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Die Wentworth Academy of the English Language hatte zwei Niederlassungen. Der Hauptsitz, wie er in der Hochglanzbroschüre dargestellt wurde, war ein stattlicher Herrensitz, der jedem, der sonntagabends schon mal BBC geschaut hatte, unterschwellig vertraut war: ein vierstöckiges, zinnenbewehrtes Wunder mit sage und schreibe 36 Zimmern, weitläufigen Rasenflächen, einem Goldfischteich, Tennisplätzen, einem Crocketrasen und einem Wildpark. Die zweite Niederlassung, deren einziger Vorzug gegenüber der ersten war, dass es sich um die eigentliche Akademie handelte, bestand aus zwei Büros im dritten Stock über einem Schreibwarenladen etwas außerhalb von High Holborn, und hätte es eine Broschüre gegeben, hätte sie einer schimmeligen Decke, gesprungenen Fensterscheiben, einem Elektroofen, der auf höchster Einstellung den umgebenden Putz versengte, und einem schlafenden Russen Rechnung tragen müssen.
Die Heizung war ausgeschaltet, als Lamb in der Türöffnung erschien. Schweigend musterte er die Szenerie: Bücherregale, die mit Dutzenden von Kopien derselben Broschüre gefüllt waren, drei gerahmte Diplome an der Wand über dem Kaminsims, Aussicht auf eine Backsteinwand durch die gesprungenen Fenster und zwei Telefone auf dem Schreibtisch, auf dem sich der schlafende Russe fläzte, beide mit Wählscheiben, das eine schwarz, das andere cremefarben. Sie waren kaum sichtbar unter Stapeln von etwas, das man höflicherweise als Papierkram hätte bezeichnen können, aber in Wirklichkeit eher Papiermüll war. Plakate und Flyer umliegender Pizzerien und Minicab-Unternehmen und einer für jemanden, der anscheinend neu in der Stadt war und eine feste Hand brauchte. Unter den Schreibtisch geschoben, aber nicht ganz unsichtbar, lugten ein zusammengeklapptes Feldbett und ein schmutziges Kissen hervor.
Als er sich sicher war, dass der Mann sich nicht nur schlafend stellte, fegte Lamb einen Stapel Broschüren auf den Boden.
»Fkrah!«
Der Russe sprang auf wie ein Mann, dem Alpträume vertraut waren. Sein Name war Nikolai Katinsky. Im Aufspringen griff er irgendetwas vom Schreibtisch, aber es war nur ein Brillenetui; eine kleine Stütze, um sich im Wachzustand und damit der Realität zu verankern. Halb aufgerichtet hielt er inne und ließ sich wieder auf den Stuhl fallen, der gefährlich knarrte. Er legte das Brillenetui beiseite und hustete ein paarmal. Dann fragte er: »Und mit wem habe ich die Ehre?«
»Ich komme wegen des Geldes«, sagte Lamb.
Es war sich ziemlich sicher, dass Katinsky Schulden hatte und dass früher oder später jemand kommen würde, um sie einzutreiben.
Katinsky nickte nachdenklich. Er war glatzköpfig oder jedenfalls beinahe – ein schmaler Ring weißer Stoppeln umkränzte seine Ohren –, und vermittelte den Eindruck von gespannter Energie, von Emotionen, die in Schach gehalten wurden; genau das gleiche Gefühl hatte Lamb beschlichen, als er sich das Video von ihm angesehen hatte, das vor achtzehn Jahren durch einen Einwegspiegel in einer der Luxussuiten von Regent’s Park gedreht worden war. Kleiner Scherz. Diese Räume lagen unterirdisch, und dort fanden die ernsthafteren Debrief‌ings des Service statt; diejenigen, die später möglicherweise aus taktischen Gründen niemals stattgefunden hatten. Doch dieser Mann war in den Jahren seitdem geschrumpft, als hätte er sich kürzlich einer Radikaldiät unterzogen, ohne sich eine neue Garderobe zuzulegen. Die Haut um die Kinnlinie hatte sich gestrafft, dafür schien sie an anderen Stellen runterzuhängen. Als er mit dem Nicken fertig war, fragte er: »Jamals Geld? Oder Demetrios’ Geld?«
Lamb warf im Geiste eine Münze und sagte: »Demetrios’«
»Is’ klar. Sag dem scheiß Drecksgriechen, er soll sich sein Geld in den Arsch schieben. Am Monatsersten, so war die Vereinbarung.«
Lamb fand seine Zigaretten. »Den Teil mit dem In-den-Arsch-Schieben lasse ich mal lieber weg«, sagte er. Er betrat das Büro, hakte ein Bein um einen Stuhl und kippte dessen Ladung aus Hut, Handschuhen und Guardians zu Boden. Dann nahm er darauf Platz, knöpfte seinen Mantel auf und wühlte nach seinem Feuerzeug. »Glaubt eigentlich irgendjemand diesen Schulquatsch?«
»Ach, soll das etwa eine Unterhaltung werden?«
»Ich muss so lange bleiben, dass Demetrios glaubt, wir hätten über Vor- und Nachteile der steuerlichen Absetzbarkeit von Immobilien gesprochen.«
»Er ist draußen?«
»Im Auto. Unter uns gesagt, er könnte sich mit dem Monatsersten zufriedengeben.« Lamb fand sein Feuerzeug und zündete seine Zigarette an. »Du standest heute nicht auf der Liste. Wir sind nur zufällig vorbeigekommen.«
Er war selbst überrascht, wie leicht ihm das noch immer fiel: ad hoc eine Legende zu konstruieren. In zehn Minuten würde Katinskys heutiges Leben wie ein Hähnchengericht aus dem Take-away zwischen ihnen ausgebreitet sein. Und sobald Lamb die Knochen herauspräpariert hatte, konnte er zum Kern der Sache vordringen.
Katinskys Debrief‌ing war nicht wirklich ernst gemeint gewesen. Sie hatten ihn aus dem Kehricht gelesen, dem Exodus kleinerer Schnüffler, ausgelöst durch den Zerfall der Sowjetunion, die alle verzweifelt danach strebten, alle möglichen Geheimdienstinformationen in eine härtere Währung umzutauschen. Es waren kaum hochrangige Kandidaten unter ihnen. Aber alles musste durchgenudelt und auf der anderen Seite rausgeschmissen werden, und einige schickte man sogar zurück, um zu beweisen, dass es so etwas wie eine Gratisfahrt nicht gab.
