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In Swindon war eine Sicherung durchgebrannt und hatte das gesamte Gleisnetz im Südwesten lahmgelegt. In Paddington blendeten die Anzeigetafeln Abfahrtszeiten aus und Verspätungsankündigungen ein. Liegen gebliebene Züge blockierten die Gleise, und in der Halle scharten sich gestrandete Reisende um Gepäckstücke, während erfahrene Pendler sich in die Pubs begaben oder mit wasserdichtem Alibi zu Hause anriefen und zu ihren Affären in der Stadt zurückkehrten. Sechsunddreißig Minuten von London entfernt kam ein Zug in Richtung Worchester auf einem trostlosen Streckenabschnitt mit Blick auf die Themse ganz langsam zum Stehen. Lichter von Hausbooten tanzten auf der Flussoberfläche und erhellten zwei Einer, die außer Sichtweite glitten, kaum dass Dickie Bow sie erblickt hatte: zwei schmale, auf hohe Geschwindigkeit hin gebaute Boote, die an einem kühlen Märzabend das Wasser durchschnitten.
Überall schimpften Reisende vor sich hin, schauten auf Uhren, tätigten Anrufe. Dickie Bow stieß eingedenk seiner Rolle ein empörtes tzztzz!
aus, doch trug er weder eine Uhr, noch hatte er Anrufe zu erledigen. Er wusste nicht einmal, wohin er unterwegs war, und er besaß auch keine Fahrkarte.
Die Zugsprechanlage rauschte.
»Hier spricht der Zugführer mit einer Durchsage an alle
Fahrgäste. Leider können wir aufgrund einer Gleisstörung unsere Reise nicht fortsetzen. Wir befinden uns zurzeit …«
Ein statisches Knistern, und die Stimme erstarb, obwohl man sie in den angrenzenden Waggons leise weitersprechen hörte. Dann kam sie wieder: »… zurück nach Reading, wo Schienenersatzbusse Sie …« Die Nachricht wurde mit einem einmütigen, angewiderten Stöhnen sowie nicht wenigen Flüchen kommentiert, doch zugleich, am eindrucksvollsten für Dickie Bow, sofort einsetzender Gehorsamkeit. Die Durchsage war noch nicht zu Ende, da wurden schon Mäntel angezogen und Laptops zusammengeklappt; Aktenkoffer schnappten zu, und Sitze leerten sich. Der Zug fuhr an, und dann strömte der Fluss in die falsche Richtung, und der Bahnhof von Reading tauchte wieder auf.
Es kam zu einem Chaos, als die Reisenden auf überfüllte Bahnsteige drängten und dann feststellten, dass sie nicht wussten, wohin. Auch Dickie Bow wusste das nicht, doch er konzentrierte sich nur auf den Agenten, der sofort in der Menschenmenge untergetaucht war. Dickie jedoch war zu erfahren, um in Panik zu geraten. Ihm war plötzlich alles wieder präsent, als hätte er den Schnüfflerzoo nie verlassen.
Nur, dass er sich damals irgendwo an eine Mauer gelehnt und eine Zigarette geraucht hätte, was hier nicht möglich war. Schon bei dem Gedanken daran spürte er einen Stich der Nikotinsucht und zugleich einen Stich in den Oberschenkel, schmerzhaft wie der einer Wespe, so real, dass er aufkeuchte. Er griff nach der Stelle, und seine Hand berührte erst die Ecke eines nichtsahnenden Aktenkoffers und dann einen eklig nass-glitschigen Regenschirm. Tödliche Waffen, dachte er. Berufspendler tragen tödliche Waffen bei sich.
Er wurde mit der Menge weitergeschoben, ob er wollte oder nicht, und plötzlich renkte sich alles ein, denn er hatte wieder Blickkontakt: Der Agent, einen schützenden Hut auf dem Glatzkopf, den Aktenkoffer unter den Arm geklemmt, stand neben dem Aufzug zum Bahnsteigübergang. Eingekesselt von müden Reisenden, schlurfte Dickie an ihm vorbei und die Rolltreppe hinauf. Oben wich er seitlich in eine Ecke aus. Der Hauptausgang des Bahnhofs befand sich jenseits des Übergangs. Er nahm an, dass alle diesen Weg nehmen würden, sobald Hinweise zu den Bussen durchgegeben wurden.
