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Nicht nachweisbares Gift, dachte River Cartwright.
Himmelherrgott!
In der U-Bahn setzte sich eine attraktive Brünette neben ihn, der dabei der Rock hochrutschte. Gleich darauf kamen sie ins Gespräch, und als sie an der gleichen Haltestelle ausstiegen, blieben sie vor der Rolltreppe kurz stehen und tauschten Telefonnummern aus. Der Rest folgte fast zwangsläufig: Wein, Pizza, Bett, ein Feiertag; erste Wohnung, erster Jahrestag, erstes Kind. Fünfzig Jahre später blickten sie auf ein glückliches Leben zurück. Dann starben sie. River rieb sich mit dem Fingerknöchel das Auge. Der Platz gegenüber wurde frei, und die Frau setzte sich rüber und ergriff die Hand des Mannes neben sich.
Von London Bridge fuhr River weiter nach Tonbridge, das sein Großvater bewohnte, als wäre es ein nach lebenslangem Kampf annektiertes Territorium. Der O.B. konnte einkaufen gehen, die Zeitung, Milch und Lebensmittel holen, dem Metzger, Bäcker und der Postfrau zuzwinkern, und keiner von ihnen hätte auch nur im Entferntesten geahnt, dass Hunderte von Leben durch seine Hände gegangen waren; dass er Entscheidungen getroffen und Befehle gegeben hatte, die manchmal den Lauf der Geschichte verändert hatten und zu anderen Zeiten – was noch wichtiger war, hätte er betont – dafür gesorgt hatten, dass alles beim Alten blieb. Es wurde allgemein angenommen, dass er irgendetwas im Verkehrsministerium gewesen war, und gutmütig nahm er die Schuld für Mängel im Busverkehr auf sich.
Welche einschneidenden Dinge müssen passiert sein, dachte River manchmal, um sicherzustellen, dass alles beim Alten blieb!
Nach dem Essen saßen sie beim Whisky im Arbeitszimmer. Im Kamin brannte ein Feuer. Im Laufe der Jahre hatte sich der Lehnstuhl des alten Mannes so durchgesessen, dass er darin wie in einer Hängematte saß; der zweite Sessel nahm Rivers Formen an. Soweit er wusste, saß außer ihm nie jemand darin.
»Dich beschäftigt doch etwas«, vermutete sein Großvater.
»Ja, aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich dich besuchen komme.«
Dies wurde wegen Irrelevanz abgelehnt.
»Es geht um Lamb.«
»Jackson Lamb. Was ist mit ihm?«
»Ich glaube, er hat den Verstand verloren.«
Dem O.B. gefiel das, das sah River ihm an. Ihm gefiel alles, was ihm die Möglichkeit zur psychologischen Höhlenforschung bot. Und es gefiel ihm besonders gut, wenn River ihm eine Steilvorlage gab: »Eine Diagnose aufgrund deiner fundierten Medizinkenntnisse.«
»Er wird allmählich paranoid.«
»Wenn er das jetzt erst werden würde, hätte er nicht so lange überlebt. Aber du meinst bestimmt, dass er sich selbst übertroffen hat. Wie äußert sich diese spezielle Paranoia?«
»Er glaubt anscheinend, dass ein KGB -Mordkommando hier sein Unwesen treibt.«
»Tja, wobei es erstens den KGB gar nicht mehr gibt. Und der Kalte Krieg ist auch vorbei. Wir haben gewonnen, falls du dich erinnerst.«
»Ich weiß. Ich hab’s gegoogelt.«
»Andererseits war der russische Präsident früher Chef des KGB , der heute FSB heißt, und die mögen zwar die Briefköpfe geändert haben, tragen aber immer noch dieselben Stiefel. Für nicht nachweisbares Gift war die ›Sonderabteilung‹ des KGB zuständig. Die Giftfabrik. In den dreißiger Jahren hat ein Psychopath namens Mairovsky, Mairanovsky oder so ähnlich seine gesamte Dienstzeit damit verbracht, nicht nachweisbare Gifte auszutüfteln. Er wurde so gut darin, dass sie ihn umbringen mussten.«
River senkte den Blick auf sein Glas. Whisky trank er immer nur mit seinem Großvater. Vielleicht machte es das zu einem Ritual. »Du willst also damit sagen, dass es möglich wäre.«
»Ich will damit sagen, dass ich hellhörig werden würde, wenn Jackson Lamb befürchtet, dass eine altmodische Moskauer Operation in unserem Hinterhof stattfindet. Dir sagt nicht zufällig der Name Litvinenko etwas?«
»Ist der auch nicht nachweislich vergiftet worden?«
»Allerdings. Denn das geschah bei einer verdeckten Operation. Glaubst du etwa, dass die das nicht wie einen Unfall hätten aussehen lassen können, wenn sie es gewollt hätten?« Es war ein beliebter O.B.-Trick, einem die Argumente im Mund herumzudrehen. Ein anderer bestand darin, einem keine Chance zu geben, sich zu erholen. »Wer ist das Opfer?«
»Er hieß Bough. Richard Bough.«
»Großer Gott. Dickie Bow war noch am Leben?«
»Du kanntest ihn.«
»Nur vom Hörensagen. Er hat in Berlin für uns gearbeitet.« Der O.B. stellte seinen Drink beiseite und nahm seine Denkerpose ein: Ellenbogen auf die Armlehnen gestützt, Fingerspitzen aneinandergelegt, als hielte er einen unsichtbaren Ball. »Wie ist er gestorben?«, fragte er, und als River ihm alles erzählt hatte, lautete sein Kommentar: »Er war nie einer der Fixesten«, als habe seine Trägheit den verstorbenen Dickie Bow für den Tod in einem Bus vorherbestimmt. »War nie erste Liga.«
»Premier League«, schlug River vor.
Sein Großvater winkte solche modernen Greuel beiseite. »Einer der Straßenarbeiter des Lebens. Und ich glaube, er hatte eine Beteiligung an einem Nachtclub. Oder er hat in einem gearbeitet. Wie dem auch sei, er hat immer pikante Indiskretionen geliefert. Welcher kleine Beamte seine Frau oder seinen Freund betrogen hat. Du weißt, was ich meine.«
»Und das kam alles in die Akten.«
Der O.B. sagte: »Du kennst doch das alte Sprichwort über Gesetze und Würstchen, und dass man von beiden nicht wissen will, wie sie gemacht werden? Das Gleiche gilt für die Geheimdienstarbeit.« Er ließ seinen unsichtbaren Ball fallen, nahm stattdessen sein Glas zur Hand und schwenkte den Whisky nachdenklich darin herum, so dass die bernsteinfarbene Flüssigkeit über den Rand schwappte. »Aber Dickie Bow ist plötzlich untergetaucht, und dafür ist er berühmt geworden. Von Berlin bis ins Verteidigungsministerium in Whitehall erregte er Aufsehen, denn er war zwar ein kleiner Fisch, aber dass ein britischer Agent im Sowjetfernsehen auftrat und behauptete, er wüsste Gott weiß was, war das Letzte, was irgendjemand wollte.«
»Wann war das?«, fragte River.