Diejenigen, die bleiben durften, erhielten eine kleine Pauschale und einen drei Jahre gültigen Pass, der sie jedes Mal, wenn dessen Verlängerung anstand, zum Schwitzen brachte. Es war immer praktisch, wie Lambs Mentor Charles Partner einmal bemerkt hatte, einen Vorrat an entbehrlichen Russen auf der Gehaltsliste zu haben. Abgesehen von allem anderen, wusste man nie, wann sich das Rad wieder drehen würde, um die Welt auf den Stand von vorher zurückzubringen. Wann »vorher« war, wusste jeder. Der Kalte Krieg war zum Normalzustand geworden.
Katinsky jedenfalls war unter den Glücklichen gewesen. Und man musste sich bloß ansehen, was aus ihm geworden war: der einst kleine Schnüffler, der seine eigene »Schule« betrieb … Lamb schätzte ihn auf Ende sechzig. Seine Arme reckten sich aus verschiedenen Ärmeln: Tweedjacke aus der Rot-Kreuz-Kleiderkammer, löchriger, grauer V-Ausschnitt-Pulli, schmuddeliges weißes T-Shirt. Und es war etwas Vergammeltes an ihm, ganz unabhängig von der gebrauchten Kleidung, den fleckigen Wänden und dem schäbigen Haus. Etwas undefinierbar Vergammeltes wie die Phase zwischen dem Verfallsdatum und dem Moment, in dem die Milch sauer wird.
»Das Geschäft läuft besser, als es aussieht«, erwiderte er, um Lambs Frage nach der Schule zu beantworten. »Wir erhalten viele Anfragen. Über das Internet. Schüler aus dem Ausland. Sie würden sich wundern.«
»Du würdest dich wundern, wie wenig mich wundert. Was heißt ›wir‹?«
»Pluralis majestatis.« Katinsky lächelte schmallippig und zeigte graue Zähne. »Die Schule ist derzeit voll ausgelastet, aber wir können noch Plätze für unseren ergänzenden Unterricht anbieten. Eine Art Fernstudium.«
Lamb fuhr mit dem Daumen über einen Stapel von dickem Papier auf dem nächsten Regal in Reichweite und nahm das oberste Blatt herunter. Ein Diplom: Fortgeschrittenenkurs stand darauf, in den Fächern und darunter drei Reihen von gepunkteten Linien. Behördlich anerkannt wurde in einem kleinen rosettenförmigen Logo vermeldet, ohne zu präzisieren, von welcher Behörde und inwiefern anerkannt.
Katinsky sagte: »Ab und zu gibt es Beschwerden von unzufriedenen Schülern, das kommt vor. Aber man darf nicht vergessen, wer die Querulanten sind. Neulich kam ein Brief von einem so minderbemittelten Kretin, dass er nicht mal wusste, wie man Kretin schreibt. Und da soll mich interessieren, was er denkt?«
»Ich dachte, den Kretins das Schreiben beizubringen, wäre deine Aufgabe«, erwiderte Lamb.
»Solange sie die Schecks unterschreiben«, antwortete Katinsky. »Wundert sich Demetrios nicht allmählich, wo Sie bleiben?«
»Er liest bestimmt Zeitung. Oder bohrt sich in der Nase. Du kennst doch Demetrios.«
»Aber nicht so gut wie du.«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Was seltsam ist, denn ich bin derjenige, der ihn erfunden hat. Bist du jetzt fertig mit deinen Spielchen, Jackson Lamb? Und wenn ja, würdest du mir sagen, was du von mir willst?«
Viel früher an diesem Tag war der hellblaue Himmel von Kondensstreifen durchzogen gewesen, und Shirley Dander befand sich mitten auf dem platten Land; Schafe, Felder und ein unleugbarer Geruch nach Scheiße. Gelegentlich zogen am Straßenrand Reihen von Cottages vorbei; vor einem von ihnen stolzierte seltsamerweise ein Pfau herum. Shirley starrte ihn an, während er über die Straße fegte und um eine Hecke verschwand. Hühner, na meinetwegen, aber ein Pfau? Es war wie in einem Richard-Curtis-Film.
Nichts davon brachte sie schneller dorthin, aber zumindest wusste sie, wo sie hinwollte. Mr B – Jackson Lambs Glatzkopf – war aus dem verspäteten Worcester-Zug in Moreton-in-Marsh ausgestiegen, einem Ort, der größer war, als sein Name vermuten ließ. Er bot reichlich Einkaufsmöglichkeiten, sogar einige Outlets, in denen Shirley durchaus gerne rumgestöbert hätte. Sie hatten jedoch noch nicht geöffnet. Es war erst kurz nach sieben, und Shirley war die ganze Nacht wach gewesen.
Der Bahnhof verfügte über einen Parkplatz und einen Taxistand, der derzeit unbesetzt war. Shirley setzte sich in ein Wartehäuschen, während sich die üblichen Morgenszenen abspielten: Die Stadtpendler wurden von Ehefrauen in Jogginganzügen abgesetzt, die entnervt am Steuer ihrer SUV s saßen; mutigere Typen kamen auf Fahrrädern an, die sie an den nahegelegenen Ständer anschlossen oder zu komplizierten Vierecken zusammenfalteten. Einige arme Tröpfe tauchten sogar zu Fuß auf. Ein Taxi kam an und spuckte eine beeindruckende Blondine aus. Shirley beobachtete, wie sie lächelte und bezahlte und Trinkgeld gab und lächelte und ging, und sie schlüpfte auf den Rücksitz, ehe sich’s der Fahrer versah.
»Zug verpasst?«
»Nein, keineswegs«, erwiderte sie. »Fahren Sie nur morgens, oder übernehmen Sie auch die Abendschicht?«
Und weil sich nun ein leidender Blick über sein breites Bauerngesicht zog, schnippte sie mit den Fingern und zauberte einen Zehnpfundschein aus seinem Versteck in ihrem Uhrenarmband hervor; ein Trick, den sie bei Kellnern anwandte, wenn sie etwas taugten.
»Zum Beispiel letzte Woche. Haben Sie letzte Woche Fahrgäste hier am Bahnhof abgeholt?«
»Ärger mit dem Freund, was?«, fragte der Fahrer.
»Sehe ich so aus, als würden mir Freunde Ärger machen?«
Er streckte eine Hand aus, und sie ließ den Schein hineinfallen. Dann brachte er sie von dem hübschen kleinen Bahnhof weg, gerade als ein anderes Taxi ankam, um seinen Platz einzunehmen, und machte mit Shirley Dander eine kurze Tour durch das Dorf, während sie ihn nach Informationen über den örtlichen Taxiservice anzapfte.
Eine dicke, sehr dicke Frau watschelte vorbei: Sie konnte höchstens Anfang zwanzig sein, hatte aber für jedes Jahr mindestens sieben Kilo draufgepackt. Louisa war sie aufgefallen. Wahrscheinlich dank der Wirkung der Schwerkraft. »Wie das wohl sein muss?«
Sie saßen auf dem Steinsockel einer Säule, Kaffeebecher in der Hand. Um sie herum herrschte ein beständiges Kommen und Gehen: Leute waren auf dem Weg in die oder aus der Liverpool Street Station, bogen um die Ecke oder verschwanden in Geschäften und Bürogebäuden.
