TEIL EINS
Schwarze Schwäne
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Nachdem die Straßenarbeiten endlich abgeschlossen sind, ist es ruhiger auf der Aldersgate Street im Londoner Stadtteil Finsbury. Man würde dort nicht gerade ein Picknick veranstalten wollen, aber die Straße gleicht auch nicht mehr einem Schlachtfeld mit Fahrzeugen. Der Pulsschlag der Gegend hat sich wieder normalisiert, und obwohl der Lärmpegel noch immer hoch ist, ist er doch weniger von Presslufthämmern geprägt und enthält Fetzen von Straßenmusik: Autos singen, Taxis pfeifen, und Anwohner starren erstaunt den fließenden Verkehr an. Früher war es klug, sich ein Sandwich einzupacken, wenn man mit dem Bus durch die Straße fuhr. Jetzt konnte es eine halbe Stunde dauern, bis man sie überquert hatte.
Vielleicht erobert sich mal wieder der Stadturwald sein Terrain zurück, und wie jeder Urwald beherbergt er bei näherem Hinsehen wilde Tiere. Eines Vormittags wurde ein Fuchs gesichtet, der vom White Lion Court ins Barbican Centre trabte, und oben zwischen den Blumenbeeten und Wasserspielen des Komplexes kann man sowohl Vögel als auch Ratten beobachten. Wo Pflanzen über die Wasseroberfläche hängen, verbergen sich Frösche. Nach Einbruch der Dunkelheit huschen Fledermäuse umher. Daher wäre es keine Überraschung, wenn vor unseren Augen eine Katze von einem der Barbican-Türme fiele und erstarrte, sobald sie auf dem Backsteinboden landete und sich in alle Richtungen gleichzeitig umblickte, ohne den Kopf zu bewegen, wie es Katzen eigen ist. Es ist eine Siamkatze. Hellbraun, kurzhaarig, schlitzäugig, schmal und leise; fähig, wie alle ihre Artgenossen durch kaum geöffnete Türen und vermeintlich geschlossene Fenster zu schlüpfen. Sie verweilt nur einen kurzen Augenblick – dann ist sie weg.
Sie schleicht unmerklich wie ein Gerücht, diese Katze; über die Fußgängerbrücke, dann die Treppe hinunter zum Bahnhof und hinaus auf die Straße. Eine nicht ganz so edle Katze wäre vielleicht stehen geblieben, bevor sie die Nebenstraße überquerte, aber nicht unsere; im Vertrauen auf ihre Instinkte, ihr Gehör und ihre Flinkheit, ist sie auf dem Bürgersteig gegenüber, bevor ein LKW -Fahrer fertig gebremst hat. Und dann verschwindet sie, so scheint es zumindest. Der Fahrer blickt sich verärgert um, aber er sieht nichts außer einer schwarzen Tür in einem schmutzigen Eingang zwischen einem Zeitungskiosk und einem chinesischen Restaurant. Die uralte schwarze Farbe ist mit Straßendreck bespritzt, und eine einsame, gelblich gewordene Milchflasche steht auf der Eingangsstufe. Und keine Spur von unserer Katze.
Die natürlich hintenrum geschlichen ist. Keiner betritt Slough House durch die Vordertür; seine Insassen gehen durch einen schmuddeligen Hof mit schimmeligen Mauern und durch eine Tür, die morgens zumeist einen energischen Tritt erfordert, wenn Feuchtigkeit, Kälte oder Hitze sie verzogen haben. Doch die Pfoten unserer Katze sind zu geschickt, um Gewalt zu benötigen, und wie der Blitz ist sie schon durch diese Tür und eine ausgetretene Treppe hinauf zu zwei Büros geschlüpft.
Hier im ersten Stock – denn das Erdgeschoss gehört zu anderen Häusern; zum Chinarestaurant New Empire und zum Kiosk, der periodisch den Namen wechselt – schuftet Roderick Ho in einem durch elektronisches Zubehör urwaldartig chaotischen Büro: Ausrangierte Tastaturen nisten in Ecken, und neonfarbene Kabel winden sich wie Darmschlingen aus Monitoren ohne hintere Abdeckung. Metallgraue Bücherregale enthalten Software-Handbücher, Kabel und Schuhkartons mit höchstwahrscheinlich seltsam geformten Metallteilen, während neben dem Schreibtisch ein Pappkartonturm aus den Legosteinen des Computernerds aufragt: leeren Pizzaschachteln. Ziemlich viel Krempel.
Doch wenn unsere Katze den Kopf zur Tür hineinsteckt, wird sie nur Ho finden. Das Büro gehört ihm allein, und Ho ist es lieber so, da er andere Leute in der Regel nicht mag; umgekehrt wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dass andere Leute vielleicht auch ihn nicht mögen. Und während Louisa Guy bekanntlich spekuliert, dass Hos Persönlichkeit irgendwo ziemlich weit oben auf der Autismus-Skala rangiert, erwidert Min Harper üblicherweise, dass er auch den Schwachkopf-Index anführt. Daher wäre es nicht überraschend gewesen, dass Ho, wenn er die Anwesenheit unserer Katze bemerkt hätte, eine Coladose nach ihr geworfen hätte und enttäuscht gewesen wäre, wenn er sie verfehlt hätte. Denn das ist noch etwas, was Roderick Ho sich niemals eingestehen würde, nämlich, dass er besser darin ist, unbewegliche Ziele zu treffen. Er wirft selten daneben, wenn er eine Dose in den Mülleimer auf der anderen Seite des Büros schmeißt, trifft jedoch oft den springenden Punkt nicht, selbst wenn der sehr viel nahe liegender ist.
Unverletzt zieht sich unsere Katze zurück, um das angrenzende Büro zu inspizieren. Hier entdeckt sie zwei bis dato unbekannte Gesichter, die erst kürzlich nach Slough House versetzt wurden: eines weiß, das andere schwarz, eines weiblich, eines männlich, so neu, dass sie bisher noch keinen Namen haben, und beide sind über ihren Besuch erstaunt. Ist die Katze Stammgast – eine Slough-House-Kollegin? Oder ist sie auch ein lahmer Gaul? Oder ist das ein Test? Sie wechseln beunruhigte Blicke, und während sie sich in ihrer vorübergehenden Verwirrung näherkommen, schlüpft unsere Katze hinaus und huscht die Treppe hinauf ins nächste Stockwerk und zu zwei weiteren Büros. Das erste ist das von Min Harper und Louisa Guy, und falls sie aufmerksam gewesen wären und die Katze entdeckt hätten, hätte es zu einer höchst peinlichen Situation für sie geführt. Louisa wäre in die Knie gegangen, hätte die Katze in die Arme genommen und sie an ihren beachtlichen Busen gedrückt – wobei Min findet, dass dieser Busen weder zu klein noch zu üppig, sondern genau richtig ist. Falls Min sich lange genug vom Anblick von Louisas Busen hätte losreißen können, hätte er die Katze mit festem männlichen Griff im Nackenfell gepackt und ihren Kopf so weit zurückgezogen, dass sie einen Blick hätten tauschen und sich von den Katzenqualitäten des anderen überzeugen können – nicht den pelzigen, weichen, sondern der nächtlichen Eleganz und dem Schleichen durch die Dunkelheit, der raubtierhaften Unterströmung, die unter den Tagesaktivitäten einer Katze schlummert.
Sowohl Min als auch Louisa hätten überlegt, ob sie Milch holen sollten, doch keiner von ihnen hätte es tatsächlich getan, da sie damit zugegeben hätten, dass Freundlichkeit und Milch besorgen zu ihren Fähigkeiten gehörte. Unsere Katze hätte ihnen verständlicherweise auf den Teppich gepinkelt, bevor sie ihr Büro verlassen hätte.
Und dann wäre sie in River Cartwrights Zimmer geschlüpft, und während unsere Katze die Schwelle so unauffällig überquert hätte wie all die anderen auch, wäre es nicht unauffällig genug gewesen. River Cartwright, ein hellhaariger, blasshäutiger junger Mann mit einem kleinen Muttermal auf der Oberlippe, hätte sofort seine momentane Tätigkeit unterbrochen – Papierkram oder Computerarbeit, irgendwas, was eher Nachdenken als Handeln erfordert und vielleicht für den Geruch von Frustration in der Luft verantwortlich ist – und dem Blick unserer Katze standgehalten, bis sie weggeschaut hätte, nervös geworden von derart ungenierter Musterung. Cartwright wäre es nicht eingefallen, ihr Milch zu geben; er wäre zu sehr darauf konzentriert gewesen, das Tun und Lassen der Katze auszuforschen und zu berechnen, durch wie viele Türen sie schlüpfen musste, um bis hierher zu gelangen. Er hätte sich gefragt, was sie nach Slough House gezogen hatte und welche Motive sich hinter ihren Augen verbargen. Noch während er darüber nachdachte, hätte sich unsere Katze zurückgezogen und die letzte Treppe erklommen, auf der Suche nach einer weniger strengen Taxierung.
Mit diesem Hintergedanken hätte sie das erste der letzten beiden Büros erreicht: ein gastfreundlicheres Refugium, denn hier arbeitet Catherine Standish, und Catherine Standish weiß, wie man mit einer Katze umzugehen hat. Catherine Standish ignoriert Katzen. Katzen sind entweder Anhängsel oder ein Ersatz, und Catherine Standish braucht weder das eine noch das andere. Vom Besitz einer Katze ist es nur ein kleiner Schritt zu dem zweier Katzen, und als alleinstehende, knapp fünfzigjährige Frau mit zwei Katzen neigt man dazu, das Leben als beendet zu erklären. Catherine Standish hat ihr Quantum gefährlicher Momente gehabt und bisher alle überlebt, da wird sie doch jetzt nicht klein beigeben. Daher kann es sich unsere Katze hier drin so gemütlich machen, wie sie will, doch egal, wie viel Zuneigung sie heuchelt, wie anschmiegsam sie ihren schlanken Körper um Catherines Waden schlängelt, es wird keine Leckerli für sie geben, keine mit Küchenpapier abgetupfte Sardine wird ihr zu Füßen gelegt, kein Becher Sahne für sie in eine Untertasse gegossen werden. Und da keine Katze, die etwas auf sich hält, einen Mangel an Verehrung tolerieren kann, verabschiedet sich unsere und schlendert nach nebenan …
… wo sie schließlich in Jackson Lambs Höhle gerät, wo die Decken schräg geneigt sind, zugezogene Jalousien die Fenster verdunkeln und das einzige Licht von einer Lampe stammt, die auf einem Stapel Telefonbücher steht. Der Mief wäre ein olfaktorischer Leckerbissen für jeden Hund: Fast Food, unerlaubte Zigaretten, tagealte Fürze und schales Bier, doch die Katze hätte keine Zeit, die Gerüche zu katalogisieren, denn Jackson Lamb kann sich für einen Mann mit seiner Wampe überraschend schnell bewegen, jedenfalls, wenn er Lust dazu hat, und auf eines kann man sich verlassen: Wenn eine verdammte Katze in sein Zimmer schleicht, dann hat er Lust. Blitzschnell hätte er unsere Katze an der Gurgel gepackt, die Jalousie hochgezogen, das Fenster geöffnet und die Katze raus auf die Straße geworfen, wo sie zweifellos auf den Füßen landen würde, wie sowohl die Wissenschaft als auch Gerüchte bestätigen, doch ebenso zweifellos im fließenden Verkehr, was, wie bereits bemerkt, ein neues Phänomen auf der Aldersgate Street ist. Ein dumpfer Schlag und langgezogenes Bremsenquietschen wären vielleicht bis nach oben gedrungen, wenn Lamb das Fenster nicht schon wieder zugemacht und sich in seinen Sessel gesetzt hätte, die Augen geschlossen, die Wurstfinger auf dem dicken Bauch verschränkt.