Er schloss die Augen. Heute war kein normaler Tag. Üblicherweise wären um diese Zeit, um kurz nach halb sieben, schon alle scharfen Kanten geglättet: Er wäre seit zwölf Uhr wach gewesen, nach fünf Stunden unruhigem Schlaf. Schwarzer Kaffee und eine Zigarette in seinem Zimmer. Eine Dusche, falls nötig. Dann ins Star,
wo ein Whisky und ein anschließendes Guinness ihn entweder kuriert hätten oder ihn spüren ließen, dass er feste Nahrung besser meiden sollte. Seine harten Trinkerzeiten waren vorbei. Damals hatte er seine unzuverlässigen Momente gehabt: Im betrunkenen Zustand hatte er Nonnen für Huren und Polizisten für Freunde gehalten; nüchtern hatte er Exfrauen direkt in die Augen geblickt, ohne den Funken eines Wiedererkennens auf seiner Seite und mit purer Erleichterung auf ihrer. Üble Zeiten.
Doch sogar in jener Phase wäre ihm niemals ein hochkarätiger Moskauer Agent in einer Menschenmenge entgangen.
Dickie bemerkte, dass sich etwas tat: Eine Durchsage
hatte über die Busse informiert, und alles drängte in Richtung Ausgang. Dickie hielt sich so lange in der Nähe des Monitors auf, bis der Agent vorbeikam, und ließ sich dann mittreiben, drei warme menschliche Körper zwischen ihnen. Er hätte sich nicht so dicht nähern sollen, aber die Choreographie von Menschenmengen war unberechenbar.
Und diese Menge war unzufrieden. Nachdem sie auf der anderen Seite durch die Ticketbarrieren gequetscht worden war, nervte sie die Bahnhofsangestellten, die beruhigten, diskutierten und zu den Ausgängen zeigten. Draußen war es nass und dunkel, und es standen keine Busse bereit. Die Menge ergoss sich über den Vorplatz. Mittendrin eingequetscht, hielt Dickie Bow den Blick auf den Agenten gerichtet, der in aller Ruhe wartete.
Eine Reiseunterbrechung, dachte Dickie. In dieser Branche musste man flexibel auf alle Eventualitäten reagieren – er hatte vergessen, dass er gar nicht mehr in der Branche war –, und der Agent hatte garantiert alle Möglichkeiten durchgespielt, bevor sie den Zug verlassen hatten. Er würde sich mit der Menge treiben lassen, kein Aufhebens machen und seinen Weg mit den Mitteln fortsetzen, die sich ergaben. Wohin er unterwegs sein mochte, konnte sich Dickie nicht vorstellen. Endstation des Zuges war Worcester gewesen, aber vorher kamen zahlreiche Haltestellen. Der Agent hätte sonst wo aussteigen können. Dickie wusste nur, dass er es ihm gleichtun würde.
Jetzt kamen Busse, drei Stück bogen um die Ecke. Hektische Aktivität erfasste die Menge, und sie drängte vorwärts. Der Agent pflügte durch die Masse wie ein Eisbrecher durch arktische Schollen, und Dickie schlüpfte durch
Zwischenräume in seinem Kielwasser. Irgendjemand rief Instruktionen, hatte aber gar nicht die Stimme dafür. Schon lange bevor er fertig war, wurde der Sprecher vom Nörgeln der Leute übertönt, die ihn nicht verstehen konnten.