»Nicht nur, dass einem das Bewegen schwerfällt«, fuhr sie fort. »Alles andere auch. Wie soll man mit so einer Figur einen Mann finden?«
»Ach, du weißt doch«, erwiderte Min. »Jeder Topf findet seinen Deckel.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Ich kenne ein paar ziemlich einsame Frauen.«
»Na ja, wenn man zu hohe Ansprüche hat …«
Keiner der Passanten zeigte Interesse an ihnen. Doch früher oder später würde es einer tun: Spider Webb hatte ein Treffen vereinbart.
»Sie sind zu zweit«, hatte er gesagt. »Kyril und Piotr heißen sie.«
»Sind sie Russen?«, hatte Min gefragt.
»Und woran sollen wir sie erkennen?«, hatte Louisa schnell hinzugefügt.
»Oh, Sie werden sie schon noch kennenlernen«, antwortete Webb. »Paschkin kommt erst in ein zwei Wochen. Sie können mit den beiden schon mal die Fahrstrecken durchgehen. Ihnen wurde gesagt, Sie wären vom Energieministerium, egal, ob die das glauben oder nicht. Halten Sie, sie davon ab, die Füße auf die Möbel zu legen, aber versuchen Sie, sie nicht zu gängeln. Es ist nie ratsam, die Gorillas aufzumischen.«
»Gorillas?«, hatte Min gefragt.
»Sie sind etwas groß geraten«, gab Webb zu. »Das sind Schlägertypen, was dachten Sie denn? Dass er seine Pudel mitbringt?«
»Warum kommen sie schon vor ihm her?«, hatte sich Louisa erkundigt.
Doch Webb hatte keine Ahnung. »Er ist reich. Superreich. Wenn er will, dass seine Kissen schon Wochen im Voraus aufgeschüttelt werden, ist das sein Privileg.«
Gorillas also, dachte Min, aber das Wort wäre ihm sowieso in den Sinn gekommen, weil sie sich jetzt näherten wie zwei Silberrücken. Beide waren breitschultrig und gingen, als würden ihre Anzüge scheuern. Einer, der sich als Piotr erweisen sollte, hatte einen grauen Tennisballflaum auf dem Schädel. Kyril war dunkler und hatte längere Haare.
»Das müssen sie sein«, bemerkte Louisa.
Ach, wirklich?, dachte Min, hütete sich aber, es laut auszusprechen. Er stand auf, zog den Bauch ein und wartete.
Das Paar erreichte sie, und derjenige, der Piotr war, sagte: »Sie gehören zu Mr Webb, richtig?« Seine Stimme war leise und unverkennbar osteuropäisch, aber er sprach fließend Englisch. Man stellte sich vor, die beiden setzten sich. Louisa winkte in Richtung des nahegelegenen Kiosks nach mehr Kaffee.
Die Situation hätte angenehm sein können; vier Leute, die sich am Vormittag in einer Hauptstadt zu einem Arbeitstreffen einfanden, mit der Aussicht auf Kaffee und später vielleicht ein paar Sandwiches. Man konnte von hier aus keinen Stein werfen, ohne jemanden zu treffen, der gerade auf dem Weg zu einem solchen Meeting war; schwieriger wäre es gewesen, so hoffte Min, jemanden unterwegs zu einem Treffen zu erwischen, bei dem die Hälfte der Teilnehmer Waffen trug.
»Mr Paschkin kommt übernächste Woche?«, fragte Louisa.
»Ja, mit seinem Privatjet«, bestätigte Piotr. »Er hält sich zurzeit in Moskau auf.«
Kyril, so schien es, war eher wortkarg.
»Na schön, dann sollten wir vielleicht ein paar Grundregeln durchgehen, bevor er eintrifft. Nur damit es keine Missverständnisse gibt.«
Piotr sah sie mit ernstem Blick an. »Wir sind Profis«, erwiderte er. »Ihr Revier, natürlich. Damit haben wir kein Problem. Sie nennen uns die Regeln. Wir halten uns so weit wie möglich daran.«
Nach einem kurzen Moment, in dem Min sich fragte, ob er jemals eine andere Sprache gut genug beherrschen würde, um in ihr derart höflich ihr könnt uns mal auszudrücken, sagte er: »Na gut, und sollten Ihnen gewisse Regeln unklar sein, lassen Sie es uns wissen. Dann kann jemand für Sie dolmetschen.«
Louisa sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, dem Äquivalent eines Tritts gegen das Schienbein, und sagte: »Es geht hauptsächlich um Grundlegendes. Wie Sie gesagt haben – unser Revier. Und wir können Ihnen wirklich nicht erlauben, Waffen zu tragen, das werden Sie sicherlich verstehen.«
Piotr war die Höflichkeit selbst. »Waffen?«
»Wie die, die Sie jetzt bei sich tragen.«
Piotr sagte etwas zu Kyril, wie Min vermutete, auf Russisch. Kyril antwortete. Dann sagte Piotr: »Also wirklich. Warum sollten wir Waffen tragen?«
»Es ist nur zu Ihrer Sicherheit. In London ist man heutzutage wachsamer als früher. Ein Anruf, und eine bewaffnete Spezialeinheit rückt an.«
»Ah, eine bewaffnete Spezialeinheit. So, so. London ist ja bekannt dafür.«
Aha, da haben wir’s, dachte Min. Nur wegen einem versehentlich erschossenen Elektriker.
»Aber ich versichere Ihnen«, fuhr Piotr fort, »dass uns niemand mit Terroristen verwechseln wird.«
»Tja, aber falls das passiert«, entgegnete Louisa, »obliegt es Mr Harper und mir, das Chaos zu beseitigen. Nicht Ihnen, denn Sie sind dann tot. Wir dagegen stecken bis zum Hals in der Scheiße.«
Der Blick, den Piotr ihr zuwarf, war intensiv und blauäugig und völlig humorlos. Doch dann verzogen sich die Wolken, und er entblößte große weiße Zähne, die eher amerikanisch als russisch aussahen. »Das würden wir doch nicht wollen, oder?«, bullerte er. Er wandte sich an Kyril und ratterte noch einen Augenblick weiter. Min zählte drei lange Sätze. Kyril lachte ebenfalls; ein Geräusch wie ein Sack Murmeln. Als er fertig war, zog er eine Schachtel No-Name-Zigaretten hervor: dick, filterlos, tödlich. Eine Gesundheitswarnung wäre wie der Untertitel zu einem Pornofilm gewesen. Völlig irrelevant.