Zum Glück für die Katze existiert sie nicht, denn das wäre ein brutales Ende gewesen. Sie hat sogar doppelt Glück gehabt, denn zufällig ist an jenem Morgen das nahezu Undenkbare eingetreten und Jackson Lamb döst nicht an seinem Schreibtisch oder durchstreift die Teeküche vor seinem Büro nach Essbarem seiner Untergebenen, noch schleicht er mit diesem unheimlich leisen Gang, den er nach Belieben annehmen kann, die Treppen hoch und runter, noch stampft er auf den Fußboden, der zugleich River Cartwrights Zimmerdecke bildet, um sich ein Vergnügen daraus zu machen, die Zeit zu messen, die Cartwright bis zu ihm rauf braucht, und er ignoriert auch nicht Catherine Standish, während sie einen weiteren sinnlosen Bericht abgibt, den er vergessen hat zu autorisieren. Um es kurz zu machen, er ist nicht da.
Und niemand in Slough House hat die leiseste Ahnung, wo er steckt.
Jackson Lamb befand sich in Oxford, und er hatte eine brandneue Theorie, die er den Anzugträgern in Regent’s Park nur zu gerne auf den Tisch geknallt hätte. Lambs neue Theorie lautete, dass Regent’s Park angehende Agenten, statt sie zu kostspieligen Folterwiderstandskursen an geheimen Orten nahe der walisischen Grenze zu schicken, lieber zum Bahnhof Oxford beordern sollte, um dort das diensthabende Personal zu beobachten. Denn egal, was für eine Ausbildung diese Typen gehabt hatten, sie hatte jeden einzelnen von ihnen perfekt dazu befähigt, keinerlei Informationen preiszugeben.
»Sie arbeiten doch hier, oder?«
»Sir?«
»Hatten Sie am Dienstagabend Dienst?«
»Die Nummer der Hotline steht auf den Aushängen, Sir. Sollten Sie eine Beschwerde vorbringen wollen –«
»Es geht nicht um eine Beschwerde«, entgegnete Lamb. »Ich möchte nur wissen, ob Sie letzten Dienstagabend gearbeitet haben.«
»Und warum wollen Sie das wissen, Sir?«
Lamb war bisher dreimal gegen Mauern gerannt. Sein vierter Gegner war ein kleiner Mann mit glatt zurückgekämmtem Haar und einem grauen Schnurrbart, der hin und wieder aus eigenem Antrieb zuckte. Er sah aus wie ein Wiesel in Uniform. Lamb hätte ihn gerne an den Hinterläufen gepackt und mit ihm wie mit einer Peitsche geknallt, aber es war ein Polizist in Hörweite.
»Nehmen wir mal an, dass es wichtig ist.«
Natürlich hatte er eine Dienstmarke mit falschem Namen dabei. Aber man musste kein Angler sein, um zu wissen, dass man keine Steine in den See schmeißt, bevor man die Angel auswirft. Falls jemand die Nummer auf seiner Karte anrief, würden im Regent’s Park die Alarmglocken läuten. Und Lamb hatte keine Lust, dass die Anzugträger nachfragten, was er hier trieb, denn er wusste es selbst noch nicht mal so ganz genau. Und auf gar keinen Fall wollte er diese Information teilen.
»Sehr wichtig«, fügte er hinzu und deutete auf die Innenseite seines Jackettaufschlags. Eine Brieftasche lugte sichtbar aus seiner Innentasche heraus, und daraus wiederum ragte ebenfalls sichtbar ein Zwanzigpfundschein.
»Ah.«
»Ich nehme an, das bedeutet ›ja‹.«
»Sie müssen verstehen, dass wir vorsichtig sein müssen, Sir. Wenn Unbekannte uns an einem so wichtigen Verkehrsknotenpunkt Fragen stellen.«
Gut zu wissen, dachte Jackson Lamb, dass Terroristen, wenn sie zufällig an diesem Verkehrsknotenpunkt ausstiegen, auf eine undurchdringliche Verteidigungslinie stoßen würden. Es sei denn, sie wedelten mit einem Geldschein. »Letzten Dienstag«, sagte er, »hat es eine schwere Verkehrsstörung gegeben.«
Doch sein Mann schüttelte bereits den Kopf: »Das lag nicht an uns, Sir. Hier war alles in Ordnung.«
»Alles war in Ordnung, außer dass die Züge nicht fuhren.«
»Hier fuhren sie, Sir. Das Problem lag anderswo.«
»Natürlich.« Es war schon eine Weile her, seitdem Lamb eine derart lange Konversation geführt hatte, ohne zu fluchen. Die lahmen Gäule wären erstaunt gewesen, außer die neuen, die es für einen Test gehalten hätten. »Aber wo auch immer das Problem lag, jedenfalls wurden von Reading aus Reisende mit Bussen hierher transportiert. Weil die Züge nicht fuhren.«
Das Wiesel runzelte die Stirn, sah aber eine Chance, sich der Befragung zu entziehen, und nahm auf dem letzten Stück Fahrt auf. »Das ist richtig, Sir. Schienenersatzbusse.«
»Von wo kamen die?«
»In diesem besonderen Fall, Sir, würde ich annehmen, kamen sie aus Reading.«
Natürlich. Jackson Lamb seufzte und griff nach seinen Zigaretten.
»Hier ist Rauchen verboten, Sir.«
Lamb steckte sich die Zigarette hinters Ohr. »Wann fährt der nächste Zug nach Reading?«
»In fünf Minuten, Sir.« Lamb grunzte einen Dank und drehte sich zu den Sperren um.
»Sir?«
Er sah sich um.
Den Blick auf Lambs Jackettaufschläge gerichtet, machte das Wiesel ein Zeichen mit Daumen und Zeigefinger.
»Was?«
»Ich dachte, Sie wollten …«
»Ihnen ein Trinkgeld geben?«
»Ja.«
»Okay. Wissen Sie, was?« Lamb tippte sich mit einem Finger an die Nase. »Wenn Sie eine Beschwerde haben, finden Sie eine Hotlinenummer auf den Aushängen.« Damit marschierte er auf den Bahnsteig und wartete auf den Zug.
Im Haus an der Aldersgate Street musterten die beiden neuen Gäule einander. Sie waren vor einem Monat eingetroffen, im Abstand von vierzehn Tagen, beide vertrieben aus Regent’s Park, dem Herzen und moralischen Elfenbeinturm des Secret Service. Slough House, was nicht sein richtiger Name war – das Haus hatte keinen richtigen Namen –, war allgemein als Müllabladeplatz bekannt: Die Versetzung dorthin war meist vorübergehend, weil die Abgeschobenen normalerweise schon nach kurzer Zeit kündigten. Das war ja der Zweck ihrer Versetzung: ein Schild mit der Aufschrift »Ausgang« über ihren Köpfen aufleuchten zu lassen. Slow Horses, so wurden sie genannt, lahme Gäule. Die Slow Horses aus dem Slough House. Das war echt witzig.
Diese beiden – die jetzt Namen haben, nämlich Marcus Longridge und Shirley Dander – hatten sich in ihren vorherigen Inkarnationen bereits vom Sehen gekannt, doch in Regent’s Park waren Außen- und Innendienst zwei verschiedene Welten. Nun waren Marcus und Shirley, wie neue Mitarbeiter überall, einander gegenüber genauso misstrauisch wie gegenüber den etablierteren Kollegen. Dennoch: Die Gemeinschaft des Secret Service war relativ klein, und Skandalgeschichten verbreiteten sich schneller, als Rauch über einer Unfallstelle brauchte, um sich zu verziehen. Daher wusste Marcus Longridge (Mitte vierzig, dunkelhäutig, in Süd-London geboren, Eltern aus der Karibik), was Shirley Dander aus der Kommunikationsabteilung von Regent’s Park vertrieben hatte. Und Dander, die in den Zwanzigern und von leicht südländischem Aussehen war (schottische Urgroßmutter, Kriegsgefangenenlager in der Nähe, italienischer Internierter auf Freigang), hatte diverse Gerüchte über Longridges Therapiesitzungen nach einem Zusammenbruch gehört, aber keiner der beiden hatte den anderen bisher darauf angesprochen und auch sonst auf nichts weiter. Ihre Tage waren mit dem Kleinkram von zwei Leuten ausgefüllt gewesen, die sich ein Büro teilten sowie den Schwelbrand allmählich schwindender Hoffnung.
Es war Marcus, der den ersten Schritt tat, und dieser bestand aus einem einzigen Wort: »Also.«
Es war am späten Vormittag. Das Londoner Wetter hatte einen schizophrenen Schub: plötzlicher Sonnenschein, der die dreckigen Fensterscheiben erhellte, plötzliche Regengüsse, die nicht viel dazu beitrugen, diese zu reinigen.
»Also was?«
»Also, hier wären wir.«
Shirley Dander wartete darauf, dass ihr Computer wieder hochfuhr. Schon wieder. Sie arbeitete mit einer Gesichtserkennungssof‌tware, die Aufnahmen von Überwachungskameras beim Abzug von Bodentruppen mit Phantombildern mutmaßlicher Dschihadisten verglich; genau genommen, vermutlich existierender Dschihadisten; Dschihadisten mit Codenamen usw., die aber ebenso gut das Produkt von Gerüchten unfähiger Agenten sein konnten. Bei dem Programm handelte es sich um eine seit zwei Jahren veraltete Version, jedoch nicht so veraltet wie Danders PC , der sich den ihm erteilten Befehlen widersetzte und dies heute Vormittag bereits dreimal deutlich zum Ausdruck gebracht hatte.