»September neunundachtzig.«
»Aha.«
»Aha, ganz genau. Jeder beim Geheimdienst, und jeder in Berlin sowieso, wusste verdammt genau, dass bald irgendetwas passieren würde, und obwohl es vor lauter Aberglauben niemand laut sagte, starrte jeder dabei auf die Mauer. Und niemand, wirklich niemand, wollte einen Zwischenfall, der die Geschichte vom Kurs abbringen konnte.« Er wirbelte den Whisky jetzt so heftig herum, dass Spritzer aus dem Glas flogen. Er stellte es auf den Tisch neben sich, hob eine Hand zum Mund und leckte die Tropfen ab.
»Wenn du niemand sagst …«
»… meine ich natürlich auch niemanden. Niemanden auf unserer Seite.« Er inspizierte seine Hand, als hätte er vergessen, wofür sie da war, und ließ sie dann auf seinen Schoß fallen. »Und viel wäre dazu nicht nötig gewesen. Dickie Bow wäre vielleicht der Sand auf den Schienen geworden, der aber die Lok zum Entgleisen gebracht hätte. Also waren wir sehr daran interessiert, ihn wiederzufinden, wie du dir sicherlich denken kannst.«
»Und offenbar ist euch das ja auch gelungen.«
»O ja, gefunden haben wir ihn. Oder besser: Er ist wieder aufgetaucht. Kam zurück nach Berlin spaziert, während wir schon dabei waren, die Berichte über jeden Einsatz, von dem er je Wind bekommen hatte, in den Giftschrank zu verbannen. Na ja, ›spazieren‹ trifft es nicht so ganz; in Wahrheit konnte er sich kaum auf den Beinen halten.«
»Hat man ihn gefoltert?«
Der O.B. schnaubte. »Er war sturzbetrunken, aber seinen Behauptungen nach nicht aus freiem Willen. Man hätte ihn festgehalten und ihm das Zeug in den Hals geschüttet, sagte er. Er hätte geglaubt, sie wollten ihn ertränken, sagte er. Na klar wollten sie das – einen Mann wie Dickie Bow in Alkohol zu ertränken, hätte nur bedeutet, den Lauf der Dinge zu beschleunigen.«
»Aber wer waren ›sie‹, in diesem Szenario? Die Ostdeutschen?«
»O nein, nicht so etwas Banales. Nein, Dickie Bow behauptete, von echten Geheimagenten entführt worden zu sein. Die Moskauer Variante. Und auch nicht von irgendwelchen Lakaien.«
Er hielt inne und zog die Spannung genüsslich in die Länge. River fragte sich manchmal, wie der alte Mann es aushalten konnte, seine täglichen Runden – Metzger, Bäcker, Postfrau – zu drehen, ohne der Versuchung zu erliegen, für den ganzen traurigen Haufen eine Vorstellung zu geben. Denn wenn es eines gab, was dem O.B. dieser Tage gefiel, dann war es ein Publikum.
»Nein«, sagte der alte Mann. »Dickie Bow behauptete, von Alexander Popow persönlich entführt worden zu sein.«
Eine Offenbarung, die River stärker beeindruckt hätte, wenn ihm der Name etwas gesagt hätte.
Er könnte einen Heiligen in den Selbstmord treiben, dachte Catherine Standish.
Herr im Himmel!
Ich höre mich schon an wie meine Mutter.
Sie hatte das gerade erst über Jackson Lamb gesagt: dass er einen Heiligen in den Selbstmord treiben könnte. Sie hätte nie geglaubt, dass sie diesen Satz jemals aussprechen würde, aber so war das nun mal: Man wurde zu seiner Mutter, es sei denn, man wurde zu seinem Vater. So kam es jedenfalls, wenn man sich vom Leben glattschleifen und die Ecken und Kanten weghobeln ließ, die einen zu etwas Besonderem gemacht hatten.
Catherine hatte einmal Kanten gehabt, aber jahrelang ein Leben geführt, dessen Grenzen schwammig waren und in dem sie morgens aufgewacht war und nicht mehr genau gewusst hatte, was in der Nacht zuvor passiert war. Spuren von Sex und Erbrochenem gaben gewisse Hinweise darauf; auch Blutergüsse an Armen und Oberschenkeln. Das Gefühl, ausgekotzt worden zu sein. Ihre Beziehung zum Alkohol war die beständigste ihres Lebens gewesen, aber wie jeder perfide bösartige Partner hatte auch er am Ende sein wahres Gesicht gezeigt. Inzwischen waren Catherines Kanten also weggehobelt worden, und allein in der Küche ihrer Wohnung in Nordlondon machte sie sich einen Pfefferminztee und dachte über glatzköpfige Männer nach.
Es gab keine glatzköpfigen Männer in ihrem Leben. Es gab überhaupt keine Männer in ihrem Leben, jedenfalls keinen, der zählte: Es gab männliche Wesen bei der Arbeit, und sie hatte River Cartwright ins Herz geschlossen, aber es gab keine richtigen Männer, und Jackson Lamb fiel weit außerhalb dieser Kategorie. Dennoch dachte sie über glatzköpfige Männer nach, besonders einen, der einen schnellen Blick zur Kamera warf, bevor er hinaus in den Starkregen auf einen Bahnsteig trat, anstatt sich unter dem Dach unterzustellen. Und über den Hut, den er nicht getragen hatte, weil er ihn zwei Minuten zuvor in einem Bus liegengelassen hatte.
Und sie dachte auch, wie so oft, darüber nach, wie einfach es wäre, sich eine Flasche Wein zu besorgen und ein kleines Glas zu trinken, um sich zu beweisen, dass sie mehr nicht brauchte. Ein Glas, und den Rest ins Spülbecken. Ein Chablis. Schön gekühlt. Oder in Raumtemperatur, falls der Spirituosenladen ihn nicht kaltgestellt hatte; und wenn es keinen Chablis gab, würde es auch ein Sauvignon Blanc tun, oder ein Chardonnay, oder ein Triple Lager oder eine Zwei-Liter-Flasche Cider.
Tief durchatmen. Mein Name ist Catherine, und ich bin Alkoholikerin. Eine Ausgabe des Blauen Buches stand zwischen einem Wörterbuch und einem Gedichtband von Sylvia Plath im Wohnzimmer, und es gab nichts, was sie davon abhalten konnte, sich damit hinzusetzen, Pfefferminztee in Reichweite, bis das Schwanken vorbei war. Das Schwanken: ein weiterer Ausdruck ihrer Mutter. Codewort für eine Hitzewallung. Ihre Mutter hatte viele Codewörter verwendet. Was fast schon lustig war, wenn man bedachte, welchen Beruf Catherine ausübte.