Min schüttelte den Kopf und schluckte den letzten Rest Kaffee hinunter. Der Tag war nicht warm, aber hell und klar, und es war recht frisch gewesen, als Min zur Arbeit gefahren war. Radfahren war etwas ganz Neues für ihn, und er tat es, um sich das Rauchen endgültig abzugewöhnen. Hätte er vor den Augen Louisas eine von Kyrils Zigaretten angenommen, wäre sie davon ausgegangen, dass er keine langfristige Zukunft mit ihr plante.
Louisa sagte: »Also sind wir uns einig.«
Piotr zuckte lediglich übertrieben mit den Achseln und ließ dann den Blick über die Umgebung schweifen, den Himmel, ja, ganz London. »Keine Waffen«, sagte er.
»Dann können wir jetzt also zur Planung kommen?«
Er nickte gnädig.
Niemand machte sich Notizen. Sie sprachen über Daten und Orte: Wann Paschkin eintreffen und welches Transportmittel er benutzen würde. (»Auto«, sagte Kyril an dieser Stelle. Das war das einzige englische Wort, das er hervorbrachte. »Auto.«) Und sie sprachen über The Needle, das Gebäude, in dem das Treffen stattfinden würde.
»Sie haben es sicher gesehen«, bemerkte Louisa.
»Natürlich.«
Es ragte hinter ihrer Schulter auf, in der Tat. Seine Spitze war von ihrem Standort aus zu sehen.
»Es ist … cool.«
»Ja, das ist es.«
Er hatte Fältchen um die Augen, als er lächelte.
Ach du meine Güte, dachte Min. Er macht sich an sie ran.
»Wo wohnen Sie?«, fragte Min.
Piotr wandte sich höflich an ihn. »Wie bitte?«
»Wo sind Sie untergebracht?«
»Im Ambassador. Am Hyde Park.«
»Jetzt schon?«
Piotr sah ihn verständnislos an.
»Ich meine«, sagte Min, »ich verstehe, dass sich Ihr Boss dort einquartiert. Aber ich bin überrascht, dass Sie beide schon in den zwei Wochen vor seiner Ankunft dort wohnen.«
Kyril beobachtete ihn mit einem leicht interessierten Ausdruck. Er versteht jedes Wort, dachte Min.
Louisa bemerkte: »Das ist mal ein guter Boss. Unsere Chefs würden nicht mal im Traum daran denken.«
»Er ist in Ordnung«, erwiderte Piotr. »Aber tatsächlich wohnen wir noch nicht da.« Er nickte Min zu. »Ich habe Sie missverstanden. Ich dachte, Sie meinten, wo wir später wohnen würden. Sobald Mr Paschkin angekommen ist.«
Natürlich hast du das, dachte sich Min. »Aha. Und wo sind Sie jetzt untergebracht?«
»In der Nähe von Piccadilly. In einer Seitenstraße der Shaf‌tesbury Avenue. Wie heißt noch mal das Hotel?«
Er sprach in seiner harten Sprache mit Kyril, der zurückgrunzte. »Ich glaube, Excelsior«, sagte er. »Oder Excalibur? So ähnlich. Entschuldigen Sie, ich kann mir Namen schlecht merken.« Sein Bedauern richtete sich ausschließlich an Louisa. »Ich kann Sie später anrufen und Ihnen den Namen durchgeben.«
»Gute Idee«, sagte sie. »Es täte uns leid, wenn Sie sich verlaufen würden.« Sie fischte eine Karte aus ihrer Tasche und gab sie ihm.
Es schien, als wären sie fertig, denn die Russen standen da und reichten ihnen die Hand. Piotr hielt Louisas ein wenig länger fest und sagte: »Das könnte eine gute Sache werden. Ein Ölabkommen zwischen unseren Ländern. Gut für uns, gut für Sie.«
»Und wunderbar für die Umwelt«, fügte Min hinzu.
Piotr lachte, ohne Louisas Hand loszulassen. »Sie«, sagte er. »Ich mag Sie. Sie sind lustig.«
Louisa befreite sich. »Sie geben uns dann noch den Namen Ihres Hotels durch.«
»Natürlich. Können wir von hier aus ein Taxi nehmen?«
»Ja, da hinten.«
Kyril verabschiedete sich mit einem ernsten Nicken von Min, und die beiden gingen mit wiegenden Schritten davon. Min fiel auf, dass die Leute, die ihnen entgegenkamen, ihnen auswichen. Louisa sagte etwas, aber es entging ihm. »Hier, nimm«, sagte er, zog seine Jacke aus und warf sie ihr zu.
»Min?«
»Später«, rief er, aber es war unwahrscheinlich, dass sie ihn hörte; er war schon zwanzig Meter weit weg.
Es kostete sie einen zweiten Zehnpfundschein, aber um 7:15 Uhr an diesem Morgen hatte Shirley Dander die Nummern aller Bahnhofstaxifahrer. Bis 7:30 Uhr hatte sie drei von ihnen gegen sich aufgebracht, und um 7:40 Uhr sprach sie mit einem vierten, der am vorigen Dienstagabend gearbeitet hatte, in der Nacht, in der die Züge nach Westen Verspätung hatten. Und ja, er hatte einen glatzköpfigen Kerl gefahren, und nein, dieser war kein Stammkunde gewesen. Und was das sollte, ob sie ihn verarschen wolle?
Nein, das sei seine Chance, erwiderte Shirley. Sie würde ihm ein Frühstück ausgeben.
Sie war immer noch begeistert von der gestrigen Razzia bei DataLok, wo das Videomaterial aus den Zügen der Bahngesellschaft gespeichert wurde. Den Kleinen von der Security zu überwältigen, war ein Kinderspiel gewesen, und höchstwahrscheinlich hatte die Frühschicht ihn inzwischen ausgewickelt: Der Junge hatte geglaubt, dass sie ihn töten würde. Die Suche nach den richtigen Dateien hatte länger gedauert, aber das System war kein Buch mit sieben Siegeln für sie gewesen, nicht nach vier Jahren in der Kommunikationsabteilung von Regent’s Park, und sie hatte alles und noch viel mehr auf eine Website hochgeladen, die sie gestern erstellt und danach wieder gelöscht hatte. Dann war sie nach Hause gegangen, hatte ihren Geliebten geweckt und ihn mehr oder weniger vergewaltigt. Der Geliebte war danach in einen wohlverdienten Tiefschlaf gesunken, aber Shirley hatte sich eine Prise Koks reingezogen, sich auf die Daten gestürzt und das Archivsystem in wenigen Minuten entschlüsselt: Datum, Uhrzeit, Zugnummer, Zielort, Waggon. Die Filme bestanden aus Momentaufnahmen in einem Abstand von schätzungsweise sieben Sekunden. Ziemlich ruckelig, doch der Eindruck konnte auch durch Koks entstehen – ein Gedanke, der sie zum Nachladen inspirierte: Wenn das die ganze Nacht dauern sollte, brauchte sie jede erdenkliche Hilfe.