Ohne aufzublicken, sagte sie: »Willst du mich etwa anmachen?«
»Würde ich nicht wagen.«
»Das wäre auch keine gute Idee.«
»Hab ich gehört.«
»Also dann.«
Für fast eine Minute war es das. Shirley fühlte ihre Uhr ticken und spürte durch die Schreibtischoberfläche, wie der Computer darum kämpfte, wieder zum Leben zu erwachen. Zwei Paar Füße gingen die Treppe runter. Harper und Guy. Sie fragte sich, wo sie hingingen.
»Also, da es keine Anmache ist, könnten wir vielleicht ganz normal miteinander reden?«
»Worüber?«
»Egal.«
Sie warf ihm einen durchdringenden Blick zu.
Marcus Longridge zuckte mit den Achseln. »Ob es dir gefällt oder nicht, wir hocken in einem Büro. Es könnte nicht schaden, wenn wir mehr sagen würden als ›mach die Tür zu‹.«
»Ich hab noch nie zu dir gesagt ›mach die Tür zu‹.«
»Oder sonst was.«
»Mir ist sie offen sowieso lieber. Dann fühlt man sich nicht ganz so wie in einer Gefängniszelle.«
»Aha, in Ordnung«, erwiderte Marcus. »Siehst du, schon unterhalten wir uns. Warst du lange im Knast?«
»Ich hab keine Lust, okay?«
Wieder zuckte er mit den Achseln. »Okay. Aber vor uns liegen noch etwas mehr als sechs Stunden Arbeitstag und ungefähr zwanzig Jahre Arbeitsleben. Die können wir schweigend verbringen, wenn es dir lieber ist, aber dann würde einer von uns durchdrehen und der andere plemplem werden.« Er wandte sich wieder seinem Monitor zu.
Unten fiel krachend die Hintertür ins Schloss. Shirleys Bildschirm erwachte bläulich schimmernd zum Leben, dachte kurz nach, überlegte es sich anders und stürzte wieder ab. Nachdem eine Unterhaltung in Gang gekommen war, brüllte das Schweigen so ohrenbetäubend wie ein Feueralarm. Ihre Armbanduhr pulsierte. Shirley konnte nicht anders, es musste raus.
»Das gilt aber nur für dich.«
»Was?«, fragte er.
»Die zwanzig Jahre Arbeitsleben.«
»Stimmt.«
»Bei mir sind’s eher vierzig.«
Marcus nickte. Man sah es ihm nicht an, aber innerlich triumphierte er.
Das war immerhin ganz klar ein Anfang.
In Reading war es Jackson Lamb gelungen, den Bahnhofsvorsteher ausfindig zu machen, dem gegenüber er eine penible, professorale Haltung annahm. Man kaufte ihm ohne weiteres ab, dass er ein Akademiker war: die Schultern übersät mit Schuppen, grüner Pullover mit V-Ausschnitt, fleckig von unkonzentriert in den Mund gestopftem Take-away-Fraß, abgewetzte Hemdmanschetten, die aus den Mantelärmeln ragten. Er war übergewichtig, wahrscheinlich vom Herumhocken in Bibliotheken, und sein schütteres, schmutzigblondes Haar trug er zurückgekämmt. Sein Dreitagebart sprach von Trägheit, nicht von Coolness. Man verglich ihn gern mit Timothy Spall, nur mit schlechteren Zähnen.
Der Bahnhofsvorsteher schickte ihn zu der Firma, die Schienenersatzbusse zur Verfügung stellte, und zehn Minuten später spielte Lamb erneut den peniblen Akademiker, diesmal mit einem Unterton der Trauer. »Mein Bruder«, sagte er.
»Oh. Oh. Das tut mir aber leid.«
Lamb winkte nachsichtig ab.
»Nein, wie schrecklich! Es tut mir wirklich leid.«
»Wir hatten seit Jahren nicht miteinander geredet.«
»Aber das macht es doch noch schlimmer, oder?«
Lamb, der keine Meinung dazu hatte, nickte zustimmend. »Das stimmt. Das stimmt.« Seine Augen trübten sich, als er sich eine imaginäre Kindheitsepisode vorstellte, in der zwei Brüder einen Moment absoluter geschwisterlicher Loyalität genossen, ohne zu ahnen, dass die Jahre einen Keil zwischen sie treiben und sie im mittleren Alter nicht mehr miteinander reden würden, was für einen von ihnen erst in einem Bus im dunklen Oxfordshire enden würde, wo er zu Tode kommen würde durch …
»Herzinfarkt, oder?«
Statt zu antworten, nickte Lamb nur.
Der Depotverwalter schüttelte traurig den Kopf. Eine üble Sache. Und nicht gerade gute Publicity, dass ein Fahrgast in einem ihrer Busse gestorben war; doch andererseits war die Firma ja nicht dafür verantwortlich. Abgesehen davon, hatte die Leiche nicht mal einen gültigen Fahrausweis besessen.
»Ich habe mich gefragt …«
»Ja?«
»Welcher Bus es war. Ist er jetzt hier?«
Vier Busse standen auf dem Hof, zwei weitere in der Halle, und zufällig wusste der Verwalter genau, welcher unbeabsichtigt als Leichenwagen gedient hatte, und dieser stand keine zehn Meter entfernt.
»Ich würde mich nur mal gerne einen Moment reinsetzen«, sagte Lamb. »Auf den Platz, auf dem er gesessen hat. Sie wissen schon.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob …«
»Ich glaube zwar nicht direkt an eine Lebensenergie«, erklärte Lamb mit zittriger Stimme, »aber andererseits, wer weiß? Wissen Sie, was ich meine?«
»Natürlich. Natürlich.«
»Wenn ich mich nur ganz kurz dorthin setzen könnte, wo er saß, als er … dahingeschieden ist, dann …«
Unfähig weiterzureden, wandte er den Blick der Backsteinmauer zu, die den Hof umgab und hinter dem gegenüberliegenden Bürogebäude weiterging. Ein Kanadagänsepaar flog in Richtung Fluss, und seine klagenden Rufe unterstrichen Lambs Trauer.
So schien es jedenfalls dem Depotverwalter.
»Der da«, sagte er. »Es ist der da drüben.«
Lamb gab es auf, den Himmel abzusuchen, und blickte ihn mit großer und unschuldiger Dankbarkeit an.
Shirley Dander klopfte vergeblich mit einem Stift gegen ihren widerspenstigen Monitor und bewarf ihn dann hin. Als er klappernd auf den Schreibtisch fiel, schnalzte sie mit der Zunge.
»Was ist?«
»Du hast gesagt, du würdest es nicht wagen. Was sollte das bedeuten?«, wollte sie wissen.
»Wie bitte?«
»Als ich dich gefragt habe, ob du mich anbaggerst. Da hast du gesagt, du würdest es nicht wagen.«
Marcus Longridge antwortete: »Ich hab von dem Vorfall gehört.«
Kann ich mir denken, dachte sie. Jeder hat davon gehört.
Shirley Dander war einen Meter achtundfünfzig, hatte braune Augen, olivfarbene Haut und volle Lippen, mit denen sie nicht oft lächelte. Sie hatte breite Schultern und breite Hüften und bevorzugte schwarze Kleidung: schwarze Jeans, schwarze Tops, schwarze Turnschuhe. Sie hatte gehört, dass mal jemand über sie gesagt hatte, sie wäre so erotisch wie ein Absperrpoller, doch der Kommentar stammte von einem Typen, der selbst garantiert keine Granate im Bett war. An dem Tag, an dem sie nach Slough House versetzt worden war, hatte sie sich einen militärischen Kurzhaarschnitt verpassen lassen, den sie seitdem jede Woche nachrasieren ließ.
Dass sie durchaus Leidenschaft wecken konnte, war unzweifelhaft. Genauer gesagt, hatte in Regent’s Park ein Kommunikationsmitarbeiter aus der vierten Riege sie hartnäckig gestalkt und sich dabei nicht mal darum gekümmert, dass sie in einer Beziehung war. Er hatte Briefe auf ihrem Schreibtisch hinterlassen und zu jeder Tages- und Nachtzeit in der Wohnung ihres Freundes angerufen, wobei er aufgrund seines Berufes natürlich dafür sorgte, dass man die Anrufe nicht zurückverfolgen konnte. Natürlich hatte sie aufgrund ihres Berufes kein Problem, es trotzdem zu tun.
Selbstverständlich gab es Regeln für das Verhalten am Arbeitsplatz, ein Beschwerdeverfahren wegen »unangemessenen Verhaltens« und einen Beispielkatalog für »respektlosen Umgang«. Doch die Vorschriften zeigten wenig Wirkung bei Mitarbeitern, die im Laufe ihrer Probezeit mindestens acht Wochen Überfalltraining absolviert hatten. Nach einer Nacht, in der er sie sechsmal angerufen hatte, kam er in der Kantine auf sie zu und fragte, wie sie geschlafen habe – und daraufhin hatte ihn Shirley mit einer sauberen Geraden zu Boden geschickt.
Damit wäre sie möglicherweise glimpflich davongekommen, wenn sie ihn nicht wieder hochgezogen und ihm einen zweiten Hieb verpasst hätte.
Sie habe Probleme, lautete das Urteil der Personalabteilung. Es war sonnenklar, dass Shirley Dander Probleme haben musste.
Marcus riss sie aus ihren Gedanken: »Alle haben davon gehört. Jemand hat mir erzählt, dass er durch die Luft geflogen sei.«
»Nur beim ersten Mal.«
»Du hast Glück gehabt, dass du nicht rausgeschmissen worden bist.«
»Ach, wirklich?«
»Touché. Aber eine Schlägerei auf der Arbeit? Man hat schon Männer für geringere Vergehen entlassen.«
»Männer vielleicht«, erwiderte sie. »Ein Mädchen zu entlassen, nachdem es einen Widerling umgehauen hat, der sie belästigt hat, ist peinlich. Besonders wenn das fragliche ›Mädchen‹ sich einen Anwalt nehmen wollte.« Die Anführungszeichen um »Mädchen« hätten nicht deutlicher hörbar sein können, wenn sie »Anführungszeichen, Abführungszeichen« gesagt hätte. »Außerdem war ich im Vorteil.«
»Inwiefern?«
Sie stieß sich mit beiden Füßen vom Schreibtisch weg, so dass die Beine ihres Stuhls über den Boden schabten. »Was willst du von mir?«
»Nichts.«
»Du bist aber ziemlich neugierig für jemanden, der sich nur unterhalten will.«
»Na ja«, erwiderte er, »was wäre das denn für eine Unterhaltung, wenn man keine neugierigen Fragen stellen dürfte?«
Sie musterte ihn. Er sah nicht schlecht aus für sein Alter. Zwar hing sein linkes Augenlid ein wenig, aber das verlieh ihm etwas Skeptisches, als würde er ständig seine Umgebung prüfen. Sein Haar war länger als ihres, aber nicht viel; er trug einen sorgfältig gestutzten Bart und einen Schnauzer und kleidete sich mit Sorgfalt. Heute trug er gebügelte Jeans und ein weißes kragenloses Hemd unter einem grauen Jackett; sein schwarzlila Nicole-Farhi-Schal hing an der Garderobe. Das alles fiel ihr nicht etwa auf, weil es sie interessierte, sondern weil alles Information war. Er trug keinen Ehering, aber das musste nicht viel bedeuten. Außerdem war praktisch jeder geschieden oder unglücklich.