Also, was würde ihre Mutter jetzt von ihr halten, wenn sie noch am Leben wäre? Wenn sie Slough House, seine schäbige Fassade und seine noch schäbigeren Insassen sehen könnte … Catherine hätte nicht weiter darüber nachzudenken brauchen, denn die Antwort war sonnenklar: Ihre Mutter hätte einen Blick auf die abgenutzten Möbel, den abblätternden Putz an den Wänden, die staubigen Glühbirnen und die Spinnweben in den Ecken geworfen und sofort erkannt, dass dies ein passender Ort für ihre Tochter war, ein Ort, an dem Ehrgeiz keine Chance hatte. Es war besser, die Decke des Lebens niedrig zu hängen. Es war besser, keinen großen Illusionen nachzujagen.
Und es war, auf lange Sicht, besser, nicht darüber nachzudenken, was hinter einem lag.
Und so ging Catherine mit ihrem Pfefferminztee in ihr Wohnzimmer und besorgte sich zum aberhundertsten Mal keine Flasche. Sie blätterte auch nicht im Blauen Buch – geschweige denn in den verdammten Sylvia-Plath-Gedichten –, sondern saß stattdessen da und dachte über glatzköpfige Männer und ihr Verhalten auf verregneten Bahnsteigen nach. Und sie versuchte, nicht an ihre Mutter zu denken oder daran, dass die Kanten ihres Lebens weggehobelt worden waren, bis man an ihnen vorbei erkennen konnte, was auch immer als Nächstes kam.
Denn was auch immer als Nächstes kam: Es war sinnvoll, vom Schlimmsten auszugehen.
Vom siebzigsten Stock zu dem hier, dachte Louisa Guy.
Heilige Scheiße!
Ein Prospekt über »Beautiful Homes« hatte ihr kürzlich verkündet, dass mit ein wenig Phantasie und ein wenig Geld selbst die kleinste Wohnung in eine kompakte, platzsparende Traumwohnung verwandelt werden könne. Leider war dieses »klein wenig« doch so viel, dass sie bei genauer Berechnung auch einfach in eine größere Wohnung hätte ziehen können.
Wie immer war nasse Wäsche das Thema des heutigen Abends. Ein Kleiderständer, der so konzipiert war, dass er bei Nichtgebrauch zusammengeklappt und weggeräumt werden konnte, war permanent im Einsatz – und selbst wenn er es nicht gewesen wäre, gab es keinen Platz, wo sie ihn hätte unterbringen können. Daher lehnte er an einem Bücherregal, behangen mit Unterwäsche, deren Sortiment ein erhebliches Upgrade erfahren hatte, seitdem Min Harper in Louisas Leben getreten war. Anderswo hingen Blusen an Drahtbügeln, überall dort, wo diese eingehängt werden konnten, und ein noch feuchter Pullover nahm auf dem Tisch seine alte Form wieder an, wobei seine Ärmel rechts und links weit hinunterbaumelten. Louisa saß auf einem Küchenstuhl, den Laptop auf den Knien.
Es war eine ziemlich simple Recherchetechnik, aber zu googeln, was am Tag von Spider Webbs Mini-Gipfel in London los war, war der erste Schritt. Sie fand Informationen zu einem internationalen Symposium über moderne metallurgische Prozesse an der London School of Economics und eine Konferenz über asiatische Studien an der School of Oriental and African Studies. Der Kartenverkauf für ein ABBA -Reunion-Konzert würde beginnen, und innerhalb von zwei Minuten würden alle Tickets restlos ausverkauft sein. Im Stadtzentrum Londons würde es noch turbulenter zugehen als an einem normalen Tag, da eine Stop -the -City -Demonstration auf der Oxford Street anberaumt war: Man rechnete mit einer Viertelmillion Demonstranten. Verkehr, U-Bahn und normales Leben würden zweifellos zum Stillstand kommen.
Nichts davon stand in einem offensichtlichen Zusammenhang mit dem Besuch der Russen. Es waren Hintergrundinformationen, aber Hintergrundinformationen waren wichtig, und nach dem, was sie beim letzten Mal erlebt hatten, als die Slow Horses an einer Regent’s-Park-Operation beteiligt gewesen waren, verließ sie sich nicht auf Informationen von Webb. Aber es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Louisa musste immer wieder daran denken, wie sie in diesem riesigen Büro in The Needle gestanden hatte. Sie hatte selten einen so weitläufigen Innenraum erlebt, dachte sie bei sich, und dieser Gedanke brachte sie unwillkürlich wieder zurück zu ihrer Behausung, einer Einzimmer-Mietwohnung auf der unattraktiven Seite des Flusses.
Inzwischen übernachtete Min zwei-, manchmal dreimal die Woche bei ihr, und obwohl das immer noch eine gute Sache war, hatte es auch seine Nachteile. Min war nicht unordentlich, aber er nahm Platz ein. Er mochte es, sauber und frisch zu sein, wenn er zu ihr ins Bett kam, was für sie bedeutete, wertvolle Zentimeter ihres Badezimmerregals zu verlieren; er brauchte morgens ein sauberes Hemd, also brauchte er auch Schrankraum. DVD s waren aufgetaucht und Bücher und CD s, was zusätzliche Gegenstände auf einem engen Raum bedeutete, der nicht größer wurde. Und dann war da noch Min selbst, natürlich, der zwar kein unbeholfener Trampel war, aber dennoch die Wände näher rücken ließ. Sie genoss seine Nähe, aber es wäre schöner gewesen, die Nähe irgendwo auszuleben, wo es so geräumig war, dass sie dabei nicht gleich Klaustrophobie entwickelte.
An anderer Stelle im Gebäude schlug eine Tür zu. Der daraus resultierende Zug pfiff die Flure entlang und flüsterte unter Türen hindurch, bis eine Bluse mit einem Geräusch wie Schnee, der von einem Dach glitt, von ihrem Kleiderbügel auf den Boden rutschte. Louisa studierte sie ein, zwei Augenblicke lang, als könnte sich die Situation ohne ihr Eingreifen korrigieren, und als dies nicht geschah, schloss sie die Augen und wünschte sich anderswohin, doch als sie sie wieder öffnete, war auch das nicht passiert.
Eine zugige, winzige Mietwohnung. Mit einer zusätzlichen, besonders negativen Eigenschaft: So einfach und eng ihre Behausung war, so war sie doch um Klassen besser als Mins Wohnung.
Wenn sie etwas Schönes, Gemeinsames finden wollten, würden sie Geld brauchen.
Halb zwölf. Noch sechseinhalb Stunden.
Verdammte Scheiße!