Es nahm zwei Stunden und ein paar Zerquetschte in Anspruch.
Jedenfalls zwei Stunden Zeit der Uhr nach. Shirley flog bereits in ihrer eigenen Dimension. Es lag natürlich am Koks, aber auch am Adrenalinschub durch den Überfall. Jeder Siebensekundensprung auf dem Bildschirm war ein Echo ihres Herzschlags. Sie registrierte zahlreiche Glatzköpfe, wobei Glatzen derzeit natürlich auch im Trend lagen und nicht mehr nur eine männliche Tragödie waren. Doch sie hatte keine Zweifel, als sie den einen wahren Mr B gefunden hatte – dort saß er, ohne die Kamera am Ende des Waggons zu bemerken, obwohl er sich derart zentral in ihrem Erfassungsbereich befand, dass er ebenso gut Cheese hätte grinsen können … Er saß allein da und verzog keine Miene. Zuckte mit keiner Wimper. Wahrscheinlich blinzelte er durchaus, aber genau in den fehlenden sechs Sekunden der Aufnahme. Aber es war dennoch seltsam, dass sich um ihn herum ein Zirkus ruckartiger Bewegungen abspielte, als seine Mitreisenden Zeitungen zu merkwürdigen Formen falteten oder Taschentücher aus dem Nichts zauberten, als wäre es eine Magierversammlung – und nur Mr B blieb stocksteif sitzen: eine Pappfigur, die nicht einmal dem Schwanken des Zuges folgte. So verharrte er jedenfalls bis nach Moreton-in-Marsh, in den Cotswolds. Zu dessen Attraktionen unter anderem ein nettes kleines Café zählte, das schon frühmorgens geöffnet hatte.
Kenny Muldoon entpuppte sich als Frühstücksjunkie: Würstchen, Speck, Ei, Bohnen, Tomaten, eimerweise Tee. Genug Toast, um eine Scheune zu decken. Shirley hatte keinen Appetit; durch ihre Adern pulsierte noch genügend wilde Energie. Aber ihre letzte Linie Koks lag Stunden zurück, und sie hielt sich an die unumstößliche Regel, außer Haus nie welches bei sich zu tragen. Daher wusste sie, dass sie bald zusammenklappen würde, und das mit der langen Rückfahrt vor sich … Sie knabberte an einem Stück Toast, trank aber auf einen Zug eine ganze Tasse Tee und goss sich gleich noch eine ein. Dann sagte sie:
»Also, Sie haben letzten Dienstag einen Herrn mit Glatze vom Bahnhof abgeholt, ja?«
»Keine Ahnung, ob das ein Herr war. Wirkte eher ein bisschen wie ein Schlägertyp.«
»Die Details spielen hier keine Rolle. Wo haben Sie ihn hingefahren?«
»Kleines romantisches Malheur?« Kenny Muldoon rollte »Malheur« im Mund herum, als wäre es sein letztes Stück Wurst. »Hat Sugar Daddy sich bei Nacht und Nebel aus dem Staub gemacht?«
Shirley Dander entriss dem nichtsahnenden Kenny die Gabel, bohrte sie in seine Hand und lehnte sich schwer darauf. Er fühlte, wie die Zinken kratzten und sich durch den Knorpel bohrten, sah zu, wie Blut wie Ketchup über die Reste seines üppigen englischen Frühstücks spritzte.
»Hey, hey!«, protestierte er.
Shirley blinzelte, und die Gabel blieb in Kennys Hand stecken. Sie sagte: »So was Ähnliches. Also, können Sie sich jetzt daran erinnern, wohin er wollte?«
Kenny Muldoons hängendes Augenlid war die einzige Antwort, die er zu diesem Zeitpunkt zu geben bereit war. Taxifahrer, dachte Shirley. Man könnte sie in die gleiche Kiste quetschen wie sämtliche Banker von London und von einer Klippe werfen, und kein Mensch würde ihnen auch nur eine Träne nachweinen. Ihr Uhrenarmband enthielt längst keine Trinkgelder mehr. Stattdessen holte sie einen Zehner aus ihrer Hosentasche. »Ich wusste gar nicht, dass das Leben auf dem Land so teuer ist.«
»Ihr Stadtmenschen habt sowieso keine Ahnung«, versicherte er ihr. Er legte sein Messer beiseite, zog die Gabel aus der Hand, nahm das Geld und steckte es in eine Tasche. Dann nahm er sein Messer wieder zur Hand. »Natürlich erinnere ich mich«, sagte er, als wäre alles, was sich zwischen ihrer Frage und dieser Antwort ereignet hatte, nie geschehen. »Konnte es kaum vermeiden, so einen Wirbel hat er darum gemacht.«
»Welche Art von Aufregung?«
»Er wusste nicht genau, wohin er wollte! Erst sagt er, er will nach Bourton-on-the-Water. Auf halbem Weg fängt er an zu schreien, als wäre er gekidnappt worden. Ich bin fast in den Straßengraben gefahren vor Schreck! Und das bei dem Regen!«
Sein Tonfall verriet, dass ihn der Vorfall noch immer ärgerte.
»Und warum hat er sich so aufgeregt?«
»Es stellte sich heraus, dass er gar nicht Bourton-on-the-Water meinte! Nein, er wollte eigentlich nach Upshott. Und dann versuchte er noch, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben: Das hätte er doch gesagt, und ob ich vielleicht schwerhörig wäre. Was glauben Sie, wie lange ich diesen Job schon mache?«
Als ob sie das interessiert hätte. »Fünfzehn Jahre?«
»Vierundzwanzig! Und ich verhöre mich nicht bei Ortsnamen, die Information kriegen Sie gratis.«
Wäre in diesem Fall nicht etwas Wechselgeld fällig gewesen? »Und, was haben Sie gemacht?«
»Was hätte ich denn machen sollen? Ich habe gedreht und ihn nach Upshott gefahren. Er hat mich gezwungen, das Taxameter neu zu starten, weil er nicht bereit war, den Fahrpreis für eine falsche Strecke zu zahlen.« Kenny Muldoon schüttelte den Kopf angesichts solch schierer, empörender Ungerechtigkeit einer Welt, die solche Übergriffe erlaubte. »Und raten Sie mal, wie viel Trinkgeld für mich rausgesprungen ist.«
Shirley formte mit Zeigefinger und Daumen eine Null, und er nickte düster.