»Okay«, sagte sie. »Aber wenn du mit mir spielst, riskierst du, am eigenen Leib festzustellen, wie hart ich zuschlagen kann.«
Er hob die Hände in nicht ganz gespielter Abwehr. »Hey, ich will doch nur ein gutes Arbeitsverhältnis mit dir. Du weißt schon, wo wir doch die Neuen sind.«
»Wobei die anderen ja nicht gerade eine einheitliche Front bilden. Außer vielleicht Harper und Guy.«
»Müssen sie auch nicht«, entgegnete Marcus. »Sie haben hier festes Wohnrecht.« Er gab mit flinken Fingern etwas auf der Tastatur ein, dann schob er sie beiseite und drehte ihr seinen Stuhl zu. »Wie findest du sie?«
»Ganz allgemein, meinst du?«
»Oder jeden einzeln. Mich interessiert deine persönliche Meinung.«
»Mit wem fangen wir an?«
»Mit Lamb«, sagte Marcus Longridge.
Jackson Lamb saß ganz hinten in einem Bus, auf dem Platz, wo ein Mann gestorben war, und blickte hinaus auf einen rissigen Betonvorplatz und ein Holzflügeltor, hinter dem das Stadtzentrum von Reading lag. Als alteingesessenem Londoner überlief Lamb ein Schauder, wenn er bloß daran dachte.
Im Augenblick war er jedoch darauf konzentriert, das zu tun, was er behauptet hatte, tun zu wollen, nämlich in stillem Gedenken an den Mann dort zu sitzen, der angeblich sein Bruder, in Wirklichkeit aber Dickie Bow gewesen war: zu bescheuert für einen Decknamen, zu putzig, um wahr zu sein. Dickie und Lamb waren zur gleichen Zeit in Berlin gewesen, aber nach all den Jahren konnte sich Lamb nur noch verschwommen an dessen Aussehen erinnern. Sein Gesicht war irgendwie schmal und spitz gewesen wie das einer Ratte, aber genau das war Dickie Bow ja auch gewesen: eine Straßenratte, in der Lage, durch Löcher zu kriechen, die eigentlich zu klein für ihn waren. Darin hatte seine besondere Überlebensfähigkeit bestanden. In letzter Zeit schien sie ihm jedoch nichts genützt zu haben.
(Herzinfarkt, hatte der Gerichtsmediziner festgestellt. Nicht weiter überraschend für einen Mann, der so viel getrunken, so viel geraucht und so fett gegessen hatte wie Dickie Bow. Eine unangenehme Nachricht für Lamb; es war, als hätte der Mediziner Lambs Lebenswandel beschrieben.)
Er streckte den Arm aus und fuhr mit einem Finger über die Rückseite des Vordersitzes. Der Bezug war glatt bis auf einen offenbar alten Brandfleck und einen oberflächlichen Kratzer in einer Ecke, der jedoch eher auf eine zufällige Beschädigung als auf den Versuch eines Sterbenden hindeutete, eine Nachricht zu hinterlassen … Es war Jahre her, seitdem Bow für den Service gearbeitet hatte, und schon damals war er einer von denen, die nie so richtig dazugehört hatten. Es hieß, bei einer Straßenratte könne man immer davon ausgehen, dass sie jedes Mal, wenn sie Geld von der anderen Seite genommen hatte, am nächsten Morgen vor der Tür stand und erwartete, dass man den Gegner überbot.
Es gab keinen Bruderschaftskodex. Wäre Dickie Bow einem Matratzenbrand zum Opfer gefallen, hätte Lamb, ohne mit der Wimper zu zucken, die fünf Phasen der Trauer durchlaufen: das Leugnen, den Zorn, das Verhandeln, die Gleichgültigkeit, das Frühstück. Doch Bow war auf dem Rücksitz eines fahrenden Busses gestorben, ohne Fahrkarte in der Tasche. Mal abgesehen von Whisky, Kippen und Pommes: Warum Bow sich zu einer Zeit am Arsch der Welt rumgetrieben hatte, als er eigentlich in einem Pornoladen in Soho hätte arbeiten sollen, dafür hatte der Gerichtsmediziner keine Erklärung.
Lamb stand auf und fuhr mit einer Hand über die Gepäckablage, fand aber nichts. Und selbst wenn, wäre es nichts gewesen, was Dickie Bow hinterlassen hatte, nicht nach sechs Tagen. Lamb setzte sich wieder und untersuchte die Gummidichtung unten am Fenster auf der Suche nach Kratzspuren – vielleicht lächerlich, aber Moskauer Regeln bedeuteten, davon ausgehen zu müssen, dass die Post gelesen wurde. Wenn man eine Nachricht hinterlassen musste, tat man das mit anderen Mitteln. In diesem Fall war es jedoch keine Daumennagelmarkierung auf einer Gummidichtung.
Ein dezentes, höfliches Hüsteln ertönte vorne im Bus.
»Ich, äh …«
Lamb blickte kummervoll auf.
»Ich will Sie ja nicht drängen. Aber brauchen Sie noch lange?«
»Nur noch eine Minute«, bat Lamb.
Tatsächlich brauchte er nicht einmal diese. Noch während er sprach, fuhr er mit einer Hand hinten am Sitz in den engen Spalt zwischen den Polstern und traf auf ein uraltes, zu einem Tumor auf dem Stoff verhärtetes Kaugummi, einen Haufen Kekskrümel, eine Büroklammer, eine Münze, zu klein zum Mitnehmen, und den Rand von etwas Hartem, das außerhalb seiner Reichweite klemmte und ihn zwang, noch tiefer zu graben, so dass sich die Manschette seines Mantels weit hochschob. Da, er fühlte es wieder, eine glatte Plastikhülle, die sich in seine Hand schmiegte. Lamb zerkratzte sich das Handgelenk bis aufs Blut, als er seinen Schatz herauszog, merkte es aber nicht einmal. Er konzentrierte sich voll auf seine Trophäe: ein altes, klobiges Billighandy.
»Einverstanden. Lamb. Lamb ist das, wonach er aussieht.«
»Und das wäre?«
»Ein fettes Arschloch.«
»Das aber schon ewig dabei ist.«
»Ein langlebiges fettes Arschloch. Das sind die Schlimmsten. Sitzt da oben und scheißt auf uns alle runter. Es ist fast, als würde es ihm Freude machen, eine Abteilung mit lauter …«
»… Losern zu leiten.«
»Willst du mich etwa als Loserin bezeichnen?«
»Wir sind beide hier, oder etwa nicht?«
Die Arbeit war vergessen. Marcus Longridge, der Shirley Dander gerade als Verliererin bezeichnet hatte, grinste sie breit an. Sie hielt inne und fragte sich, worauf sie sich da einließ. Vertraue keinem, hatte sie beschlossen, als sie zum ersten Mal den Fuß in dieses Haus gesetzt hatte. Der Militärhaarschnitt war mit ein Beleg für diese Einstellung. Vertraue niemandem. Doch jetzt stand sie kurz davor, offen mit Marcus zu reden – und nur, weil sie mit ihm das Büro teilte? Und warum grinste der so blöd? Wollte er sich bei ihr einschleimen? Tief durchatmen, sagte sie sich, innerlich zumindest. Lass dir nichts anmerken.
Das war das Entscheidende beim Nachrichtendienst: Finde alles raus, was du kannst, gib aber nichts preis.
Sie sagte: »Darüber ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Aber was hältst du denn von ihm?«
»Na ja, er leitet seine eigene Abteilung.«
»Schöne Abteilung. Mehr ein Sozialkaufhaus.« Sie versetzte ihrem PC einen Schlag mit der flachen Hand. »Der hier zum Beispiel gehört ins Museum. Mit so einem Scheiß sollen wir Terroristen jagen? Wir hätten bessere Chancen, wenn wir uns mit einem Klemmbrett auf die Oxford Street stellen würden. Entschuldigen Sie, Sir, sind Sie ein Terrorist?«
»Sir oder Miss«, verbesserte sie Marcus. Dann sagte er: »Wir sollen überhaupt niemanden jagen, wir sollen uns zu Tode langweilen, kündigen und bei einer Security-Firma anheuern. Wir alle sind aus irgendeinem Grund zur Strafe hier, alle außer Lamb. So sieht es jedenfalls aus. Ihm scheint’s hier jedenfalls gut zu gefallen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Er weiß, wer welche Leichen wo im Keller vergraben hat. Vielleicht hat er selbst ein paar.«
»Ist das eine Metapher?«
»In Englisch hatte ich eine Sechs. Metaphern sind für mich ein Buch mit sieben Siegeln.«
»Du hältst ihn also für gerissen?«
»Tja, er ist übergewichtig, trinkt und raucht und bewegt sich meiner Meinung nach nur, um nach dem Telefon zu greifen und was beim Inder zu bestellen. Aber jetzt, wo du’s erwähnst: Ja, ich glaube tatsächlich, dass er gerissen ist.«
»Das war er vielleicht mal«, erwiderte Shirley. »Aber es hilft nicht viel, gerissen zu sein, wenn man zu langsam ist, um einen Nutzen daraus zu ziehen.«
Aber Marcus war nicht ihrer Meinung. Gerissenheit war eine Geisteshaltung. Lamb konnte einen fertigmachen, allein schon indem er vor einem stand, und man hielt ihn so lange nicht für bedrohlich, bis er wegging und man sich fragte, wer das Licht ausgeschaltet hatte. Das war natürlich nur Marcus’ persönliche Meinung. Und es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er sich irrte.