Wenn er seine Vorstellung von einem privaten Securitydienst hätte beschreiben sollen, hätte Cal Fenton genaue Vorstellungen gehabt. Die Mitarbeiter wären im Nahkampf ausgebildet und mit Utility-Belts, Kevlarwesten und Tasern ausgestattet gewesen. Es hätte reifenzerfetzende Starts und halsbrecherische Verfolgungsjagden gegeben. Er hätte einen dieser Ohrstöpsel und eine Freisprechanlage getragen, ein Must-have in der adrenalingeschwängerten Welt des privaten Personenschutzes, in der man nie wusste, was die nächste Sekunde bringen würde. Das hatte Cal Fenton vorgeschwebt. Gefahr. Aufregung. Eine unerbittliche Abhängigkeit von seinen eigenen körperlichen Fähigkeiten.
Stattdessen trug er eine zu kleine Uniform, weil sein Vorgänger ein Zwerg gewesen war, und dazu eine Gummitaschenlampe mit schwacher Batterie. Und anstatt auf dem Beifahrersitz einer gepanzerten Limousine zu sitzen, musste er jede Nacht ein halbes Dutzend Gänge rauf und runter latschen und sich zu jeder vollen Stunde telefonisch melden; weniger, um die Verwaltung zu beruhigen, dass das Gebäude noch stand, als um zu beweisen, dass er wach war und seinen Lohn verdiente – der nur ein paar Kröten über dem Mindestlohn lag. Immerhin hatte er Arbeit, wie seine Mutter nicht müde wurde zu betonen, aber mit all der Weisheit seiner neunzehn Jahre hatte Cal Fenton den Fehler in dieser Argumentation bereits gefunden: Manchmal war ein Job so richtig scheiße. Besonders, wenn es dreiundzwanzig Uhr einunddreißig war und noch sechs Stunden neunundzwanzig Minuten vor einem lagen, bevor man die Tür hinter sich zumachen konnte.
Apropos …
Cal befand sich im Erdgeschoss auf dem Weg durch den östlichen Flur des Gebäudes, und die Tür am anderen Ende war offen. Nicht weit, aber auch nicht fest verschlossen … Entweder hatte sie jemand seit Cals letzter Runde geöffnet, oder er selbst hatte sie nach seiner Zigarettenpause nicht geschlossen.
Es konnte im Zweifelsfall nur er gewesen sein, denn er war der einzige Nachtwächter.
Als er die Tür erreichte, drückte er vorsichtig dagegen. Knarrend schwang sie auf. Draußen befand sich ein leerer, von einem Gitterzaun umgebener Parkplatz, hinter dem eine Straße voller Schlaglöcher im Schatten des Westway verschwand. Das Gebäude gegenüber war früher eine Kneipe gewesen und hoffte vielleicht, eines Tages wieder eine Kneipe zu werden, aber vorerst begnügte es sich damit, ein Schandfleck zu sein. Plakate für lokale DJ s schälten sich von seinen mit Brettern vernagelten Fenstern. Nachdem er sich eine Weile lang umgeblickt hatte, zog Cal die Tür wieder zu. Er stand schweigend da und hörte sein Herz klopfen. Aber es war niemand draußen gewesen, und hier drin war auch keiner, außer ihm. Dreiundzwanzig Uhr vierunddreißig. Er trat von der Tür weg und sah im Büro nach.
Büro. Gebäude. Solche Worte konnte man so lange stehenlassen, bis man mit der Realität konfrontiert wurde.
Denn das Büro war ein besserer Besenschrank und »Gebäude« eine übertriebene Bezeichnung für ein Lagerhaus: fensterlose Backsteinmauern im Erdgeschoss, Holz im ersten Stock, als wären den Erbauern die Backsteine auf halbem Weg ausgegangen. Es war neuer als das, was vorher an der gleichen Stelle gestanden hatte, aber mehr fiel einem an Komplimenten nicht ein. Wie die ehemalige und zukünftige Kneipe auf der anderen Straßenseite saß die ganze Gegend im Grunde die Zeit aus, bis sie möglicherweise in einen Aufwind geriet. Aber das konnte noch dauern. DataLok war eine Billigfirma, und zwar noch schrottiger, als man auf den ersten Blick vermutete. Der Firmenkatalog war reine Makulatur.
Cal schwang die Taschenlampe in großen, lockeren Schleifen. Im Büro war niemand. Schon gar kein Wachhund, von dem ein Schild am Haupttor warnend verkündete, dass er rund um die Uhr auf dem Gelände herumlief, aber das Schild hatte nur £ 4,99 gekostet, viel weniger als die 24-Stunden-Präsenz des Wachhundes.
Plötzlich hörte er etwas im nördlichen Korridor. Ein Schlurfen, als wäre ein Absatz gegen die Bodenfliesen gestoßen.
Cals Herz meldete sich laut und deutlich. Poch-poch, poch-poch, poch-poch. Genau wie sonst, nur doppelt so laut und viermal so schnell.
Noch vierundzwanzig Minuten bis zu seinem Check-in-Anruf. Wobei er sich natürlich früher melden konnte; schließlich war er zu Tode erschrocken.
Und so würde dieses Gespräch ablaufen:
»Ich glaube, ich habe ein Geräusch gehört.«
»Sie glauben, Sie haben ein Geräusch gehört.«
»Ja, im Gang. Als könnte da jemand sein. Aber ich habe nicht nachgesehen. Oh, und die Tür war geöffnet, aber vielleicht habe ich sie offen gelassen, als ich eine rauchen war. Würden Sie Verstärkung schicken?«
(Mit Kampf‌training, Utility-Belts und Kevlarwesten.)
Doch selbst ein ziemlicher Scheißjob war besser als gar keiner, und Cal hatte wirklich keine Lust, sein sicheres Einkommen zu verlieren, weil ein Eichhörnchen hereingeschlüpft war. Er wog seine Taschenlampe in der Handfläche seiner Rechten. Sie fühlte sich hart genug an, ein bisschen wie ein Gummiknüppel, und entsprechend beruhigt trat er aus dem Büro und in den Korridor, der nach Norden ging und an dessen Ende sich die Treppe befand.
Die Gänge verliefen an den Außenmauern des Gebäudes entlang. Im unteren Stockwerk befand sich das Büro, in dem die Sicherheitskräfte – er selbst und ein 71-jähriger Ex-Bulle namens Brian – ihre Sachen aufbewahrten; im oberen Stockwerk lag ein Technikraum, von dem aus alle Vorgänge im Haus gesteuert wurden. Das übrige Gebäude war ein Labyrinth von Lagerräumen: Abgesehen von der Nummer, die über jedem Eingang angebracht war, sahen sie alle gleich aus. Sie klangen auch gleich: Ein ständiges Summen lag in der Luft. Das Geräusch von Informationen, die darauf warteten, genutzt zu werden.
Das hatte er einmal einen aus der EDV sagen hören.