»Also, was ist Upshott?«
»Upshott? Ein winziges Kaff. Hundert Häuser und ein Pub.«
»Da gibt’s also keinen Bahnhof.«
Muldoon sah sie an, als wäre sie ein Alien. Fairerweise musste sie zugeben, dass sie sich allmählich genau so fühlte.
Er sagte: »Da gibt es kaum etwas, aber da habe ich ihn rausgelassen. Null Trinkgeld für eine Zwölfpfundfahrt. Manchmal frage ich mich, warum ich diesen Job überhaupt mache.«
Er piekte das letzte Stück Wurst auf, wischte damit den letzten Rest Eigelb weg und schob sich den Bissen in den Mund. Aus seinem Gesichtsausdruck sprach, dass er doch ein wenig Trost in dem Dasein fand, das das Leben für ihn ausersehen hatte.
»Und danach haben Sie ihn nicht noch einmal gesehen?«
»Nein«, antwortete Kenny Muldoon. »Ich bin losgefahren, ohne noch einmal in den Rückspiegel zu schauen.«
In London ist die Geltung der Straßenverkehrsordnung gradueller Natur: Für Autofahrer ist sie ein Regelwerk; für Taxis eine Richtlinie; für Radfahrer eine kleine Unannehmlichkeit. Min bog, ohne anzuhalten, in die City Road ein, und ein Lastwagen in südlicher Richtung verfehlte ihn um mindestens einen Meter, hupte aber trotzdem ohrenbetäubend laut. Ohne darauf zu achten, fädelte sich Min auf der Kreuzung durch eine Gruppe von Touristen und trieb sie mit ihren kleinen roten Rucksäcken auf den sicheren Bürgersteig.
Sein Fahrrad war an einem Ständer am Broadgate Square angekettet gewesen, und jetzt, mit Helm und ohne Jacke, war Min zudem maximal verkleidet. Selbst wenn die Russen aus dem hinteren Fenster ihres Taxis schauten, würde er ihnen nicht auffallen. Er war nur ein weiterer Wahnsinniger auf zwei Rädern.
Warum tust du das?
Ich traue ihnen nicht.
Du sollst ihnen auch gar nicht vertrauen. Steht im Kleingedruckten.
Seltsam, wie sehr die Stimme seines gesunden Menschenverstands nach Louisa klang.
Das Taxi fuhr zum Kreisverkehr in der Old Street. Von da aus konnte es in zahlreiche verschiedene Richtungen verschwinden, aber vorerst hielt es an der Fußgängerampel hundert Meter weiter, die gerade umsprang. Min, der noch nie im Leben so schnell geradelt war, trat noch fester in die Pedale, zog nach rechts, um einen langsamen Bus zu überholen, und schlug mit dem linken Ellenbogen dagegen, als ihn der Windzug von hinten erwischte. Kurz darauf war die Schwerkraft für einen Moment außer Kraft gesetzt, und er schien zu schweben … Der Bus hupte wie wahnsinnig, vorne war die Ampel, hinter ihm der Verkehr, und das Taxi fuhr zwanzig Meter vor ihm her, und dieser verdammte Bus gewann das Rennen, und Min hatte keine andere Wahl, als entweder stark zu bremsen oder gegen die Front des einen oder das Heck des anderen zu knallen. Er machte eine Vollbremsung und biss so fest die Zähne zusammen, als sollten sie zerbröseln.
Es liegt daran, wie er mich angeschaut hat, oder?
Ach, Quatsch. Es liegt daran, dass er uns nicht verraten wollte, wo sie wohnen.
Und deswegen willst du sie jetzt mit dem Fahrrad bis zu ihrer Unterkunft verfolgen?
Der Bus zog vorbei. Min riss sein Fahrrad um ein geparktes Taxi herum, als wäre es ein widerspenstiges Pferd, und schrie etwas Unflätiges durch die Fahrerscheibe, bevor er wieder in die Pedale trat. Seine Beine verwandelten sich in gekochte Spaghetti und das Fahrrad zu einem Folterinstrument, bis sie mit einem unhörbaren Klicken wieder eins wurden, Mann und Fahrrad, Min und Fahrrad, und er fädelte sich in den fließenden Kreisverkehr der Old Street ein, wo an der ersten Abzweigung wiederum eine Ampel stand. Vor ihm, vier Autos weiter, fuhr ein schwarzes Taxi, und Min war beinahe überzeugt, dass die beiden Köpfe, die auf seinem Rücksitz zusammengesteckt wurden, die von Piotr und Kyril waren – seine Beine strampelten schneller, der Boden raste unter seinen Rädern hinweg, und vor ihm lagen vierhundert Meter gerade Strecke die Old Street entlang, bevor der nächste Fußgängerüberweg wartete – nie zuvor war ihm aufgefallen, wie viele Hindernisse den fließenden Verkehr der Stadt blockierten, und er wäre in diesem Moment froh darüber gewesen, wenn das Taxi nicht über Gelb gefahren und in Richtung Clerkenwell abgebogen wäre.
Wenn es eines gibt, was schlimmer ist, als sich wie ein Idiot zu benehmen, dann, dass man sich wie ein Idiot benimmt und trotzdem mit leeren Händen zurückkehrt …
Min verringerte nicht mal das Tempo. Er streifte die Einkaufstasche einer Passantin, als er durch die Fußgänger flitzte, und hinter ihm purzelten Lebensmittel zu Boden, eine Flut von Äpfeln und Gläsern und Nudelpäckchen. Jemand schrie. Das Taxi war ihm jetzt weit voraus; vielleicht war es nicht einmal das richtige Taxi, und die Louisa in seinem Kopf machte sich gerade zur nächsten Verbalattacke bereit – Was genau soll das bringen, dass du dich überfahren lässt?  –, als Mins Herz aussetzte, weil ein großer weißer Lieferwagen von links auftauchte, genau vor seiner Nase.
Der Russe öffnete eine Schublade und fand Zigarettenpapier und eine Packung Tabak, bedruckt mit dicken, schnörkeligen braunen Buchstaben.