»Ich nehme an«, sagte er, »wenn wir lange genug bleiben, finden wir es vermutlich irgendwann raus.«
Als er aus dem Bus ausstieg, rieb sich Lamb mit einem Finger das Auge, wodurch er traurig wirkte oder zumindest so, als wäre sein Auge entzündet. Der Depotmanager schien sich unbehaglich zu fühlen, peinlich berührt von der Trauer eines Fremden, oder er hatte bemerkt, dass Lamb den Arm hinten in den Sitz gesteckt hatte, und wusste nicht, wie er ihn darauf ansprechen sollte.
Um jeden Versuch im Keim zu ersticken, fragte Lamb: »Ist der Fahrer hier irgendwo?«
»Was, der gefahren ist, als …?«
Als mein Bruder abgekratzt ist, genau, dachte Lamb, nickte aber nur und wischte sich noch einmal über das Auge.
Der Fahrer hatte keine große Lust, mit Lamb über seinen unkooperativen Fahrgast zu sprechen. Die einzigen guten Reisenden waren nach seiner wie der Ansicht aller Busfahrer diejenigen, die den Bus aus eigener Kraft wieder verließen. Doch nachdem der Depotmanager seine letzte Entschuldigung geäußert hatte und zurück in sein Büro geschlurft war und Lamb zum zweiten Mal an diesem Vormittag mit zwanzig Pfund in bar gelockt hatte, wurde der Fahrer gesprächig.
»Was soll ich sagen? Mein Beileid zu Ihrem Verlust.«
Wobei er zugleich ziemlich zufrieden über den eigenen potentiellen Gewinn wirkte.
»Hat er mit irgendjemandem geredet, ist Ihnen da irgendetwas aufgefallen?«, fragte Lamb.
»Wir müssen uns auf den Straßenverkehr konzentrieren, die meiste Zeit jedenfalls.«
»Bevor Sie losgefahren sind.«
»Was soll ich sagen?«, wiederholte der Fahrer. »Es war ein einziges Chaos. Ein paar tausend gestrandete Fahrgäste, und wir kamen als Erste zum Einsatz. Mir ist also nichts aufgefallen, tut mir leid. Er war nur einer von vielen, bis …« Als er merkte, dass er damit in eine Sackgasse geriet, endete er wieder mit »Sie wissen schon«.
»Bis Sie mit einer Leiche auf dem hintersten Sitz in Oxford eintrafen«, ergänzte Lamb hilfsbereit.
»Er muss friedlich eingeschlafen sein«, meinte der Fahrer. »Ich habe mich ziemlich strikt an die Geschwindigkeitsbegrenzung gehalten.«
Lamb warf einen Blick zurück auf den Bus. Das Logo der Firma war rotblau, die untere Hälfte mit Dreck bespritzt. Ein ganz normaler Bus, in den Dickie Bow eingestiegen und aus dem er nie wieder ausgestiegen war.
»War irgendetwas sonst an der Fahrt ungewöhnlich?«, fragte Lamb.
Der Fahrer starrte ihn verständnislos an.
»Abgesehen von der Leiche.«
»Nein, tut mir leid. Alles ganz normal. Einladen am Bahnhof, ausladen in Oxford. War ja nicht das erste Mal.«
»Und was ist passiert, als Sie angekommen sind? In Oxford?«
»Die meisten Leute sind ausgestiegen, so schnell sie konnten. Ein Zug wartete, der sie den Rest der Strecke bringen sollte. Bis dahin hatten sie schon ungefähr eine Stunde Verspätung. Und es hat geschüttet wie aus Eimern. Es hat also keiner rumgebummelt.«
»Aber irgendjemand hat die Leiche gefunden.«
Der Fahrer warf ihm einen seltsamen Blick zu, und Lamb begriff, warum. »Richard«, sagte er. Sie waren schließlich Brüder gewesen, nicht wahr? »Dickie. Irgendjemand muss bemerkt haben, dass er tot war.«
»Ja, hinten im Bus haben sich die Leute gedrängt, aber er war schon tot. Einer von ihnen, ein Arzt, ist dageblieben, die anderen sind zum Zug gerannt.« Er hielt inne. »Er sah ganz friedlich aus, irgendwie. Ihr Bruder.«
»Er hätte sich gewünscht, so zu sterben«, versicherte ihm Lamb. »Er mochte Busse. Und dann, haben Sie einen Krankenwagen gerufen?«
»Ja, obwohl ihm ja nicht mehr zu helfen war. Ich musste dann den ganzen Abend dableiben. Tut mir leid, war nicht so gemeint. Ich musste eine Aussage machen, aber das wissen Sie bestimmt, oder? Als sein Bruder.«
»Stimmt«, sagte Lamb. »Als sein Bruder. Ist sonst noch etwas vorgefallen?«
»Nein, sonst ist alles normal gelaufen. Nachdem man ihn, Sie wissen schon, abgeholt hatte und ich den Bus saubergemacht hatte und alles, bin ich hierher zurückgekommen.«
»Den Bus saubergemacht?«
»Nicht geputzt oder so. Ich habe nur nachgeschaut, ob irgendjemand etwas vergessen hat, verstehen Sie? Ein Portemonnaie oder so.«
»Und, haben Sie etwas gefunden?«
»Nicht an diesem Abend. Oder doch, aber nur einen Hut.«
»Einen Hut?«
»Ja, auf der Gepäckablage. Ganz in der Nähe, wo Ihr Bruder gesessen hat.«
»Was für einen Hut?«
»Einen schwarzen.«
»Einen schwarzen was? Eine Melone? Einen Fedora? Was für einen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Einen Hut eben. Mit Krempe, Sie wissen schon.«
»Wo ist der Hut jetzt?«
»Im Fundbüro, falls er nicht abgeholt wurde. Es war nur ein Hut. Die Leute vergessen andauernd ihre Hüte im Bus.«
Nicht, wenn es in Strömen gießt, dachte Lamb.
Nach kurzer Überlegung wurde ihm jedoch klar, dass das nicht stimmte. Wenn es regnete, trugen mehr Leute Hüte, also vergaßen auch mehr von ihnen sie im Bus. War ja logisch. Rein statistisch gesehen.
Obwohl Statistiken, sinnierte Lamb, meistens für’n Arsch waren.
»Wo ist denn bei Ihnen das Fundbüro?« Er deutete vage in Richtung der Depotverwaltung. »Da drüben?«
»Nein, das ist in Oxford.«
Wo auch sonst, dachte Lamb genervt.
»Und was ist mit Ho?«
»Ho ist ein Idiot.«
»Erzähl mir was Neues. Alle Computernerds sind Idioten.«
»Hos Idiotie geht darüber hinaus. Weißt du, was er als Erstes zu mir gesagt hat?«
»Nein, was denn?«
»Als Allererstes, okay? Da hatte ich mir noch nicht mal den Mantel ausgezogen«, sagte Marcus. »Am ersten Morgen, als ich mich so fühlte, als wäre ich auf die einsame Insel für Agenten verbannt worden, und mich fragte, wie es jetzt weitergehen soll, da nimmt Ho seinen Kaffeebecher, zeigt ihn mir – es ist ein Foto von Clint Eastwood drauf – und sagt: ›Das ist mein Becher, verstanden? Und ich kann’s nicht leiden, wenn jemand anderer meinen Becher benutzt.‹«
»Okay, das ist echt übel«, bemerkte Shirley.
»Das ist schon jenseits der analen Phase. Ich wette, dass seine Socken mit ›links‹ und ›rechts‹ markiert sind.«
»Was ist mit Guy?«
»Die geht mit Harper ins Bett.«
»Und Harper?«
»Der geht mit Guy ins Bett.«
»Kann sein, dass du recht hast, aber findet du das als Beschreibung ausreichend?«
Marcus zuckte mit den Schultern. »Sie gehen noch nicht lange miteinander ins Bett, also ist das momentan das Entscheidende.«
Shirley sagte: »Ich glaube, das waren die beiden, die eben rausgegangen sind. Wo sie wohl hinwollen?«
»Wir sind also immer noch Persona non grata im Park.«
Min Harpers Bemerkung war insofern ziemlich schräg, als sie gerade in einem Park waren, aber Louisa Guy wusste, was er meinte.
»Schon, aber weißt du, was?«, fragte sie. »Ich bin mir nicht ganz sicher, dass das der Grund ist, warum wir hier sind.«
»Hier« war in dem Fall der St.James’s Park und eben nicht Regent’s Park, der Sitz des Secret Service. Auf dem Weg zum Ausgang in Richtung Buckingham Palace kam ihnen eine Frau in einem pinkfarbenen Veloursjogginganzug entgegengetänzelt, begleitet von einem flauschigen Schoßhündchen mit passender rosa Schleife um den Hals. Sie ließen sie vorbei, bevor sie weitersprachen.
»Kannst du mir das näher erklären?«
Louisa tat es. Es musste irgendetwas mit Leonard Bradley zu tun haben, der bis vor kurzem Vorsitzender des Haushaltsausschusses gewesen war, des finanziellen Kontrollorgans des Secret Service. Jede Operation, die Ingrid Tearney, die Leiterin des Service, plante, musste vom Haushaltsausschuss genehmigt werden, wenn sie Budgetprobleme vermeiden wollte – der moderne Euphemismus für eine Pleite. Nur, dass Bradley – Sir Leonard, falls ihm der Titel noch nicht aberkannt worden war – kürzlich mit den Fingern in der Kasse erwischt worden war: Ein »Safe House« in Shropshire, voll ausgestattet für den Kuraufenthalt erholungsbedürftiger Offiziere, hatte sich als Strandbungalow auf den Malediven entpuppt, wobei man der Gerechtigkeit halber erwähnen sollte, dass dieser durchaus voll ausgestattet war. Und das Resultat von Bradleys Kavaliersdelikt –
»Woher weißt du das alles?«, unterbrach Harper sie. »Ich dachte, Bradley wäre ganz normal pensioniert worden.«
»Wie süß. Man muss in unserer Branche eben ständig die Ohren offenhalten.«
»Lass mich raten: Catherine.«
Louisa nickte.
»Kleiner Plausch unter Mädels? Schwätzchen auf dem Klo?«
Min Harpers scherzhafte Bemerkung hatte einen verletzten Unterton. Er fühlte sich ausgeschlossen.
»Sollte Catherine vielleicht eine Pressekonferenz einberufen? Als ich ihr erzählt habe, dass wir abbeordert werden sollen, hat sie mich eben aufgeklärt. Sie hat gemeint, es ginge um das Audit.«
»Woher weiß sie das?«
Louisa sagte: »Sie hat Beziehungen. Zu einer der Königinnen.«
Die Königinnen der Datenbank: An sie musste man sich wenden, wenn man Informationen brauchte, was sie zu nützlichen Freundinnen und zu noch nützlicheren Komplizinnen machte.