Er war auf halbem Weg durch den Flur, als die Lichter ausgingen.
»Nie von ihm gehört.«
»Ach, so ein Quatsch!«
So kannte er den alten Herrn gar nicht. Ich lass das mal besser, dachte River, der inzwischen bei seinem dritten Glas angekommen war. Er erwiderte: »Nein, echt, in all den Jahren, in denen du mir schon deine Spionagegeschichten erzählst, hast du nie etwas von einem Alexander Popow gesagt.«
Das brachte ihm einen scharfen Blick ein. »Ich habe keine Geschichten erzählt, River. Ich habe dich ausgebildet. Zumindest war das immer meine Absicht.«
Denn hätte der O.B. jemals vermutet, dass er sich in einen alten Schwätzer verwandelt hatte, hätte das etwas tief in seinem Inneren zerstört.
River sagte: »Das meinte ich doch. Aber Popow hat bisher in meiner Ausbildung keine Rolle gespielt. Ich schätze, er gehört zum Moskauer Kreis, oder? Einer seiner geheimen Zauberer, der hinter den Kulissen die Fäden zog?«
»Achte nicht auf den Mann hinter dem Vorhang«, zitierte der O.B. »Gar nicht so schlecht. Aber nein, das war er nicht. Er war ein Gespenst, Schall und Rauch, mehr nicht. Wenn Informationen harte Währung waren, hatten wir über Popow nie mehr als einen Schuldschein. Niemand hat ihn je identifiziert, und zwar, weil er nicht existierte.«
»Aber wie kommt es dann …«, begann River, hielt dann aber inne. Fragen zu stellen, ist gut. Eine frühe Lektion. Wenn du etwas nicht weißt, frage. Aber bevor du fragst, versuche, selbst eine Antwort zu finden. Er sagte: »Also waren Schall und Rauch Absicht. Er wurde erfunden, damit wir jemanden jagten, den es nicht gab.«
Der O.B. nickte anerkennend. »Er war der angebliche Chef eines Spionagerings, der sein eigenes fiktives Netzwerk leitete. Und wir sollten uns darin verstricken. Wir haben im Krieg etwas Ähnliches getan. Operation Hackfleisch. Und eine der Lektionen, die wir daraus gelernt haben, war, dass man sehr viele Einzelheiten entdecken kann, wenn man etwas unbedingt glauben möchte. Du weißt doch, wie der Nachrichtendienst funktioniert, River. Die Jungs und Mädels im Hintergrund bevorzugen Legenden gegenüber der Realität. Die Wahrheit geht einen geraden Weg, aber sie schauen gerne um die Ecke.«
River war es gewöhnt, die Falten in den Gesprächen mit seinem Großvater auszubügeln. »Aber selbst wenn die Informationen, die ihr erhalten habt, gefälscht waren, bedeutete das nicht, dass sie nutzlos für euch waren.«
»Wenn die Moskauer Zentrale sagte: ›Seht euch das an‹, war es sinnvoll, in die andere Richtung zu schauen«, stimmte der O.B. zu. Dann fügte er hinzu: »Es war alles ein Spiel, nicht wahr?«, in einem Ton, als sei er auf ein lange verborgenes Geheimnis gestoßen. »Und sie spielten es noch, als alles andere, was sie besaßen, auf dem Wühltisch gelandet war.«
Das Feuer knisterte, und der alte Mann wandte sich ihm zu. River beobachtete ihn liebevoll und dachte, was er oft dachte, wenn sie sich mit solchen Themen beschäftigten: dass er sich wünschte, er hätte damals gelebt. Hätte eine wichtige Rolle gespielt. Es war unter anderem dieser Wunsch, der dazu beitrug, dass er in Slough House blieb und für Jackson Lamb den Kasper machte. Er sagte: »Es gab doch bestimmt eine Akte. Über Alexander Popow. Auch wenn sie aus lauter Märchen bestand. Was enthielt sie?«
Der O.B. sagte: »Mein Gott, River, ich habe seit Jahrzehnten nicht mehr daran gedacht. Lass mich mal überlegen.« Wieder blickte er ins Feuer, als erwarte er, dass Bilder aus den Flammen aufstiegen. »Es war Flickwerk. Der Quilt einer alten Frau. Aber wir hatten seinen Geburtsort. Oder jedenfalls das, was man uns als seinen Geburtsort glauben machen wollte. Doch das lassen wir jetzt mal beiseite. Es hieß, er sei aus einem der Sperrgebiete gekommen, einer geheimen Stadt. Weißt du über die geheimen Städte Bescheid?«
»So ungefähr.«
»Das waren militärische Forschungsstationen, die von der Zivilbevölkerung versorgt wurden. Die Stadt, aus der er kam, lag in Georgien. Sie hatte keinen Namen, nur eine Nummer. ZT /53235 oder so ähnlich. Mit vielleicht dreißig-, dreiunddreißigtausend Einwohnern. Die Crème waren wissenschaftliche Mitarbeiter, die von einer Dienstleistungsindustrie unterstützt wurden, und Militärs, um die Wissenschaftler unter Kontrolle zu halten. Wie die meisten dieser Niederlassungen wurde auch diese in den Nachkriegsjahren gegründet, als das sowjetische Atomprogramm mit großer Dringlichkeit vorangetrieben wurde. Daran wurde in dieser Stadt gearbeitet, weißt du. Sie war … nicht organisch gewachsen. Sie war speziell für diesen Zweck erbaut worden. Eine Plutonium-Produktionsanlage.«
»ZT /53235?«, fragte River, der gerne sein Gedächtnis trainierte.
Sein Großvater sah ihn an. »Oder so ähnlich.« Er wandte sich wieder dem Feuer zu. »Die hatten alle solche Namen.« Dann straffte er den Rücken und stand auf.
»Großvater?«
»Es ist nur ein … alles in Ordnung. Kein Problem.« Der alte Mann griff in den Holzkorb seitlich neben dem Kamin und zog einen langen trockenen Ast aus dem Bündel Anzündholz. »Na komm, Kleiner«, murmelte er. »Holen wir dich mal da raus.« Er hielt den Ast in die Flammen.
Er hatte einen Käfer gesehen, erkannte River. Eine Kellerassel, die blind auf dem obersten Scheit der brennenden Pyramide krabbelte. Trotz der Hitze blieb die Hand seines Großvaters ruhig, als er sich nach vorne lehnte und das Ende des Asts so positionierte, dass der Käfer auf seiner nächsten Runde automatisch dorthin gelangen würde. Daraufhin würde sich das sterbende Geschöpf vermutlich dankbar nach oben hangeln wie an einem Seil, das aus einem Hubschrauber baumelte. Was war Käfersprache für deus ex machina ? Aber der Käfer hatte keine Worte, weder lateinische noch sonst welche, und wich der angebotenen Fluchtmöglichkeit aus. Stattdessen krabbelte er zum obersten Punkt des Holzscheits, wo er für einen Moment balancierte und dann in Flammen aufging. Rivers Großvater gab keinen Kommentar dazu ab. Er ließ den Zweig einfach ins Feuer fallen und nahm wieder in seinem Sessel Platz.