Er rollte eine kleine Prise Tabak zu einer dünnen Zigarette und fragte Lamb: »Bist du hier, um mich umzubringen?«
»Hab ich noch gar nicht drüber nachgedacht«, erwiderte Lamb. »Wieso, hättest du es denn verdient?«
Katinsky überlegte. »Nein, in letzter Zeit nicht mehr so sehr«, sagte er schließlich. Dann fuhr er fort: »Es gibt einen Laden in der Brewer Street. Da bekommt man russischen Tabak. Polnischen Kaugummi. Litauischen Schnupftabak.« Er strich ein Streichholz an, hielt die Flamme an seine dünne Selbstgedrehte und entfachte ein kleines Feuer, das er durch heftiges Inhalieren rasch zum Erlöschen brachte. »Früher war die Hälfte der Kunden zu jeder beliebigen Tageszeit Schnüffler. Du wurdest mir schon oft beschrieben.« Das Streichholz ging aus, und er legte es zurück in die Schachtel. »Also, was willst du von mir, Jackson Lamb?«
»Ein kleines Gespräch über die alten Zeiten, Nicky.«
»Es gibt keine alten Zeiten. Lebst du auf dem Mond? Das ist alles längst Schnee von gestern. Die alten Zeiten wurden zugepflastert, und man hat ein Einkaufszentrum drauf gebaut.«
»Immer dasselbe mit diesen Russen«, seufzte Lamb, »halten sich für eine Art tragische Dichter, dass ich nicht lache.«
»Wie witzig«, konterte Katinsky, »aber soll ich dir mal sagen, was wirklich witzig ist? Guck dich doch mal um! Diese Scheiß-Einkaufstempel schießen überall wie Pilze aus dem Boden mit ihren Starbucks und Hamburgerläden. Glaubst du etwa immer noch, dass es die Sowjetunion war, die von den Amerikanern besiegt wurde?« Er spuckte in den Papierkorb. Ob das ein zusätzlicher Kommentar oder eine zigarettenbedingte Notwendigkeit war, war nicht klar. »Wenn du also über alte Zeiten plaudern willst«, fuhr er fort, »wirst du mich schon dazu zwingen müssen, verstehst du?«
Lamb sagte: »Ich habe das Gefühl, dass es das Schwierigste ist, dich zum Schweigen zu bringen.«
Er wartete, während Katinsky die Tür abschloss; dann folgte er ihm die Treppe hinunter auf die Straße. Katinsky führte Lamb an sechs Pubs vorbei, bevor er einen fand, der ihm genehm war. Im Inneren blieb er erst mal stehen, um sich zu orientieren, bevor er in eine Ecke ging, was entweder bedeutete, dass er hier neu war, oder er hoffte, dass Lamb das glauben würde. Er wollte Rotwein. Lamb wäre vielleicht überrascht gewesen, wenn ihn die Trinkgewohnheiten eines anderen Mannes noch hätten überraschen können. An der Bar bestellte er sich einen großen Scotch, weil er sich als Säufer darstellen wollte, und auch, weil er Lust auf einen großen Scotch hatte. Die alten Zeiten ließen auch ihn nicht unberührt. Er hatte sich einen Drink verdient. Weil sein Scotch zuerst kam, leerte er ihn in zwei Schlucken, während der Wein noch eingeschenkt wurde, dann bestellte er einen zweiten und nahm diesen mit an den Tisch.
»Cicadas«, sagte er und schob Katinsky sein Glas Wein hin.
Katinskys Reaktion kam leicht verzögert. Er hob sein Glas, ließ den Wein darin kreisen, als sei er ein gutes Tröpfchen und nicht nur der billige rote Hausfusel, und trank einen Schluck. Dann sagte er: »Was?«
»Cicadas. Ein Wort, das du bei deinem Debrief‌ing erwähnt hast. In Regent’s Park.«
»Ach, habe ich das?«
»Hast du. Ich habe mir das Video angesehen.«
Katinsky zuckte mit den Schultern. »Und? Glaubst du etwa, ich erinnere mich an alles, was ich vor fast zwanzig Jahren bei einem Debrief‌ing gesagt habe? Ich habe den größten Teil meines Lebens damit verbracht, Dinge zu vergessen, Jackson Lamb. Und das, das ist eine uralte Geschichte. Der Bär schläft. Warum sollte man ihn mit einem Stock reizen?«
»Gutes Argument. Sag mal, wann muss dein Pass eigentlich wieder verlängert werden?«
Katinsky warf ihm einen müden Blick zu. »Aha. Es reicht euch wohl nicht, einen auszusaugen. Ihr müsst noch mal wiederkommen und auch noch die Knochen zermalmen.« Um seine Flüssigkeitsspeicher wieder aufzufüllen, trank er noch etwas Wein. Einen großen Schluck, einen Trinkerschluck, nach dem er sich das Kinn abwischen musste. »Musstest du schon mal ein Debrief‌ing durchstehen, Jackson Lamb?«
Das war eine so dumme Frage, dass Lamb sich nicht herabließ zu antworten.
»Als Feind? So wurde ich nämlich behandelt. Sie wollten alles wissen, was ich je gehört oder gesehen oder getan hatte, und irgendwann wusste ich nicht mehr, ob sie nach Gründen suchten, mich zurückzuschicken, oder nach Gründen, mich zu behalten. Wie ich schon sagte. Sie saugen einen aus.«
»Willst du etwa behaupten, du hast dir was ausgedacht?«
»Nein, ich will dir damit sagen, dass ich jeden Krümel Information, den ich je besessen habe, alles, was ich für nützlich hielt, alles, von dem ich wusste, dass es das nicht war, alles, von dem ich nicht wusste, was es zu bedeuten hatte: Einfach alles habe ich ausgespuckt. Bis zur bitteren Neige. Wenn du das Video gesehen hast, weißt du alles, was ich je gewusst habe. Vielleicht sogar mehr, denn glaub mir, ich habe mehr vergessen, als ich je gewusst habe.«
»Einschließlich Cicadas
»Nein, nicht unbedingt Cicadas «, antwortete Katinsky.
Wie nahe Min in diesem Moment seinem Lebensende kam, hätte man nicht mehr in Zentimetern messen können. Der Lieferwagen machte eine Vollbremsung, um Min nicht zu erwischen, die verdrängte Luft umwehte Min von Kopf bis Fuß, und dann war er weg und ließ das Chaos hinter sich. Hinter ihm ertönte ein Hupkonzert, aber egal. Nahtoderlebnisse ereigneten sich andauernd auf den Straßen der Stadt, und das Ganze würde in wenigen Minuten vergessen sein.
In dem Augenblick war die Geschwindigkeit zum Selbstzweck geworden. Mins Beine bewegten sich geschmeidig, seine Fäuste waren mit den Griffen verschmolzen, und als seine Räder die Straße verschlangen, durchflutete ihn das Gefühl, lebendig zu sein, wie ein Schuss Tequila. Er stieß einen Laut zwischen einem Lachen und einem Schrei aus, der kaum menschlich klang. Fußgänger starrten ihn an. Nur wenige hatten schon einmal die Gelegenheit gehabt, einen Radfahrer so schnell dahinsausen zu sehen.
Vor ihm lagen die Kreuzung mit der Clerkenwell Road und weitere Ampeln. Davor standen unter anderem mindestens drei schwarze Taxis. Min, der jetzt unsterblich war, hörte auf zu treten und ließ sich auf die wartenden Autos zurollen.