»Und worin besteht dieses Audit?«
– und das Resultat von Bradleys Kavaliersdelikt war, dass man ein sogenanntes Audit durchführte, in Wirklichkeit aber wohl eher eine Art Inquisition. Der neue Vorsitzende des Haushaltsausschusses, Roger Barrowby, hatte die Gelegenheit genutzt, gründlich auszumisten, und dazu ausführliche Gespräche mit sämtlichen Mitarbeitern geführt, in denen ihre finanziellen, beruflichen, emotionalen, psychischen, sexuellen und medizinischen Hintergründe ausgeleuchtet wurden, nur um ganz sicherzugehen, dass alles blitzsauber war. Man wollte unbedingt weitere Peinlichkeiten vermeiden.
»Das ist doch eine ziemliche Frechheit«, erwiderte Min. »Ich meine, Bradley hat doch die silbernen Löffel geklaut, also sollte es peinlich für den Haushaltsausschuss sein und nicht für den Park.«
»Willkommen in der Realität, mein Junge«, entgegnete Louisa.
Das Ganze hatte jedoch auch einen Vorteil. »Ich wette, Taverner geht an die Decke«, bemerkte Min.
Doch sie hatten keine Zeit, weiter darüber zu spekulieren, wohin Taverner ging oder nicht, denn da kam schon James Webb auf sie zu, der sie zu diesem Freilufttreffen einbestellt hatte.
Webb gehörte zu den Anzugträgern. Zwar hatte er heute mal keinen an – er trug hellbraune Chinos und einen dunkelblauen Rollkragenpullover unter einem schwarzen Regenmantel –, aber er machte niemandem etwas vor: Er war ein Anzugträger, und wenn man ihn aufschnitte, würde er in Nadelstreifen bluten. Sein heutiges Outfit hielt er wohl für regelbuchgemäß: die typische Kleidung für einen Ausflug ins Grüne. Stattdessen sah es eher so aus, als wäre er vorher noch schnell bei seinem Herrenausstatter in der Jermyn Street vorbeigefahren und hätte dort um das Passende für einen Spaziergang im Park gebeten. Man kaufte ihm den Freizeitlook genauso wenig ab wie der Frau in Pink die Sportlerin. Doch immerhin saß er in Regent’s Park, und sie beide saßen in Slough House. Sie waren erstaunt gewesen, überhaupt einen derartigen Anruf zu erhalten. Sie erwiderten sein Begrüßungsnicken, rahmten ihn rechts und links und passten sich seinem Gehtempo an. »Hatten Sie Schwierigkeiten rauszukommen?«
Genauso gut hätte er fragen können, wie der Verkehr gewesen war.
Louisa antwortete: »Die Hintertür klemmt. Man muss dagegentreten und sich gleichzeitig auf den Türgriff lehnen. Nachdem wir das geschafft hatten, war es ganz einfach.«
Webb erwiderte: »Ich meine, wegen Lamb.«
»Lamb ist nicht da«, erklärte Min. »Sollte er etwa nichts davon wissen?«
»Ach, er findet es ja sowieso irgendwann raus. Ist aber auch keine große Sache. Ich stelle Sie für eine Weile ab. Das ist alles. Es wird nicht lange dauern. Nur ungefähr drei Wochen.«
Ich stelle Sie für eine Weile ab. Als wäre er ein hohes Tier oder so. Wenn sich Ingrid Tearney in Washington, D.C.), aufhielt, was praktisch die Hälfte der Zeit der Fall war, übernahm Diana Taverner als Stellvertreterin ihre Aufgaben: Sie gehörte zur zweiten Reihe, stand aber ganz oben auf der Liste, sobald Gerüchte über eine Palastrevolution aufkamen. Was Spider Webb anging, so gehörte er gar keiner Reihe an, sondern fiel unter »ferner liefen«. Im Grunde arbeitete er für die Personalabteilung, wie Min und Louisa gehört hatten, und er stand in irgendeinem nicht näher bekannten Verhältnis zu River Cartwright. Sie wussten nur, dass die beiden zusammen ihre Ausbildung absolviert hatten und dass Webb River in die Pfanne gehauen und so dafür gesorgt hatte, dass er jetzt ein Slow Horse war.
Möglicherweise sprach Mins und Louisas Schweigen Bände, denn Webb sagte: »Sie werden also mir persönlich Bericht erstatten.«
»Was sollen wir für Sie tun?«
»Babysitten. Vielleicht auch ein bisschen überprüfen.«
»Überprüfen?« Überprüfen war hauptsächlich Büroarbeit, das Schicksal der Slow Horses, erforderte aber Ressourcen, über die Slough House nicht verfügte. Außerdem fiel es in der Regel in den Zuständigkeitsbereich des Backgrounds, der gefürchteten internen Sicherheitsabteilung des Secret Service, allgemein Dogs genannt. Sie waren im Bedarfsfall für eine solche Art der Unterstützung zuständig.
Webb gab jedoch vor zu glauben, Min wüsste nicht, was eine Überprüfung sei. »Ganz recht. Personenüberprüfung, Identitätsbestätigung, Sicherung des Aufenthaltsorts. So was eben.«
»Ach so, überprüfen«, sagte Min. »Ich dachte, Sie hätten übergeben gesagt. Hab mich schon gefragt, ob ein Virus grassiert.«
»Ist nicht weiter kompliziert«, erwiderte Webb, »denn wenn, hätte ich nicht einen Besserwisser wie Sie eingesetzt. Aber wenn Sie sich überfordert fühlen, sagen Sie es ruhig.« Er blieb stehen, und Min und Louisa gingen noch einen Schritt weiter, ehe sie es bemerkten. Sie drehten sich um und sahen ihn an. Er sagte: »Dann können Sie sich wieder zurück nach Slough House verpissen. Und zu den wichtigen Aufgaben, die Sie diese Woche zu erledigen haben.«
Min setzte spontan zu einer unüberlegten Erwiderung an, aber Louisa kam ihm zuvor. »Wir sind gerade nicht besonders beschäftigt«, sagte sie. »Wir wären dazu bereit.«
Sie warf Min einen kurzen Blick zu.
»Klar«, sagte er, »klingt ja wahnsinnig spannend.«
»Spannend?«
»Im Rahmen unserer Kompetenzen, meinte er«, fügte Louisa hinzu. »Wir sind nur ein wenig … verblüfft über Ihre Wahl des Treffpunkts.«
Webb blickte sich um, als bemerke er jetzt erst, dass sie draußen im Freien waren: Wasser, Bäume, Vögel. Der Verkehr summte, mit Rücksicht auf den Palast, höflich hinter den Absperrungen. »Tja«, sagte er, »tut doch immer gut, mal ein bisschen an die frische Luft zu kommen.«
»Besonders, wenn der Haussegen schiefhängt«, konnte sich Min nicht verkneifen zu sagen.
Louisa schüttelte den Kopf: Mit denen soll ich arbeiten?
Doch Webb spitzte die Lippen. »Es stimmt, dass es derzeit im Park ein wenig drunter und drüber geht.«
Na klar. Ihr kriecht gerade vor den Erbsenzählern, dachte Min. Das sorgt bestimmt für heitere Gespräche rings um den Wasserspender.
Webb sagte: »Jede Organisation braucht hin und wieder eine radikale Veränderung. Wenn sich der Staub erst mal gelegt hat, werden wir klarer sehen, wie es um uns bestellt ist.«
Und in diesem Moment erkannten Min und Louisa gleichzeitig, dass Webb diese radikale Veränderung für einen Sprung nach oben auf der Karriereleiter nutzen wollte.
»Aber in der Zwischenzeit müssen wir improvisieren. Der Background ist, wie Sie sich vorstellen können, damit ausgelastet, die Mitarbeiter des Parks zu überprüfen. Deswegen sehen wir uns gezwungen, äh …«
»Outzusourcen?«
»Wenn Sie so wollen.«
»Erzählen Sie uns mehr über das Babysitting«, schlug Louisa vor.
»Wir erwarten Besucher«, sagte Webb.
»Welche Art von Besuchern?«
»Die russische Art.«
»Wie nett. Sind das jetzt nicht unsere Freunde?«
Webb gluckste höflich.
»Was ist der Anlass?«
»Gespräche über Gespräche.«
»Waffen, Öl oder Geld?«, fragte Min.
»Zynismus wird oft überbewertet, finden Sie nicht?« Webb marschierte weiter, und sie liefen im Gleichschritt neben ihm her. »Die Regierung ist sich der Veränderungen im Osten durchaus bewusst. Nichts aktuell Dringliches, aber man muss für die Zukunft vorsorgen. Es ist immer sinnvoll, denjenigen freundlich die Hand zu reichen, die eines Tages, äh, einflussreich sein könnten.«
»Also Öl«, schloss Min Harper.
»Und, wer ist der Besucher?«, fragte Louisa.
»Sein Name ist Paschkin.«
»Wie der Dichter?«
»So ähnlich jedenfalls. Arkadi Paschkin. Vor hundert Jahren wäre er ein Warlord gewesen, vor zwanzig Jahren hätte er wahrscheinlich zur Mafia gehört. Heutzutage ist er hauptberuflich Milliardär.«
»Und Sie wollen, dass wir ihn überprüfen?«
»Um Himmels willen, nein! Der Mann ist Ölmagnat. Er könnte einen ganzen Friedhof im Keller haben, und die Regierung würde sich nicht dafür interessieren. Aber er wird in Begleitung anreisen, und da Gespräche mit hochrangigen Beteiligten stattfinden werden, muss ein störungsfreier Ablauf garantiert werden. Wenn etwas schiefgeht, braucht der Park natürlich Sündenböcke.«
»Und das wären dann wir.«
»Das wären dann Sie.« Er warf ihnen ein kurzes Lächeln zu, als wäre das scherzhaft gemeint, doch weder Min noch Louisa fielen darauf herein. »Haben Sie ein Problem damit?«
»Nein. Hört sich nicht so an, als würde uns das überfordern«, erwiderte Min.
»Ich hoffe, nicht.« Wieder blieb Webb stehen. Min musste die ganze Zeit daran denken, wie er früher mit seinen beiden Jungs spazieren gegangen war. Es dauerte ewig, bis sie irgendwo ankamen: Alles unterwegs fesselte ihre Aufmerksamkeit – ein Zweig, ein Gummiband, ein Kassenzettel –, und jedes Detail führte zu fünf Minuten Verzögerung. »Und?«, fuhr Webb übermäßig jovial fort. »Wie läuft’s denn so in Ihrer Villa?«
Ihrer Villa, hätte Min ihn am liebsten nachgeäfft. Na klar doch.