River setzte schon zu einer Bemerkung an, räusperte sich aber stattdessen nur.
Der alte Mann sagte: »Das war noch zu Charles’ Zeiten, und er hat sich am Ende ziemlich darüber aufgeregt. Seiner Ansicht nach verschwendeten wir unsere Zeit mit nutzlosen Spielereien, obwohl wir immer noch im Krieg waren, falls das niemandem aufgefallen sein sollte.« Die Stimme des O.B. veränderte sich bei diesen Worten; er erlaubte sich den harmlosen Spaß, jemanden zu imitieren, den sein Zuhörer nie kennengelernt hatte.
Charles Partner war, vor langer Zeit, Chef des MI 5 gewesen.
»Und Popow war also der Mann, von dem Dickie Bow behauptete, er sei von ihm entführt worden.«
»Ja, aber fairerweise muss man dazu sagen, dass zu dem Zeitpunkt, als Dickie uns seine Geschichte auftischte, noch nicht hundertprozentig klar war, ob Popow existierte oder nicht. Er muss Dickie damals wie ein ziemlich gutes Alibi für seine Eskapaden erschienen sein, was auch immer das für welche waren. Wahrscheinlich Trinken und Rumhuren. Als ihm klarwurde, dass seine Abwesenheit Aufmerksamkeit erregt hatte, erfand er eben diese Geschichte. Von seiner Entführung.«
»Und was soll Popow von ihm gewollt haben? Ich meine, ein kleines Licht wie ihn zu entführen …«
»Dickie erzählte überall herum, er wäre gefoltert worden. Da die Folter jedoch darin bestanden habe, dass man ihn gewaltsam betrunken machte, hatte er Schwierigkeiten, Mitgefühl zu erregen. Apropos trinken …«
Aber River schüttelte den Kopf. Noch mehr, und er würde es morgen früh büßen müssen. Außerdem musste er bald nach Hause.
Zu seiner Überraschung füllte sein Großvater sein eigenes Glas wieder auf. Dann sagte er: »Diese geheime Stadt. Die, aus der Popow angeblich kam.«
River wartete.
»Sie ist 1955 von der Karte verschwunden. Oder besser: Sie wäre verschwunden, wenn sie sich auf einer Karte befunden hätte.« Er sah seinen Enkel an. »Geheime Städte existierten offiziell nicht, so dass nicht viel Bürokratie involviert war. Keine Fotos, die retuschiert oder Enzyklopädie-Seiten, die ersetzt werden mussten.«
»Was ist passiert?«
»Irgendein Unfall in der Plutoniumanlage. Unserer Meinung nach musste es einige Überlebende gegeben haben. Natürlich gab es keine offiziellen Zahlen, denn offiziell ist nie irgendetwas passiert.«
River fragte: »Dreißigtausend Menschen?«
»Wie ich schon sagte. Ein paar Überlebende gab es.«
»Und euch wollte man glauben machen, dass Popow einer von ihnen war«, sagte River. Im Geiste sah er eine Szene aus einem Comic vor sich: einen Rächer, der sich aus den Flammen erhob. Doch was gab es nach einem Betriebsunfall zu rächen?
»Ja, vielleicht war das ihre Absicht«, fuhr sein Großvater fort. »Aber die Zeit lief ihnen davon. Unser Netz wurde engmaschiger, nachdem die Mauer gefallen war. Wenn Popow aus Fleisch und Blut gewesen wäre, hätte ihn einer der größeren Fische geopfert. Wir hätten seine ganze Biographie besessen, mit allem Drum und Dran. Aber uns blieben weiterhin nur einzelne Bruchstücke; er glich einer unfertigen Vogelscheuche. Ein großmäuliger Reporter hat einmal bei einem Debrief‌ing seinen Namen fallenlassen, aber das wurde zu diesem Zeitpunkt als Beweis seiner Unwissenheit angesehen, weil niemand mehr an diesen Popow glaubte.«
Nachdem er geendet hatte, wandte sich der O.B. vom Feuer ab. Der Schein der Flammen betonte die Falten in seinem Gesicht, so dass er einem alten Indianerhäuptling glich, und ein Stich durchfuhr River, als er erkannte, dass es nicht noch viele weitere Abende wie diesen geben würde; und dass es doch irgendetwas geben musste, was er tun konnte, um ihr Ende hinauszuzögern. Aber es gab nichts, und es würde nie etwas geben. Das zu erkennen, war eine Sache. Damit zu leben, eine ganz andere.
Sorgfältig darauf bedacht, sich seine Gedanken nicht anmerken zu lassen, fragte er: »In welchem Zusammenhang hat er seinen Namen erwähnt?«
»Es ging um ein Codewort. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie es lautete.« Der alte Mann sah wieder in sein Glas. »Manchmal frage ich mich, wie viel ich vergessen habe. Wobei ich nicht glaube, dass das jetzt noch von Bedeutung ist.«
Schwächen einzugestehen, war sonst nicht seine Art.
River stellte sein Glas beiseite. »Es ist schon spät.«
»Ich hoffe, du plauderst nicht nur mit mir, um mir einen Gefallen zu tun.«
»Das würde ich niemals wagen. Nicht ohne kugelsichere Weste.«
»Pass auf dich auf, River.«
Perplex fragte River: »Warum sagst du so was?«
»Die Laterne am Ende der Straße ist kaputt. Von da aus bis zum Bahnhof ist es ganz schön dunkel.«
Womit er vollkommen recht hatte, wie sich herausstellte. Obwohl River nicht glaubte, dass sein Großvater tatsächlich den Weg zum Bahnhof gemeint hatte.
Cal Fenton war froh, dass niemand da war, der ihn wie ein Mädchen im Dunkeln aufschreien hörte:
»Oh, mein Gott!«
Andererseits befürchtete er durchaus, dass jemand da sein könnte.
Es war kein Generatorausfall. Die Computer brummten; die Riesenmengen an Informationen ruhten sicher und gemütlich in elektronischen Kokons. Die Beleuchtung hatte ihren eigenen Stromkreis, und möglicherweise war es nur ein Stromausfall, aber noch während Cals Verstand sich an diese Möglichkeit klammerte, gestand sein Darm ein, dass ein Stromausfall, zwei Minuten nachdem er die offene Tür bemerkt und ein Schlurfen gehört hatte, ziemlich unwahrscheinlich war.
