich müde, ständig nickte ich auf dem Sofa ein. Ich hatte eine lange Liste an Dingen, die zu erledigen waren, alte Bienenstöcke, die ich in Stand setzen, Bestellungen, die ich bearbeiten musste. Aber ich konnte mich nicht aufraffen. Ich fühlte mich, als hätte ich Fieber und überprüfte es sogar, schlich mich ins Bad und holte ein Thermometer aus dem Arzneischrank. Es war hellblau mit Bärchen drauf, Emma hatte es für Tom gekauft, als er klein war. Es würde besonders schnell messen, hieß es in der Gebrauchsanweisung, damit man das Kind nicht länger als notwendig quälte. Dafür musste man es allerdings ziemlich lange drinlassen. Irgendwo im Haus hörte ich Emmas Gurren und Tom, der ab und zu etwas antwortete. Und ich stand da mit der kalten Metallspitze im Hintern, die sicher schon hundertmal im Po meines Sohnes gesteckt hatte, denn Emma war mit dem Fiebermessen nicht zimperlich gewesen, und spürte erneut, wie mir die Augen zufielen, während ich auf das digitale Signal wartete, das mir schließlich sagte, mit meinem Körper sei alles in Ordnung, und dabei hatte ich das Gefühl, einen Marathon gelaufen zu sein.
Obwohl sich mein Verdacht auf Fieber zerstreut hatte, legte ich mich ins Bett, ohne den anderen Bescheid zu sagen. Sollten sie nur ungestört weiterplaudern.
Das Gurren ging pausenlos weiter, bis er im Bus saß. Tom klebte an der Heckscheibe, und die Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Erst in diesem Moment verstummte Emma endlich.
Und so standen wir wieder da und winkten wie batteriebetrieben, unsere Hände wedelten mechanisch auf und ab, auf und ab, völlig synchron. Emmas Augen wurden feucht, vielleicht war es auch nur der Wind, aber sie weinte zum Glück nicht.
Der Bus bog in die Straße ein, Toms Gesicht leuchtete uns blass entgegen und wurde kleiner und kleiner. Ich musste an ein anderes Mal denken, als er im Bus weggefahren war. Auch damals war ihm die Erleichterung deutlich anzusehen gewesen, aber auch die Angst.
Ich schüttelte den Kopf, wollte meine Erinnerung vertreiben.
Endlich war der Bus um die Ecke verschwunden. Wir ließen gleichzeitig die Hände sinken, blieben stehen und sahen zu, wie der Bus als winziger Punkt verschwand, als wären wir so dumm zu hoffen, er käme plötzlich wieder zurück.
»Ja, ja«, sagte Emma. »Das war es.«
»Das war es? Wie meinst du das?«
»Sie wurden uns nur geliehen.« Sie wischte sich eine Träne weg, die ihr der Wind ins linke Auge getrieben hatte.
Ich hatte große Lust, etwas Barsches zu erwidern, ließ es jedoch bleiben. Ich hatte großen Respekt vor dieser Träne. Also drehte ich mich um und ging zum Auto.
Sie schlurfte mit kleinen Schritten hinter mir her. Anscheinend war auch sie geschrumpft, genau wie ihr Sohn.
Ich setzte mich hinter das Steuer, schaffte es jedoch nicht, den Motor zu starten. Meine Hand war so schlaff. Als wäre sie müde von all dem Winken.
Emma schnallte sich an, sie nahm es immer so genau damit, und wandte sich zu mir.
»Willst du nicht fahren?«
Ich wollte die Hand heben, aber auch das konnte ich nicht.
»Hat er mit dir darüber gesprochen?«, fragte ich das Lenkrad.
»Was?«, sagte Emma.
»Über seine Pläne? Für die Zukunft?«
Sie schwieg eine Weile, ehe sie leise antwortete.
»Du weißt doch, wie sehr er das Schreiben liebt. Das war schon immer so.«
»Ich liebe Star Wars. Deswegen bin ich noch lange kein Jedi geworden.«
»Er scheint aber ein besonderes Talent zu haben.«
»Heißt das, du unterstützt ihn? Du hältst seinen Plan für klug? Einen guten Weg?« Jetzt drehte ich mich zu ihr, richtete mich auf, versuchte, unnachgiebig auszusehen.
»Ich will doch nur, dass er glücklich ist«, erwiderte sie kleinlaut.
»Soso, das willst du.«
»Ja. Das will ich.«
»Denkst du denn nicht daran, dass er auch von irgendetwas leben muss? Und eines Tages Geld verdienen?«
»Sein Dozent hat gesagt, dass er was kann.«
Sie sah mich mit ihren großen, offenen Augen an, vollkommen ehrlich, sie war keineswegs wütend, nur fest davon überzeugt, dass sie recht hatte.
Ich umklammerte den Zündschlüssel so fest, dass es wehtat, aber ich konnte nicht loslassen.
»Und was soll dann deiner Meinung nach aus dem Hof werden?«
Sie schwieg. Lange. Sah weg, nestelte an ihrem Ehering herum, zog ihn über das Fingergelenk. Auf der Haut kam ein weißer Schatten zum Vorschein, die Spur des Rings, der dort 25 Jahre lang gesessen hatte.