Louisa sagte: »Wie immer.«
»Und wie geht’s Cartwright?«
»Auch wie immer.«
»Es wundert mich, dass er durchhält. Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber er war ja immer sehr von sich überzeugt. Es muss doch furchtbar für ihn sein. So fern von der Action.«
In Webbs Worten schwang kaum verhohlene Befriedigung mit.
Min war zu dem Schluss gekommen, dass er kein Fan von Spider Webb war. Abgesehen davon, war er auch kein besonderer Fan von River Cartwright, aber inzwischen verband sie eine Gemeinsamkeit, die früher als solche keine Rolle gespielt hätte, ganz einfach ausgedrückt: Cartwright war ein Slow Horse, ebenso wie er selbst, ebenso wie Louisa. Früher hatte das nichts weiter bedeutet, als dass sie alle in derselben Scheiße saßen. Heutzutage hielten sie jedoch nach außen hin zusammen, auch wenn sie nicht unbedingt dicke Freunde waren. Vor allem bildeten sie eine gemeinsame Front gegenüber den Anzugträgern aus Regent’s Park.
Er sagte: »Ich werde ihm Grüße von Ihnen bestellen. Wie ich weiß, hat er Ihr letztes Treffen in angenehmer Erinnerung.«
Bei ihrem letzten Treffen hatte River Spider Webb k.o. geschlagen.
Louisa fragte: »Weiß Lamb davon, dass Sie uns, äh, abstellen?«
»Er wird es bald erfahren. Meinen Sie, er macht Schwierigkeiten?«
»Tja«, meinte Louisa, »falls er sich darüber ärgert, wird er es sich wahrscheinlich nicht anmerken lassen.«
»Wahrscheinlich«, fügte Min hinzu. »Sie kennen doch Lamb. Der geborene Diplomat.«
»Oh, nein«, stöhnte Lamb. »Nicht der schon wieder.«
Zurück am Bahnhof Oxford, nach einer weiteren halben Stunde Warten auf einen Zug, suchte Lamb jemanden, den er nach dem Fundbüro fragen konnte, und das erste Gesicht, das er erblickte, war das des Wiesels: immer noch nervös zuckend, immer noch dienstbeflissen und definitiv nicht begeistert davon, Jackson Lamb zu sehen.
Das Wiesel wollte einfach an ihm vorüberhuschen, doch Lambs Deckmantel als gewöhnlicher Fahrgast wurde allmählich fadenscheinig. Er packte den Mann am uniformierten Ellbogen. »Kann ich Sie etwas fragen?«
Das Wiesel schaute hinunter auf Lambs Hand, hinauf in Lambs Gesicht und dann langsam und betont hinüber zu dem Eisenbahnpolizisten ein paar Schritte weiter, der gerade einer hübschen Blondine zeigte, wie man einen Stadtplan las.
Lamb nahm die Hand weg. »Falls das irgendwie von Interesse ist«, sagte er, »die zwanzig Pfund habe ich noch.« Vor der Begehrlichkeit eines Busfahrers in Reading gerettet, hätte er hinzufügen können. »Es gibt also keinen Grund, warum wir nicht zivilisiert miteinander umgehen können.«
Er lächelte zur Betonung von »zivilisiert«, obwohl das zahngelbfleckige Resultat auch »bösartig« hätte bedeuten können.
Es war wohl mehr der Hinweis auf das Geld als die freundliche Eröffnung, die das Wiesel überzeugte. »Was wollen Sie denn diesmal?«, fragte es.
»Fundsachen. Wo finde ich die?«
»Wahrscheinlich im Fundbüro.«
»Das klappt ja hervorragend«, bemerkte Lamb. »Und wo finde ich das?«
Das Wiesel schürzte die Lippen und blickte betont auf die Stelle, wo Lambs Portemonnaie in der Mantelinnentasche steckte. Leere Versprechungen zogen nicht mehr, so viel war klar.
Der Eisenbahnpolizist beendete seine Geographielektion und blickte zu ihnen hinüber. Lamb nickte ihm zu, er grüßte zurück. Dann fragte er das Wiesel: »Arbeiten Sie schon lange hier?«
»Neunzehn Jahre«, antwortete das Wiesel voller Stolz.
»Na schön, wenn Sie neunzehn Jahre und einen Tag daraus machen wollen, dann jetzt bitte recht freundlich. Denn ich habe neunzehn Jahre und ein paar Zerquetschte damit verbracht, Dinge herauszufinden, die man vor mir verbergen wollte. Einen Brocken öffentlich zugängliche Information von einem kleinen Scheißer wie Ihnen zu erhalten, dürfte da wohl nicht weiter schwer sein. Meinen Sie nicht?«
Das Wiesel blickte sich nach dem Polizisten um, der jetzt auf einen Kaffeestand zuschlenderte.
»Mal ehrlich«, fuhr Lamb fort. »Meinen Sie, er schafft es bis hierher, bevor ich Ihnen die Nase gebrochen habe?«
Nichts an Lambs Aussehen deutete darauf hin, dass er ein besonderes Reaktionsvermögen hätte, aber seine schiere Präsenz war für jeden Gegner eine eindeutige Warnung, ihn keinesfalls zu unterschätzen. Lamb beobachtete, wie sich diese Gedanken in der Mimik des Wiesels widerspiegelten, und während es noch seine Chancen kalkulierte, gähnte er ausgiebig. Wenn Löwen gähnen, heißt das nicht, dass sie müde sind. Es heißt, dass sie aufwachen.
Das Wiesel sagte: »Bahnsteig zwei.«
»Bringen Sie mich hin«, sagte Lamb. »Ich suche einen Hut.«
Im St. James’s Park hatte Webb Louisa und Min einen rosafarbenen Pappordner übergeben, dessen Umschlag mit einem Aufkleber versiegelt war, und sich verabschiedet. Jetzt waren die beiden auf dem Weg in die Stadt und gingen vorher noch eine Runde um den See – es hätte ja eine Abkürzung sein können.
»Wenn er noch einmal ASAP gesagt hätte, hätte ich ihm mit LOL geantwortet«, bemerkte Louisa.
»Hm. Wie bitte? Ach so. Der war gut.«
Er klang, als wäre er mit seinen Gedanken meilenweit entfernt.
»Das Rad dreht sich«, stellte sie fest. »Aber der Hamster ist tot.«
Min bestätigte ihre Diagnose mit einem Grunzen.
Sie nahm ihn am Arm, denn sie konnten schließlich jederzeit behaupten, das wäre eine Tarnung. Auf einem Stein in der Mitte des Sees streckte ein Pelikan seine Flügel aus. Es war, als beobachte man einen Stockschirm beim Aerobic.
Louisa sagte: »Ich hoffe, du hast deine Haferflocken zum Frühstück gegessen.«
»Was soll das denn heißen?«
»Weil es so aussah, als wolltest du den Typen zum Ringkampf rausfordern.«
Min grinste betreten. »Na ja. Er ist mir ziemlich auf den Senkel gegangen.«
Louisa lächelte in sich hinein. Min hatte sich in den letzten Monaten verändert, und sie wusste, dass sie der Grund dafür war. Andererseits wusste sie ebenfalls, dass jede Frau das bewirkt hätte: Min hatte wieder Sex, und das belebte jeden. Ebenso wie ihr eigenes Leben war auch seines vor ein paar Jahren den Bach runtergegangen: In Mins Fall war der Auslöser eine CD mit Geheiminformationen gewesen, die er in einer U-Bahn liegengelassen hatte. Seine Ehe war ein Kollateralschaden gewesen. Louisa hatte ihrerseits bei einer Beschattung die Zielperson aus den Augen verloren, was zu einer Schießerei geführt hatte. Doch vor ein paar Monaten hatten sie sich so weit aus ihrer jeweiligen Erstarrung gelöst, dass sie eine Affäre begonnen hatten, zur selben Zeit, als Slough House für kurze Zeit zum Leben erwacht war. Seitdem hatte sich die Lage wieder beruhigt, aber der Optimismus war noch nicht ganz versiegt. Sie vermuteten, dass Jackson Lamb heikle Informationen über Diana Taverner hatte, so heikel, dass sie zwar nicht ganz seine Marionette war, aber zumindest in seiner Schuld stand.
Und Schuld bedeutete Macht.
Louisa meinte: »Webb ist doch der, den River k.o. geschlagen hat, oder?«
»Genau.«
»Es wundert mich, dass er wieder aufgestanden ist.«
»Hältst du River für so tough?«, erwiderte Min.
»Du nicht?«
»Nein, nicht unbedingt.«
Sie lachte kurz auf.
»Was ist?«
»Ach, nichts. Nur, wie du dabei gerade so mit der Schulter gerollt hast.« Sie ahmte die Bewegung übertrieben nach. »Als wolltest du sagen, nicht so tough wie ich.«
»Gar nicht wahr.«
»Doch.« Sie rollte noch einmal mit der Schulter. »So. Als wärst du bei Ninja Warrior oder so.«
»Ach, Quatsch. Ich wollte nur damit sagen, dass River sich wahrscheinlich ganz gut durchsetzen kann. Aber er wird ja wohl kaum Lady Dis Schoßhündchen zerlegen, oder?«
»Kommt drauf an, wohin ihn das Schoßhündchen gebissen hat.«
Sie umrundeten den See. Über die Wiese tappten zwei aufdringliche, ihnen unbekannte Vögel auf Füßen umher, die zu groß für ihre Beine waren. Auf dem Wasser glitt ein schwarzer Schwan vorbei. Er sah mürrisch aus.
»Ist der Auftrag okay für dich?«
Schulterzuckend antwortete Louisa: »Babysitten. Nicht besonders aufregend.«
»Aber wenigstens kommen wir mal aus dem Büro raus.«
»Falls der Job uns nicht wieder reinbringt. Wir werden Papierkram erledigen müssen. Ich bin mal gespannt, was Lamb dazu sagt.«
Min blieb stehen, so dass Louisa, da sie immer noch Arm in Arm gingen, ebenfalls anhalten musste. Gemeinsam beobachteten sie, wie der Schwan am Uferrand entlangpatrouillierte und dann urplötzlich nach etwas unter der gekräuselten Oberfläche pickte. Sein Hals wurde für einen Augenblick zu einem Strahl von schwarzem Licht unter Wasser.