Der Flur lag verlassen vor ihm, bevölkert von nichts als Schatten, die größer und fließender waren als sonst. Die Treppe führte in noch tiefere Schwärze empor. Cals Atmung beschleunigte sich, und er umklammerte die Taschenlampe fester, als er hinaufblickte. Er hatte keine Ahnung, wie lange er dort so stand: fünfzehn Sekunden, zwei Minuten? Doch egal, wie lange, es endete, als er plötzlich Schluckauf bekam; ein lautes Hicksen tief aus dem Bauch heraus, das wie ein Quietschen rauskam – und Cal wollte sich auf keinen Fall einem Eindringling stellen müssen, der soeben dieses Geräusch gehört hatte. Er drehte sich um. Der Flur hinter ihm war ebenfalls verlassen. Als er sich auf den Rückweg machte, verfiel er in einen Laufschritt, genauso unbeabsichtigt, wie er eben wie angewurzelt stehen geblieben war. So reagierte Cal im Notfall – er tat, was auch immer sein Körper ihm sagte. Bleib stehen. Schwenk die Taschenlampe. Lauf.
Gefahr. Aufregung. Eine unerbittliche Abhängigkeit von seinen eigenen körperlichen Fähigkeiten …
Zurück im Büro betätigte er den Lichtschalter, aber nichts geschah. Das Telefon hing an der gegenüberliegenden Wand. Er wechselte die Taschenlampe von der rechten in die linke Hand, griff nach dem Hörer, und dieser schmiegte sich in seinen Griff wie eine ergonomisch geformte Babyflasche. Aber das tröstliche Gefühl währte nicht lange. Im Ohr tat sich nichts; er hörte nicht einmal das ferne Meeresrauschen einer unterbrochenen Verbindung. Er stand auf, die Taschenlampe leuchtete ziellos irgendwohin. Die Tür, das vermeintliche Geräusch, die Beleuchtung, jetzt das Telefon. Zusammengenommen der Beweis, dass er auf keinen Fall mehr allein im Gebäude war.
Behutsam legte er den Hörer auf. Sein Mantel hing an der Rückseite der Tür, und in der Tasche war sein Handy. Nein, da war es nicht.
Als Erstes wühlte Cal alle Taschen noch einmal durch, diesmal etwas schneller, und dann noch einmal, jetzt langsamer. Die ganze Zeit über raste sein Verstand auf verschiedenen Ebenen. Auf einer überlegte er genau, was er alles getan hatte, bevor er zur Arbeit gegangen war, checkte er die Negative aus dem Fotoalbum seines Gedächtnisses, falls sie offenbarten, wo er sein Handy gelassen hatte. Auf einer anderen Ebene ging er durch, was er über das Gebäude wusste. »Info-Dump« nannten die Techniker das, was hier gemacht wurde. Dumping, so hatte er gelernt, war das, was man mit einer nahezu unendlichen Menge an digitalem Wissen tat, das niemand je wieder brauchen würde, es sei denn unter dubiosen Umständen, die mit Anwälten einhergingen. Ohne diese Möglichkeit wäre das hier gelagerte digitale Archiv längst gelöscht worden – wobei das Wort gelöscht in diesem Zusammenhang nicht gefallen war. Released hatte es geheißen, freigelassen, wodurch er die Assoziation von Informationen hatte, die wie eine Taubenschar fliegen gelassen wurden und sich unter Beifall in die Lüfte schwangen …
Das Handy war nirgendwo zu finden. Jemand war während Cals Schicht ins Gebäude eingedrungen, hatte die Beleuchtung ausgeschaltet, das Festnetz lahmgelegt, sein Handy gestohlen. Es war unwahrscheinlich, dass die Eindringlinge danach heimlich, still und leise wieder verschwunden waren.
Der Strahl seiner Taschenlampe flackerte, als wollte sie sich als Nächstes verabschieden. Cals Kehle war trocken, und sein Herz klopfte. Er musste das Büro verlassen und durch die Flure patrouillieren; nach oben gehen und das unbeleuchtete Labyrinth mit all seinem gespeicherten Wissen überprüfen, und all das musste er mit einem grauenvollen Chor im Hinterkopf tun, der unablässig wiederholte:
Manchmal lohnt es sich, für Informationen zu töten.
Aus dem Flur, in dem sich die Schatten verborgen hielten, ertönte das Quietschen von Gummisohlen auf PVC -Boden.
Und wenn es sich lohnte, für Informationen zu töten, dachte Cal Fenton, musste im Allgemeinen jemand sterben.
Ein ruhiger Abend zu Hause, dachte Min Harper.
Verdammte Scheiße!
Er schenkte sich einen Drink ein und überblickte seine Residenz.
Dazu brauchte er nicht lange.
Dann setzte er sich auf sein Sofa, das auch sein Bett war, aber wenn man es genau nahm, war beides nicht seines, denn er hatte es mit der Einzimmerwohnung gemietet. Der Raum war L-förmig: Auf der kurzen Seite des L stand die Kochnische (eine Spüle; eine Mikrowelle auf einem Kühlschrank; ein Wasserkocher auf einem Regal), während in der längeren Wand zwei Fenster waren, durch die man auf die gegenüberliegenden Häuser blickte. Nach seinem Einzug in das möblierte Zimmer hatte Min wieder mit dem Rauchen angefangen; er tat es nicht in der Öffentlichkeit, aber am Abend lehnte er sich aus dem Fenster und qualmte. In einem der Häuser gegenüber tat ein Junge oft dasselbe, und sie winkten einander zu. Er sah aus wie etwa dreizehn, genau wie Mins Ältester, und der Gedanke, dass Lucas vielleicht auch rauchte, versetzte Min einen Stich in die linke Lunge. Nichts dergleichen spürte er in Bezug auf dieses fremde Kind. Er vermutete, wenn er noch zu Hause gewohnt hätte, hätte sich sein Verantwortungsbewusstsein gemeldet, und er hätte mit den Eltern des Kindes gesprochen. Aber wenn er noch zu Hause gewohnt hätte, hätte er nicht aus dem Fenster gehangen und geraucht, so dass sich die Situation nicht ergeben hätte.
Während er darüber nachdachte, hatte er sein Glas ausgetrunken und schenkte sich noch einmal nach, lehnte sich wieder aus dem Fenster und rauchte eine Zigarette. Die Nacht war kalt und verhieß Regen zu späterer Stunde. Der Junge war nicht da.