»Nellie hat letzte Woche angerufen«, sagte sie schließlich in die Luft hinein. »In Gulf Harbors haben sie jetzt Sommer. Das Meer ist zwanzig Grad warm.«
Da war es wieder. Gulf Harbors. Sie sagte es so leicht dahin, aber mich traf der Name dieses Wohngebiets jedes Mal schwer wie ein Ziegelstein.
Nellie und Rob waren Freunde aus Kindheitstagen, die es leider nach Florida verschlagen hatte. Seither lag Emma mir andauernd damit in den Ohren, dass wir diese sogenannte Oase außerhalb von Tampa besuchen sollten, um dann gleich selbst dort hinzuziehen. Ständig kam sie mit neuen Anzeigen für Häuser in Gulf Harbors. Unglaublich billig. Schon länger im Angebot. Wir könnten ein Schnäppchen machen. Neu renoviert mit Bootsanleger und Swimmingpool, gemeinschaftlicher Strand und Tennisplatz – als bräuchten wir so etwas –, ja, sogar Delphine gebe es dort, und Seekühe, die direkt vor dem Haus herumplantschten. Seekühe? Die brauchte man doch erst recht nicht. Hässliche Viecher.
Nellie und Rob prahlten gewaltig. Sie hätten massenhaft neue Freunde gefunden, sagten sie, und erwähnten sie immerzu beiläufig: Laurie, Mark, Randy, Steven. Es mangele ihnen an nichts. Jede Woche würden sie zum Gemeinschaftsbrunch im Versammlungshaus gehen, ein ganzes Büfett für nur fünf Dollar mit Pfannkuchen, Speck, Eiern und Bratkartoffeln! Und jetzt versuchten sie, auch uns dorthin zu locken, und nicht nur uns, sie bearbeiteten alle, anscheinend wollten sie ganz Autumn nach Süden umsiedeln. Aber ich wusste, was eigentlich dahintersteckte. Sie fühlten sich einsam an ihrem Kanal. Es war langweilig, so weit weg von den Freunden und der Familie zu leben und alles zurückzulassen, was einen das ganze Leben lang umgeben hatte. Davon abgesehen war der Sommer in Florida die reinste Hölle, unerträglich heiß und schwül, und obendrein wüteten mehrmals am Tag wahnsinnige Stürme. Der Winter war sicher ganz in Ordnung, mit angenehmen Temperaturen und wenig Regen, aber wer wollte schon ohne einen richtigen Winter leben? Ohne Schnee und Kälte? All das hatte ich Emma schon oft gesagt, aber sie ließ einfach nicht locker. Sie meinte, wir müssten endlich anfangen, ordentliche Pläne zu schmieden, Pläne für das Alter. Sie verstand nicht, dass ich genau das getan hatte. Ich wollte etwas Sinnvolles hinterlassen, ein Erbe, anstatt in einem halbverfallenen Ferienhaus zu sitzen, das man unmöglich weiterverkaufen konnte. Denn so war es, ich hatte ein wenig darüber gelesen, wie es zurzeit um den Immobilienmarkt in Florida bestellt war. Hatte recherchiert. Es gab triftige Gründe dafür, warum diese Häuser nicht schon nach der ersten Besichtigung verkauft wurden.
Ich hatte einen anderen Plan. Neue Investitionen. Mehr Magazinbeuten, viel mehr. Trucks. Trailer. Festangestellte. Verträge mit anderen Höfen in Kalifornien, Georgia, vielleicht auch Florida.
Und Tom.
Es war ein guter Plan, realistisch, nüchtern. Und Tom würde sowieso schneller, als er denken konnte, mit Frau und Kind dasitzen. Dann wäre es umso besser, dass sein Vater vorausschauend gehandelt hatte, der Hof in einem guten Zustand und der Betrieb an die moderne Welt angepasst war, dass Tom hier lange genug gearbeitet hatte, um diese Kunst in- und auswendig zu beherrschen, und vielleicht sogar noch Rücklagen vorhanden waren. Es waren unsichere Zeiten. Ich sorgte für Sicherheit. Ich allein sorgte für die Sicherheit meiner Familie. Für eine Zukunft. Doch das schien niemand zu begreifen.
Jetzt wurde ich müde, wenn ich nur an meinen Plan dachte. Früher hatte mir das stets neue Kräfte verliehen, um Überstunden zu machen, jetzt hatte ich den Eindruck, der vor mir liegende Weg wäre so lang und unwegsam wie ein schlammiger Feldweg im Herbstregen.
Ich konnte Emma nicht antworten, steckte nur den Schlüssel ins Zündschloss, er war schweißnass und hatte einen roten Abdruck auf meiner Hand hinterlassen. Ich musste jetzt fahren, bevor ich noch einschlief. Sie sah nicht auf, hatte den Ehering abgenommen und rieb sich den weißen Schatten darunter. Wir beide konnten nichts voreinander verbergen, und trotzdem wollte sie unsere ganze Existenz aufs Spiel setzen.