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Der Bienenstock war bewacht, das Zelt war jedoch entfernt worden, sodass er vollkommen frei am Rand der Felder stand, direkt neben dem Wald.

Die Leute hatten sich in gebührendem Abstand versammelt und betrachteten ihn ruhig. Niemand fürchtete sich, die Bienen waren nicht gefährlich, Wei-Wens Allergie war ein Einzelfall gewesen. Um uns herum blühte es überall, frischgepflanzte Büsche leuchteten rot, rosa, orange, dieselbe Märchenwelt, die ich damals im Zelt gesehen hatte, die sich jetzt aber über ein weites Gebiet erstreckte, denn die Obstbäume waren gefällt worden, um Platz für neue Pflanzen zu schaffen.

Das Militär war abgezogen worden und die Zäune niedergerissen. Der Kokon war aufgeplatzt, und der Bienenstock lebte unter uns. Die Bienen durften fliegen, wohin sie wollten, sie waren vollkommen frei.

Sie stand zehn Meter von mir entfernt im Schatten der Bäume, die Sonne fiel durch das Laub – unweit des Ortes, wo der erste wilde Bienenstock gefunden und Wei-Wen gestochen worden war: Savages Standardbeute, genau wie Thomas Savage sie in Der blinde Imker gezeichnet hatte. Jener Bienenstock, der seit 1852 in seinem Familienbesitz war. Die Konstruktionszeichnungen waren irgendwann im Laufe der Geschichte verschwunden, Thomas Savage hatte sich jedoch die Maße eingeprägt und erneut zu Papier gebracht. Sein ursprünglicher Erfinder hatte diesen Bienenstock zur Honigproduktion und zum Studium der Bienen konstruiert, er wollte sie darin zähmen.

Doch Bienen kann man nicht zähmen. Man kann sie nur pflegen, ihnen Fürsorge geben. Dem ursprünglichen Ansinnen zum Trotz bot diese Standardbeute den Bienen ein gutes Zuhause. Hier hatten sie alle Voraussetzungen, um sich zu vermehren. Den Honig behielten sie selbst, nichts wurde geerntet, nie wurden sie ausgenutzt. Er sollte den Zweck erfüllen, der ihm von der Natur zugedacht worden war, als Futter für den Nachwuchs.

Dieses Geräusch war anders als alles, was ich je gehört hatte. Die Bienen flogen ein und aus, ein und aus. Sie hatten Nektar und Pollen dabei, Nahrung für die Nachkommen. Doch nicht nur für ihre eigenen, wenigen, denn jede einzelne Biene arbeitete für das Volk, für alle, für den Organismus, den sie gemeinsam mit den anderen bildete.

Das Summen wogte durch die Luft und brachte etwas in mir zum Klingen, einen Ton, der mich beruhigte und mir das Atmen erleichterte.

So stand ich einfach nur da. Versuchte, jeder einzelnen Biene mit dem Blick zu folgen, ihre Reise zu beobachten, zum Bienenstock und wieder hinaus zu den Blüten, von einer Blüte zur nächsten und wieder zurück. Aber ich verlor sie ständig aus den Augen. Es waren zu viele, und ihre Bewegungsmuster waren unmöglich zu verstehen.

Also nahm ich lieber das Ganze in den Blick, den Bienenstock und all das Leben, das ihn umgab, all das Leben, das er beschützte.

Während ich so dastand, tauchte in meiner Nähe jemand auf. Ich drehte mich um. Es war Kuan. Er war fasziniert von dem Bienenstock und reckte den Kopf, um ihn besser sehen zu können. Dann entdeckte er mich.

»Tao …«

Er kam auf mich zu. Sein Gang wirkte fremd, irgendwie schwerer, wie der eines alten Mannes.

Wir blieben voreinander stehen. Kuan sah mir in die Augen, schlug den Blick nicht nieder, wie er es früher so oft getan hatte. Er wirkte ausgezehrt und blass.

Ich vermisste ihn. Vermisste den, der er gewesen war. Das Helle, Leichte, das er früher ausgestrahlt hatte, seine Zufriedenheit, die Freude über das Kind, das er hatte. Und das Kind, das er bekommen wollte. Ich wünschte, ich hätte etwas sagen können, was dieses Leuchten erneut in ihm weckte, aber ich fand keine Worte.

Wir drehten uns zum Bienenstock um, und so blieben wir Seite an Seite stehen und betrachteten ihn. Unsere Hände waren sich ganz nahe, aber keiner nahm die des anderen, wir waren wie zwei Teenager, die sich nicht trauten. Die Wärme zwischen uns war wieder da.