Louisa sagte: »Schwarze Schwäne. Neulich habe ich etwas über sie gelesen.«
»Wie, stehen sie beim Chinesen auf der Speisekarte? Das ist ja eklig.«
»Benimm dich. Nein, in einer Sonntagsbeilage. Das ist so ein Ausdruck, schwarzer Schwan. So bezeichnet man ein vollkommen unerwartetes Ereignis mit großen Auswirkungen. Aber eines, das im Nachhinein als vorhersehbar erscheint.«
»Aha.«
Sie gingen weiter. Nach einer Weile fragte Louisa: »Und, woran hast du eben gedacht? Als du so in Gedanken warst?«
Er sagte: »Ich dachte daran, dass man uns beim letzten Mal, als wir in eine Regent’s-Park-Operation hineingezogen wurden, ganz übel reinlegen wollte.«
Der schwarze Schwan neigte den Hals erneut und tauchte mit dem Kopf unter Wasser.
Shirley Dander griff nach ihrem To-go-Kaffeebecher. Der Kaffee war kalt geworden, aber sie trank trotzdem davon. Dann sagte sie: »Und was ist mit Standish?«
»Lady Catherine …« Marcus deutete mit der rechten Hand eine Reverenz an. »Sie hing an der Flasche.«
Das klang irgendwie absurd. Catherine Standish wirkte immer so beherrscht und erinnerte mit ihrer seltsam altmodischen Art, sich zu kleiden, an eine in die Jahre gekommene, desillusionierte Alice im Wunderland. Aber Marcus schien sich seiner Sache ganz sicher zu sein:
»Sie ist jetzt trocken. Wahrscheinlich schon seit Jahren. Aber so, wie ich Säufer kenne, und ich habe einige gekannt, hätte sie mich damals wahrscheinlich unter den Tisch trinken können. Und dich auch. Und zwar hintereinander.«
»So, wie du es sagst, klingt es, als sei sie eine Boxerin gewesen.«
»Hardcore-Alkoholiker gehen Alkohol tatsächlich an wie eine Kneipenschlägerei. Du weißt schon, nur einer von uns wird hinterher noch aufrecht stehen. Und jeder glaubt, er wäre es. Sie, in ihrem Fall.«
»Aber jetzt hat sie ihre Trinkerhandschuhe an den Nagel gehängt.«
»Das ist auch so was, was jeder von sich glaubt.«
»Und jetzt Cartwright? Also, der hat King’s Cross lahmgelegt.«
»Weiß ich. Ich hab den Film gesehen.«
Das Videomaterial von River Cartwrights desaströs verlaufener Prüfungsaufgabe, die theoretisch eine Rushhour-Panik in einer von Londons großen Bahnhöfen verursacht hätte, wurde gelegentlich zu Ausbildungszwecken benutzt, nicht gerade zu Cartwrights großer Begeisterung.
»Aber sein Großvater ist doch eine Art Legende. David Cartwright?«
»Das war vor meiner Zeit.«
»Er ist schließlich Cartwrights Großvater«, fuhr Marcus fort. »Von uns hat ihn keiner mehr gekannt. Aber er war ein großes Tier unter den Agenten damals im dunklen Zeitalter. Und er lebt übrigens noch.«
»Ein Glück«, meinte Shirley. »Sonst würde er sich im Grab umdrehen. Weil Cartwright doch ein lahmer Gaul ist und so.«
Marcus Longridge schob sich weiter von seinem Tisch weg und streckte die Arme weit aus. Er könnte Türen blockieren, dachte Shirley. Hatte er wahrscheinlich auch damals getan, im aktiven Dienst: Er war bei Razzien im Einsatz gewesen und hatte vor etwa einem Jahr eine aktive Terrorzelle ausgehoben. So ging jedenfalls die Legende, aber es musste noch eine andere Geschichte geben, sonst wäre er jetzt nicht hier.
Er starrte sie an. Seine Augen waren schwärzer als seine Haut: ein Gedanke, der sie selbst überraschte. »Was ist?«
»Und, worüber bist du gestolpert?«
»Was? Worüber ich gestolpert bin?«
»Warum haben sie dich verknackt?«
»Ich hab dich schon verstanden.« Irgendwo über ihren Köpfen kratzte ein Stuhl über den Boden, und Schritte gingen hinüber zum Fenster. »Ich habe ihnen gesagt, ich sei lesbisch«, sagte sie schließlich.
»Wie bitte?«
»Sie hätten niemals eine Lesbe dafür gefeuert, ein Arschloch k.o. geschlagen zu haben, das sie in der Kantine befummelt hat.«
»Hast du deswegen deine Haare abgeschnitten?«
»Nein«, erwiderte sie. »Ich hab mir die Haare abgeschnitten, weil ich Lust dazu hatte.«
»Sind wir auf derselben Seite?«
»Ich bin auf niemandes Seite außer auf meiner eigenen.«
Er nickte. »Wie du willst.«
»Na klar.«
Sie drehte sich wieder zu ihrem Monitor um, der in den Schlafmodus gefallen war. Als sie die Maus bewegte, enthüllte er mürrisch ein Doppelbild von zwei Gesichtern, die so offensichtlich nicht übereinstimmten, dass sich das Programm wohl verabschiedet haben musste.
»Bist du wirklich lesbisch? Oder hast du das denen nur weisgemacht?«
Shirley antwortete nicht.
Auf einer Bank im Bahnhof Oxford saß Jackson Lamb; der Mantel umbauschte ihn zu beiden Seiten, und ein offener Hemdknopf ließ einen haarigen Bauch hervorblitzen. Er kratzte sich dort gedankenverloren, versuchte, den Knopf zu schließen, gab dann aber auf und bedeckte die Erhebung stattdessen mit einem schwarzen Filzhut, auf den er dann seinen Blick konzentrierte, als enthielte er das Geheimnis des Heiligen Grals.
Ein schwarzer Hut. In einem Bus zurückgelassen. Dem Bus, in dem Dickie Bow gestorben war.
Was an sich nicht viel bedeutete, aber Jackson Lamb misstraute der Sache.
Es hatte in Strömen geregnet, als der Bus in Oxford eingetroffen war, und das Erste, was man tat, bevor man aus einem Bus in den Regen trat, war, seinen Hut aufzusetzen, falls man einen besaß. Und wenn man ihn vergessen hatte, drehte man sich sofort um und holte ihn. Es sei denn, man wollte keine Aufmerksamkeit erregen, wollte in der Menge unsichtbar werden, die auf den Bahnsteig strömte, wollte rasch in einen Zug steigen und so schnell wie möglich verschwinden …
Eine Frau starrte ihn durchdringend an, und sie war viel zu attraktiv, um dies aus echtem Interesse zu tun. Dann fiel Lamb auf, dass sie gar nicht ihn, sondern die Zigarette anstarrte, von der er nun feststellte, dass er sie zwischen zwei Fingern seiner linken Hand hielt, jener, mit der er auf den Fedora tippte. Seine Rechte wühlte bereits in der Hosentasche nach einem Feuerzeug, was fast so aussah, als kratze er sich am Sack. Er warf der Frau sein schönstes schiefes Lächeln zu, wobei er einen Nasenflügel blähte, und sie erwiderte mit zwei geblähten Nasenflügeln und wandte sich ab. Trotzdem klemmte sich Lamb die Zigarette hinters Ohr.
Die kramende Hand gab die Suche nach einem Feuerzeug auf und fand stattdessen das Handy, das Lamb aus dem Bus mitgenommen hatte.
Es war ein uraltes Ding, ein Nokia, schwarzgrau mit ungefähr so vielen Funktionen wie ein Flaschenöffner. Man konnte damit genauso wenig fotografieren wie E-Mails mit einem Tacker versenden. Doch als er den Einschaltknopf drückte, erwachte das Display piepend zum Leben und erlaubte ihm, eine Kontaktliste hinunterzuscrollen. Fünf Nummern: Geschäft, Digs and Star, was nach Bows Stammkneipe klang, und dazu zwei richtige Namen, ein Dave und eine Lisa, die Lamb beide anrief. Bei Daves Handy sprang sofort die Mailbox an, und Lisas Festnetzanschluss führte nirgendwohin, sondern war ein Tor zu einer summenden Leere, in der kein Anruf je entgegengenommen werden würde. Lamb klickte auf Nachrichten und fand nur eine von Bows Provider, die ihn darüber informierte, dass er noch 82 Pence Guthaben auf seiner Prepaid-Karte hatte. Lamb fragte sich, welchen Bruchteil von Bows weltlichen Besitztümern diese 82 Pence repräsentierten. Vielleicht konnte er Lisa einen Scheck schicken. Er ging weiter runter auf »gesendet«. Diese Liste war leer.
Aber Dickie Bow hatte sein Handy kurz vor seinem Tod zur Hand genommen und es tief zwischen die Polster seines Sitzes gerammt, als wolle er sichergehen, dass es nur gefunden werden würde, wenn jemand danach suchte. Jemand, für den er eine Nachricht hatte.
Eine ungesendete Nachricht, wie sich herausstellte.
Ein Zug fuhr ein, doch Lamb blieb auf seiner Bank sitzen. Nicht viele Fahrgäste stiegen aus, nicht viele stiegen ein. Als der Zug wegfuhr, sah Lamb, wie ihn die attraktive junge Frau durch ein Fenster anstarrte, und er furzte leise zur Antwort: ein geheimer, aber befriedigender Sieg. Dann studierte er noch einmal das Handy. Entwürfe. Es gab einen Entwurfsordner für SMS . Er öffnete ihn, und ein Wort, von einer einzigen gespeicherten Nachricht, starrte ihn vom winzigen Display aus an.
In der Nähe seiner Füße scharrte eine Taube und gab vor, ein vielbeschäftigter Vogel zu sein. Lamb bemerkte sie nicht. Er war vollkommen konzentriert auf dieses eine Wort, das ins Handy eingegeben, aber nie übermittelt worden war, für immer eingeschlossen in diesem schwarzgrauen Kästchen, neben einem ungenutzten Kommunikationsguthaben im Wert von 82 Pence. Ein letztes Wort in eine Flasche gehaucht und von einem Korken eingeschlossen, das herausgelassen werden konnte, sobald das trostlose Geschäft der Beseitigung der Leiche abgeschlossen war. Hier, auf einem Bahnsteig in Oxfordshire, wo eine späte Märzsonne darum kämpfte, gefühlt zu werden, und eine Taube zu seinen Füßen herumpickte. Ein Wort.
»Cicadas«, sagte Jackson Lamb laut. Dann wiederholte er es noch einmal: »Cicadas.«
Und dann sagte er: »Da leck mich doch einer am Arsch!«