Doch der Agent wusste, was zu tun war. Er strebte zum dritten Bus, und Dickie schlüpfte in seiner Heckwelle durch das Chaos und stieg ebenfalls ein. Niemand fragte nach einem Ticket. Dickie ging einfach durch und setzte sich ganz nach hinten, wo er einen guten Blick auf den Agenten zwei Sitzreihen vor ihm hatte. Er lehnte sich zurück und erlaubte es seinen Augen, sich zu schließen. Bei jeder Operation kam irgendwann ein Tiefpunkt. Und wenn es so weit war, schloss man die Augen und zog Bilanz. Er war meilenweit entfernt von zu Hause und hatte nur ungefähr sechzehn Pfund dabei. Er brauchte einen Drink und würde so bald keinen bekommen. Aber das Gute daran war, er war hier, er war in Aktion, und er hatte selbst nicht gewusst, wie sehr er das vermisst hatte: ein aufregendes Leben anstatt eines Durchwurstelns im Dämmerzustand.
In diesen Zustand hatte er sich gerade versetzt, als er den Agenten erspäht hatte. Mitten im Pub. Einem Zivilisten wäre der Unterkiefer runtergeklappt: Was sollte das denn? Ein Profi hingegen, auch wenn er aus der Übung war, sah auf die Uhr, trank sein Guinness aus, rollte die Post
zusammen und ging. Lungerte vor dem Buchladen zwei Häuser weiter herum und dachte daran, wo und wann er dieses Gesicht zum letzten Mal gesehen hatte und in wessen Gesellschaft. Der Typ war nur ein kleines Licht. Er hatte damals die Flasche gehalten und ihm ihren Inhalt in den gewaltsam aufgesperrten Mund geschüttet; eine Rolle ohne Text. Es war
nicht dieser Typ gewesen, der die Elektroschocks an Dickies Wirbelsäule entlang gejagt hatte … Zehn Minuten später kam er zum Vorschein, und Dickie folgte ihm: Er, der einem Wiesel durch den Wald folgen konnte, und erst recht einem Gespenst von damals durch die Stadt. Einer Gestalt aus seiner Vergangenheit. Einem Echo aus dem Schnüfflerzoo.
(Berlin, wenn man es unbedingt wissen wollte. Der Agentenzoo, das war Berlin gewesen, damals, als der Käfig gerade aufgesperrt worden war und verängstigte Gangster aus der Kanalisation gekrochen kamen wie Käfer unter einem umgedrehten Holzscheit hervor. Mindestens zweimal pro Tag stand ein schwitzender, angeblicher Agent vor der Tür und behauptete, die Kronjuwelen in einem Pappkoffer bei sich zu tragen: Informationen aus dem Verteidigungsministerium, Raketenbaupläne, Geheimnisse aus dem Giftschrank … Und doch, trotz der hektischen Aktivität, stand das Menetekel auf der frisch demolierten Mauer: Ihre Vergangenheit war hinweggeweht worden und Dickie Bows Zukunft ebenso. Danke, altes Haus. Tut uns leid, aber wir haben nicht mehr so großen Bedarf für deine, äh, Fähigkeiten … Pension? Welche Pension?
Daraufhin war er natürlich nach London zurückgekehrt.)
Der Fahrer rief irgendetwas, was Dickie nicht mitbekam. Die Tür schloss sich zischend, und die Hupe ertönte zweimal; ein Abschiedsgruß an die zurückbleibenden Busse. Dickie rieb sich den Oberschenkel, wo die Ecke der Aktentasche oder die Schirmspitze ihn getroffen hatte, und dachte über glückliche Zufälle nach und die merkwürdigen Orte, an die sie einen verschlugen. Etwa von einer Straße in Soho in die U-Bahn und am anderen Ende wieder raus, nach
Paddington rein in einen Zug und dann in diesen Bus. Er wusste immer noch nicht, ob das wirklich Glück oder eher Pech war.