Eine Biene surrte in der Luft an uns vorüber, nur einen Meter entfernt, sie drehte nach rechts ab, in einer scheinbar planlosen Bewegung, und flog dann zwischen uns hindurch – ich spürte einen Luftzug an der Wange –, um in Richtung der Blüten zu verschwinden.

Da nahm er meine Hand.

Ich holte Luft. Diesmal war er derjenige, der sich traute.

Endlich berührte er mich wieder. Meine Hand wurde ganz klein, als er sie in seine nahm. Er teilte seine Wärme mit mir.

Wir waren einfach nur da, hielten uns an den Händen und betrachteten den Bienenstock.

Und dann kamen endlich die Worte, nach denen ich mich so gesehnt hatte.

Leise, aber deutlich, mit einem Ernst, den ich nicht von ihm kannte. Er sagte es nicht, weil er es musste, sondern weil er es ernst meinte:

»Es war nicht deine Schuld, Tao. Es war nicht deine Schuld.«

Anschließend, nachdem wir uns verabschiedet hatten, ging ich allein den Pfad entlang. Die Bienen vibrierten noch immer in mir. Und seine Worte setzten in mir selbst Worte frei.

Ich ging weiter, wurde immer langsamer, ehe ich am Ende anhielt und inmitten der Obstbäume stehen blieb. Alles war offen, von den Zäunen und der Militärbewachung keine Spur mehr, alles war wie früher, wie im vorigen Jahr zur selben Zeit. Es regnete gelbe Blätter. Der Boden war schon davon bedeckt, die Bäume bald nackt. Alle Birnen waren geerntet, jede von ihnen war vorsichtig gepflückt, in Papier eingeschlagen und weggetragen worden. Birnen aus Gold.

Doch am Horizont konnte ich die Veränderung erahnen. Die endlosen Reihen mit Obstbäumen wurden aufgebrochen. Die Arbeiter waren damit beschäftigt, die Wurzeln auszugraben und die Bäume aus dem Boden zu holen. Thomas Savages Vision wurde endlich Wirklichkeit. Wir gaben die Kontrolle auf, der Wald sollte sich ausbreiten dürfen. In die Erde würden andere Gewächse gepflanzt werden, und große Gebiete sollten wild wachsen.

Doch. Jetzt wollte ich es. Eine Rede halten, so wie sie es gewünscht hatte. Denn jetzt wollte ich auch selbst über Wei-Wen reden. Ich wollte darüber reden, wer er für uns alle gewesen war, und was er werden würde – über das Bild von ihm, das sie auf große Fahnen am Platz gedruckt hatten, auf Plakate an den Hauswänden, auf Banner über den Eingängen zu öffentlichen Gebäuden.

Es war eines der wenigen Fotos, die wir von ihm besaßen, und es war unscharf und blass, vor einem neutralen, grauen Hintergrund aufgenommen. Doch auf dem Plakat waren die Farben klar und die Kontraste deutlich, und seine Augen leuchteten ganz besonders.

Dieses farbenfrohe, scharfe Bild bekam die Welt zu sehen, und darüber würde ich reden. Nicht über ihn, Wei-Wen, der nie der ihre sein würde. Die Menschen da draußen würden nie seinen Eifer, seinen Starrsinn und Trotz kennenlernen. Sie würden nie erfahren, wie er schon beim Aufwachen gesungen hatte, mürrisch und doch enthusiastisch. Sie würden nie etwas über seine ständig laufende Nase erfahren, nichts über das Wechseln vollgepinkelter Windeln oder das Kneten eiskalter Füße, oder wie es war, wenn sich nachts ein warmer Körper an einen schmiegte. Für sie würde er nie etwas von alledem sein. Deshalb war es nicht mehr wichtig. Deshalb war nicht der, der er gewesen war, wichtig. Das Leben eines einzelnen Menschen, sein Fleisch, sein Blut, seine Körperflüssigkeiten, Nervensignale, Gedanken, Ängste und Träume bedeuteten nichts. Auch die Träume, die ich für ihn gehabt hatte, bedeuteten nichts, solange ich sie nicht in einen Zusammenhang brachte und erkannte, dass dieselben Träume für uns alle gelten mussten.

Doch Wei-Wen würde trotzdem Bedeutung haben. Das Bild von ihm. Der Junge mit dem roten Tuch, sein Gesicht – das war die neue Zeit. Für Millionen von Menschen waren sein rundes Kinn und seine großen, leuchtenden Augen, die in einen knallblauen Himmel schauten, nur mit einem einzigen Wort verbunden. Einem einzigen, gemeinschaftlichen Gefühl: Hoffnung.