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Es war Abend, aber wir schliefen nicht. Natürlich schliefen wir nicht. Wir hatten geglaubt, wir würden in unser kleines Provinzkrankenhaus im Ort fahren, doch stattdessen waren wir in die große Klinik in Shirong gebracht worden. Sie deckte den ganzen Bezirk ab. Niemand hatte uns erzählt, warum wir hierher gebracht worden waren. Der führerlose Krankenwagen hatte auf halber Strecke die Richtung gewechselt, und weil wir allein in der Fahrerkabine saßen, konnten wir niemanden fragen.
Wir wurden in einen Warteraum für Angehörige gebracht. Manchmal hörten wir auf dem Flur Menschen vorbeigehen, aber nie öffnete jemand die Tür, und wir hatten den Raum für uns allein.
Ich stand am Fenster. Von hier aus blickte man auf die Zufahrt zur Notaufnahme, die in der Mitte des Gebäudekomplexes lag, wie fünf weiße Finger fächerten sich die einzelnen Flügel von dort aus auf. Nur hinter manchen Fenstern brannte Licht, ein ganzer Flügel lag im Dunkeln. Die Klinik war in einer anderen Zeit gebaut worden, für weit mehr Einwohner, als der Bezirk heute hatte. Manchmal fuhren Autos auf den Platz vor der Notaufnahme, einmal landete sogar ein Hubschrauber. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt einen gesehen hatte. Es musste Jahre her sein; sie wurden nicht länger eingesetzt, weil sie zu viel Treibstoff verbrauchten. Die knatternden Rotoren wirbelten die Luft auf, und die weißen Kittel des Personals blähten sich, als würden sie gleich abheben. Die Tür glitt auf, eine Frau im Kostüm und zwei Männer kamen heraus. Keiner von ihnen sah krank aus, sie hetzten zum Haupteingang, als hätten sie wenig Zeit.
Manchmal ertönte eine laute und grelle Sirene, wenn ein neuer Rettungswagen kam. Dann eilte das Personal herbei und reihte sich auf, um die Patienten in Empfang zu nehmen. Sie wurden in hohem Tempo aus dem Wagen und in die Klinik geschoben und schon währenddessen von Ärzten und Schwestern versorgt. So war es auch bei unserer Ankunft gewesen, aber wir hatten es kaum wahrgenommen. Alles war so schnell gegangen. Als wir die Fahrerkabine verlassen durften, war Wei-Wen schon weggebracht worden. Wir sahen das Personal nur noch von hinten, wie es mit der Bahre verschwand. Wahrscheinlich lag er darauf, aber ich konnte ihn nicht sehen, weil die weißen Rücken ihn verdeckten. Ich rannte ihnen nach, wollte ihn einfach nur sehen. Doch die Tür glitt vor mir wieder zu und war verschlossen.
Und so blieben wir auf dem Platz davor stehen. Ich streckte die Hand nach Kuan aus, aber er stand zu weit weg. Ich konnte ihn nicht erreichen, vielleicht wollte er auch nicht erreicht werden.
Kurz darauf ging die Tür zur Notaufnahme wieder auf, und zwei Männer in weißen Kitteln kamen heraus, vielleicht waren es Ärzte, vielleicht auch Krankenpfleger.
Sie legten uns behutsam die Hände auf den Arm und baten uns mitzukommen.
Ich folgte ihnen und stellte ununterbrochen Fragen. Wo war Wei-Wen? Was fehlte ihm? War er verletzt? Durften wir ihn bald sehen? Aber sie hatten keine Antworten. Sie sagten nur, dass unser Sohn – Ihr Sohn, sagten sie, wahrscheinlich kannten sie nicht einmal seinen Namen – in guten Händen sei. Und dass es gut gehen werde. Dann setzten sie uns in diesem Raum ab und verschwanden.
Ich stand seit Stunden am Fenster, als die Tür endlich aufging und eine Ärztin hereinkam. Sie stellte sich als Dr. Hio vor und schloss die Tür hinter sich, ohne uns in die Augen zu sehen.
»Wo ist er? Wo ist Wei-Wen?«, fragte ich. Meine Stimme klang, als käme sie aus weiter Ferne.
»Meine Kollegen kümmern sich noch um Ihren Sohn«, sagte die Frau und trat in den Raum.
Sie hatte graue Haare, ihr Gesicht war jedoch glatt und ausdruckslos.
»Er heißt Wei-Wen«, sagte ich. »Darf ich zu ihm?«
Ich trat einen Schritt zur Tür. Sie musste mich zu ihm bringen, das musste doch möglich sein. Vielleicht nicht ganz bis zu ihm, sondern nur bis zu einer Glasscheibe, solange ich ihn nur sehen konnte.
» Kümmern sich – wie meinen Sie das?«, fragte Kuan.
Sie hob den Kopf und sah ihn an. Meinem Blick wich sie aus.
»Wir tun, was wir können.«
»Er wird doch überleben, oder?«
»Wir tun, was wir können«, wiederholte sie sanft.
Kuan biss sich in die Hand. Mich überkam ein plötzlicher Schüttelfrost.
»Wir müssen ihn sehen«, sagte ich, doch meine Worte waren so leise, dass sie fast untergingen.
Sie antwortete nicht, schüttelte nur leicht den Kopf.