Als das Licht ausging, wurde der Bus für einen Moment zum reisenden Schatten. Dann schalteten die Passagiere die Oberlichter ein; bläuliche Laptop-Bildschirme leuchteten auf, und Handys ließen die Finger, die sie umfassten, geisterhaft bleich erscheinen. Dickie zog mühsam sein eigenes Handy aus der Hosentasche, aber er hatte keine Nachrichten erhalten. Er bekam nie irgendwelche Nachrichten. Als er die Liste seiner Kontakte hinunterscrollte, stellte er erstaunt fest, wie kurz sie war. Zwei Reihen vor ihm hatte der Agent seine Zeitung fest zusammengerollt, zwischen die Knie geklemmt und seinen Hut darauf gehängt. Vielleicht schlief er.
Der Bus ließ Reading hinter sich. Draußen vor den Fenstern entfaltete sich eine dunkle Landschaft. In einiger Entfernung zeigte eine aufsteigende Sequenz roter Lichter den Schornstein von Didcot an, doch die Kühltürme waren unsichtbar.
Das Mobiltelefon in Dickies Hand war ein schwerer Klotz. Als er mit dem Daumen über die Tasten fuhr, bemerkte er den winzigen Vorsprung auf der Taste in der Mitte, die es ermöglichte, sich auch im Dunkeln zu orientieren. Doch niemand wartete auf eine Nachricht von Dickie. Er war ein Relikt. Die Welt hatte sich weitergedreht, und was sollte er überhaupt schreiben? Dass er jemanden aus der Vergangenheit wiedererkannt hatte und demjenigen bis nach Hause gefolgt war? Wen interessierte das? Ja, die Welt hatte sich weitergedreht. Und ihn zurückgelassen.
Heutzutage wurden Rausschmisse dezenter formuliert.
Dickie hatte entsprechende Hinweise aus der Soho-Gerüchteküche aufgefangen; heutzutage erhielten sogar diejenigen eine Chance, die zu nichts zu gebrauchen waren. Der Service wurde, wie alle anderen Behörden auch, von Regeln und Vorschriften gelähmt: Kassiere die Versager ein, und sie zerren dich vor Gericht wegen Diskriminierung der Nutzlosen. Die schob der Service daher in irgendein gottverlassenes Nebengebäude ab und warf sie mit Papierkram zu; eine administrative Belästigung, mit dem Ziel, sie in die Kündigung zu treiben. Sie nannten sie die lahmen Gäule. Die Versager. Die Loser. Sie nannten sie die Slow Horses,
und sie gehörten zu Jackson Lamb, den Dickie damals im Agentenzoo persönlich kennengelernt hatte.
Sein Handy gab einen kurzen Piepton von sich, aber es war keine Nachricht; nur das Signal, dass der Akku fast leer war.
Dickie wusste, wie sich das anfühlte. Auch er hatte nichts zu melden. Kurz wurde man auf ihn aufmerksam, dann konzentrierte man sich wieder auf jemand anderen. Laptops summten, und Handys flüsterten, aber Dickie hatte keine Stimme. Er konnte sich auch nicht bewegen, abgesehen von einem schwachen Krümmen seiner Finger. Der winzige Vorsprung auf der mittleren Taste kratzte an seinem Finger: kratz kratz.
Es galt, eine wichtige Nachricht zu übermitteln, aber Dickie wusste nicht, was es für eine war oder wem er sie senden sollte. Für ein paar lichte Momente war er sich bewusst, Teil einer warmen, schwitzenden Gemeinschaft zu sein, die dieselbe Luft atmete und dieselbe Melodie hörte. Doch die Melodie driftete außer Hörweite und verhallte.
Alles verblasste, außer die Szenerie vor dem Fenster. Die Landschaft entfaltete sich immer weiter, eine schwarze Verwerfung nach der anderen, gesprenkelt mit Lichtpunkten wie Pailletten auf einem Schal. Und dann verschwammen die Lichter, und die Dunkelheit überschlug sich ein letztes Mal, und dann war da nur noch der Bus, der seine sterbliche Fracht durch die Nacht in Richtung Oxford fuhr, wo er eine Seele weniger abliefern würde, als er eingesammelt hatte, dort hinten im Regen.