Als Min fertig war, kehrte er auf das Sofa zurück. Es war kein besonders bequemes Sofa, aber das Bett, zu dem man es ausklappte, war auch nicht bequem, also war es zumindest konsequent. Und seine Enge war nur ein Grund, warum Min normalerweise Louisa nicht mit zu sich nahm; andere Gründe waren die Küchendünste, die sich die ganze Nacht hielten, der sich wellende Boden im Badezimmer am Ende des Flurs, der Borderline-Psycho in der Wohnung darunter … Min wusste, dass er etwas ändern und sein Leben wieder in den Griff bekommen sollte. Es war ein paar Jahre her, dass alles den Bach runtergegangen war, ein Prozess, der begonnen hatte, als er eine Geheim-CD in der U-Bahn liegenließ und am nächsten Morgen beim Aufwachen feststellte, dass ihr Inhalt auf Radio 4 diskutiert wurde. Innerhalb eines Monats hatte er sich in Slough House wiedergefunden. Seine Ehe war kurz darauf in die Brüche gegangen. Andererseits, so sagte er sich manchmal, hätte seine Ehe seinen beruflichen Niedergang überlebt, wenn sie von vornherein stabil gewesen wäre, doch die Wahrheit, so hatte er erkannt, war noch schlichter. Wäre er selbst stark gewesen, hätte er dafür gesorgt, dass seine Ehe überlebt hätte. Doch wie auch immer: Seine Ehe gehörte definitiv der Vergangenheit an, seitdem Louisa auf der Bildfläche erschienen war. Er war sich ziemlich sicher, dass Clare diese spezielle Entwicklung nicht tolerieren würde, und obwohl er ihr nichts davon erzählt hatte, war er nicht überzeugt, dass sie es nicht wusste. Frauen waren geborene Spioninnen und konnten Verrat riechen, noch bevor er sich ereignete.
Sein Glas war wieder leer. Als er sich nachschenkte, hatte er eine plötzliche Vision seiner Zukunft, in der alles genauso blieb; eine, in der er für immer in diesem seelenfressenden Apartment hockte und nie mehr aus dem karrieretötenden Slough House rauskam. Und er wusste, dass er das nicht zulassen durfte. Die Missgeschicke seiner Vergangenheit waren gesühnt worden: Jeder konnte mal einen Fehler machen, oder? Dieser Olivenzweig aus dem Regent’s Park in Form von Spider Webbs Gipfeltreffen; alles, was er tun musste, war, ihn zu ergreifen und sich an Land zu ziehen. Wenn dies ein Test war, wollte er ihn bestehen. Nichts für bare Münze nehmen, das musste sein Mantra sein. Er würde davon ausgehen, dass alles eine verborgene Bedeutung besaß, und weiterforschen, bis er herausfand, was es war.
Und er durfte niemandem trauen. Das war das Wichtigste. Vertraue niemandem.
Außer Louisa, natürlich. Er vertraute Louisa vollkommen.
Was nicht hieß, dass er sie auf dem Laufenden halten musste.
Nachdem River gegangen war, kehrte im Haus Stille ein, so dass sein Großvater David Cartwright noch einmal über ihr Gespräch nachsinnen konnte.
Grundgütiger!
ZT /53235 hatte er gesagt, und River hatte die Kombination geistesgegenwärtig wiederholt. Er würde sie auch nicht wieder vergessen, denn River konnte sich schon von klein auf Telefonnummern, Autokennzeichen und Testspielergebnisse auf den ersten Blick merken und noch Monate später fehlerfrei wiederholen. Cartwright redete sich gerne ein, dass der Junge dieses Talent von ihm geerbt habe; auf jeden Fall hatte er River dazu angeregt, es zu entwickeln. Früher oder später würde er sich garantiert fragen, wie es sein konnte, dass sein Großvater diese komplizierte Bezeichnung ohne weiteres nennen konnte, obwohl er andererseits explizit auf Erinnerungslücken hingewiesen hatte.
Doch in seinem Alter hatte man sich zwangsläufig daran gewöhnt, dass man auf manches einfach keinen Einfluss hatte. Daher archivierte David Cartwright diesen Vorfall in einer Gedächtnisschublade und beschloss, sich nicht davon irritieren zu lassen.
Das Feuer ging langsam aus. Diese Kellerassel: Sie war in offenkundiger Angst umhergeirrt und hatte sich in letzter Sekunde in die Flammen geworfen, als ob der Tod den Momenten vorzuziehen wäre, in denen man auf ihn wartete. Und das bei einer Assel. Dass Menschen in ähnlichen Situationen zu dem gleichen Schluss gekommen waren, war ein Thema für Fernsehdokumentationen, jedoch nicht für David Cartwright. Sein Gedächtnis war voller Schubladen, die er geschlossen hielt.
Etwa Alexander Popow. Wenn er diesen Namen seinem Enkel gegenüber nie erwähnt hatte, dann aus genau dem Grund, den er ihm genannt hatte: nämlich, dass er seit über einem Jahrzehnt keinen Gedanken mehr an diese Person verschwendet hatte. Und auch die Begründung dafür hatte der Wahrheit entsprochen: Popow war eine Legende und existierte nicht. Was Dickie Bow betraf, so war er eindeutig ein Trunkenbold gewesen, der erkannt hatte, dass sich sein Nutzen für den Service in Grenzen hielt. Seine angebliche Entführung war ein letzter Versuch gewesen, eine Rente einzustreichen. Dass er in einem Bus ohne gültigen Fahrausweis gestorben war, erschien Cartwright als nicht abwegiges Ende. Im Gegenteil, mit dergleichen war von vornherein zu rechnen gewesen.
Doch Jackson Lamb schien anderer Meinung zu sein, und das Problem mit diesem alten Hasen war nicht etwa, dass in den letzten Jahren sein Lebenszweck darin bestanden hatte, sich Methoden auszudenken, um seine lahmen Gäule zu quälen. Nein, das typische Problem mit ihm wie auch den anderen alten Schnüfflern war, dass er, sobald er es sich in den Kopf gesetzt hatte, an einem Faden zu ziehen, nicht damit aufhören würde, bis er den ganzen verdammten Wandteppich aufgeribbelt hatte. Und David Cartwright hatte so viele Wandteppiche gesehen, dass es schwer zu sagen war, wo der eine begann und der andere aufhörte.
Er nahm sein Glas wieder in die Hand, stellte es aber ab, als er merkte, dass es leer war. Noch ein Drink, und er würde eine Stunde lang schlafen wie ein Toter und anschließend bis zum Morgen wach liegen. Wenn es etwas gab, das er am Jungsein vermisste, dann diese Mühelosigkeit, in tiefes Vergessen zu sinken, wie ein Eimer, der in einen Brunnen fiel und dann langsam und aufgefüllt wieder hochgezogen wurde. Es war eine dieser Gaben, von denen man nicht wusste, dass man sie besaß, bis sie einem genommen wurden.
Doch im Alter hatte man nicht nur gelernt, dass sich manches dem eigenen Einfluss entzog, sondern auch, dass sich Dinge änderten, ohne dass man davon erfuhr.
Alexander Popow war eine Legende gewesen, dachte Cartwright. Alexander Popow hatte nicht existiert.
Er fragte sich, ob das immer noch der Fall sei.
Er starrte noch einige Zeit in das sterbende Feuer. Aber wie es mit sterbenden Dingen so geht, enthüllte es nichts, was er nicht bereits wusste.