Es konnte nicht stimmen. Das musste ein Irrtum sein. Alles, was passiert war, musste ein Irrtum sein. Es war gar nicht Wei-Wen, der dort lag. Er war in der Schule oder zu Hause. Es war ein anderes Kind. Ein Missverständnis.
»Sie müssen uns vertrauen«, sagte Dr. Hio leise und setzte sich. »Und in der Zwischenzeit müsste ich Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Kuan nickte und setzte sich ebenfalls.
Sie nahm Stift und Papier zur Hand, um sich Notizen zu machen.
»War Ihr Sohn früher schon einmal krank?«
»Nein«, antwortete Kuan brav und wandte sich dann an mich. »Oder? Kannst du dich an etwas erinnern?«
»Nein. Nur eine Ohrenentzündung«, sagte ich. »Und eine Grippe.«
Sie notierte sich etwas. »Also nichts Außergewöhnliches?«
»Nein.«
»Andere Atemwegserkrankungen? Asthma?«
»Nein, nichts«, antwortete ich barsch.
Dr. Hio wandte sich wieder an Kuan.
»Wo genau war er, als Sie ihn gefunden haben?«
Kuan beugte sich vor und krümmte sich, als wollte er sich vor ihren Fragen schützen.
»Zwischen den Bäumen, bei Feld 458 oder vielleicht auch 457. Direkt am Waldrand.«
»Und was hat er gemacht?«
»Er saß einfach nur da. Zusammengesunken. Blass und schwitzend.«
»Und Sie haben ihn gefunden?«
»Ja.«
»Er hatte Angst«, sagte ich. »Er hatte solche Angst.«
Sie nickte.
»Wir hatten vorher Pflaumen gegessen«, fuhr ich fort. »Wir hatten eingelegte Pflaumen dabei. Er durfte die ganze Dose leeressen.«
»Danke«, sagte sie und machte sich eine Notiz.
Dann wandte sie sich wieder an Kuan, als würde er alle Antworten kennen. »Glauben Sie, dass er aus dem Wald kam?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie zögerte. »Was haben Sie dort eigentlich gemacht?«
Kuan beugte sich wieder vor. Er sandte mir einen ausdruckslosen Blick zu, der nicht verriet, was er dachte.
Meine Kehle schnürte sich zu, ich bekam kaum noch Luft und konnte nicht antworten. Ich fixierte ihn, bat ihn mit flehendem Blick, die Wahrheit zu vertuschen. Er sollte sagen, dass es unsere gemeinsame Idee gewesen wäre, dorthin zu gehen, vielleicht sogar seine, obwohl es nur meine gewesen war.
Es war meine Idee und meine Schuld.
Kuan erwiderte meinen Blick nicht. Stattdessen wandte er sich wieder der Ärztin zu und holte Luft. »Wir haben einen Ausflug gemacht«, sagte er dann. »Wir wollten an unserem freien Tag etwas Schönes unternehmen.«
Vielleicht gab er mir keine Schuld, vielleicht war er nicht wütend. Ich sah ihn weiter an, aber er blickte nicht mehr in meine Richtung. Er gab mir nichts, aber er machte mir auch keine Vorwürfe.
Und womöglich war es so, womöglich war das die Wahrheit. Wir hatten zusammen beschlossen, hinauszugehen. Eine Entscheidung, die gemeinschaftlich und einstimmig getroffen worden war, ein Kompromiss, und nicht allein meine Idee.
Wahrscheinlich bemerkte Dr. Hio nicht, was zwischen uns vorging – sie sah nur vom einen zum anderen, mitfühlend und mehr als nur professionell. »Ich verspreche Ihnen, dass ich wieder zu Ihnen komme, sobald ich mehr weiß.«
Ich ging einen Schritt vor. »Aber was ist passiert? Was ist mit ihm?« Jetzt zitterte meine Stimme. »Irgendetwas müssen Sie doch wissen?«
Die Ärztin schüttelte nur langsam den Kopf.
»Versuchen Sie sich ein bisschen auszuruhen. Ich schaue mal, ob ich Ihnen etwas zu essen organisieren kann.«
Sie verschwand durch die Tür, und wieder blieben wir zurück.
An der Wand hing eine Uhr. Die Zeit verging ruckartig. Wenn ich hinüberblickte, waren mal zwanzig Minuten verstrichen, mal nur zwanzig Sekunden.
Kuan befand sich immer auf der anderen Seite des Zimmers. Wo ich auch stand, er war weit weg. Es lag ebenso sehr an mir wie an ihm. Was zwischen uns stand, war so groß, dass wir nicht daran vorbeikamen. Damit konfrontiert, wurden wir beide wie dünnes Eis, wie die erste zarte Schicht, die sich im Herbst auf den Pfützen bildete und die bei der kleinsten Belastung brach.
Ich trank einen Schluck Wasser. Es schmeckte abgestanden, altes Wasser aus einem Tank.
Inzwischen war es dunkel geworden, doch keiner von uns schaltete das Licht ein. Wozu brauchten wir Licht? Seit uns die Ärztin verlassen hatte, war eine Stunde vergangen.
Erneut spähte ich in den Flur, am Empfang saß niemand.
Ich ging weiter, stieß jedoch nur auf verschlossene Türen. Als ich mein Ohr an eine von ihnen legte, hörte ich nichts. Das laute Brummen der Lüftungsanlage übertönte alle anderen Geräusche.
Also wieder zurück. Einfach nur da sein. Warten.