Also hast du sie eingeholt. Möglicherweise. Und was jetzt?
Kyril hat jedes Wort verstanden, was wir gesagt haben.
Natürlich hat er das. Und?
Auf dem Radweg zog er auf gleiche Höhe mit dem ersten Taxi und riskierte einen Seitenblick. Eine Frau saß darin, die mit ihrem Handy telefonierte. Im zweiten bot sich ein ganz ähnliches Bild. Ein Mann hielt sich sein Smartphone ans andere Ohr. Ob sie miteinander sprachen? Fast an der Spitze der Schlange hielt Min nun neben einem Bus, möglicherweise demselben, mit dem er vorhin aneinandergeraten war. Nur noch zwei Autos bis zu dem letzten schwarzen Taxi, das ungeduldig vor der Ampel wartete. Ihm wurde kurz schwummrig vor Augen. Dann klärte sich seine Sicht wieder, und er blickte auf die Hinterköpfe von Piotr und Kyril. Beide schauten nach vorn und zeigten kein Interesse an nassgeschwitzten Radfahrern.
Er hatte sie also eingeholt. Und was jetzt?
Im nächsten Moment erhielt er die Antwort auf seine Frage: Die Ampel sprang um, und das Taxi fuhr weg. Min hatte kaum Zeit, sich die erste Hälfte des Kennzeichens, SLR 6, zu merken, ehe es die Kreuzung überquert hatte und die Clerkenwell Road hinunterfuhr. Mit sich nahm es sein Gefühl, für immer weiterradeln zu können; es trieb von ihm weg wie eine chinesische Laterne, die nach dem Anzünden hoch aufsteigt und davonschwebt. Jeder Atemzug kratzte in seinem Inneren wie ein Streichholz auf einer Sandpapieroberfläche – er schmeckte Blut; nie ein gutes Zeichen. Nachdem er über die Kreuzung weg war, war das schwarze Taxi verschwunden; es konnte schon meilenweit entfernt sein … Als er feststellte, dass er von einem Fußgänger überholt wurde, fuhr Min rechts ran, zeigte dem Auto hinter sich aus Radfahrergewohnheit den Stinkefinger und zog sein Handy aus der Hosentasche. Seine Hände zitterten, als er wählte. Sein Fahrrad fiel auf den Bürgersteig.
»Ja?«
»Hast du Beziehungen zum Troc?«
Der Troc war das Trocadero, so wurde das Zentrum des Videoüberwachungszentrums von London genannt.
»Mir geht es gut, Min, danke der Nachfrage. Wie war dein Morgen bisher?«
»Mein Gott, Catherine!«
»Nein, habe ich nicht, aber ich habe selbst mal einen IT -Kurs bei einem Rechenzentrumsadministrator gemacht, damals im finsteren Mittelalter. Was kann ich für dich tun?«
»Es geht um ein Taxi, das in westlicher Richtung fährt, ich habe ein Teil des Kennzeichens …«
»Ein Taxi?«
»Ja! SLR 6«, stieß er hastig hervor.
»Ich werde mein Bestes geben.«
Min steckte das Handy wieder ein, beugte sich zur Seite und kotzte sehr manierlich in die Gosse.
Diesmal leerte Katinsky sein Glas. Lamb blickte seines an und stellte fest, dass es auch leer war. Mit einem Grunzen kehrte er zurück an die Bar, wo zwei Frauen, die aussahen, als trügen sie den gesamten Inhalt ihrer Kleiderschränke auf einmal, die Köpfe zusammensteckten, während ein Mann mit Pferdeschwanz in einer Straßenkehrerjacke sich einem Pint Bier anvertraute. Die Getränke kamen. Kaum hatte Lamb Katinskys Wein abgestellt, redete der Russe schon wieder weiter.
»In Regent’s Park hat man mir mitgeteilt, dass ich überflüssig wäre. Als hätte es einen Ausverkauf gegeben und man hätte bereits alles erstanden, was man jemals brauchen würde. Erzähl uns etwas Neues, hieß es. Erzähl uns etwas Neues. Oder wir schicken dich zurück. Und ich will nicht zurückgeschickt werden, Jackson Lamb.« Auf eine Eingebung hin schnippte er mit den Fingern. »KGB -Agenten waren zu diesem Zeitpunkt der Geschichte nicht sonderlich beliebt. Ich verrate dir mal ein Geheimnis: Wir waren nie beliebt. Allerdings waren wir damals nicht mehr in einer Position, in der uns das egal war.«
»Und weißt du, was?«, fragte Lamb. »Euch kann immer noch keiner leiden.«
Katinsky ging darüber hinweg. »Aber unwichtige Informationen waren alles, was ich hatte. Büroklatsch, nur deswegen interessant, weil das Büro die Moskauer Zentrale war, aber nichts, was nicht schon hundertmal in Geschenkverpackung von Männern überbracht worden war, die mehr vergessen hatten, als ich je gewusst habe.« Er beugte sich verschwörerisch nach vorne. »Ich war ein Chif‌frierfachmann. Aber das weißt du ja bereits.«
»Ich habe deinen Lebenslauf gelesen. Du hast nie die Welt aus den Angeln gehoben.«
Der Russe zuckte mit den Schultern. »Ich tröste mich damit, dass ich erfolgreichere Kollegen überlebt habe.«
»Hast du sie zu Tode gelangweilt?« Lamb neigte sich nach vorn. »Deine Lebensgeschichte interessiert mich nicht, Nicky. Ich will nur wissen, was du über Cicadas weißt und damals nicht verraten hast. Und falls du vorhattest, mir die ganze Nacht über etwas vorzuschwafeln, dann sage ich dir, dass das der letzte Drink ist, den ich dir ausgebe. Haben wir uns verstanden?«
Ein verwirrter Ausdruck erschien auf Nikolai Katinskys Gesicht, und er begann zu husten. Nicht das gesunde, lungenreinigende Husten, das Lamb vertraut war, sondern als wäre etwas in ihm, das versuchte, sich mit Gewalt hinauszuzwängen. Ein weniger nervenstarker Mensch hätte vielleicht seine Hilfe angeboten, ein Glas Wasser geholt oder einen Krankenwagen gerufen, aber Lamb begnügte sich mit seinem Drink, bis Katinsky sein Beben unter Kontrolle bekam.
Als er glaubte, jetzt möglicherweise eine Antwort erhalten zu können, fragte Lamb: »Hast du das öfter?«
»Bei Feuchtigkeit ist es schlimmer«, keuchte Katinsky. »Manchmal kann ich –«
»Nein, ich meine, falls so was gleich noch mal passiert, gehe ich in der Zwischenzeit eine rauchen.« Er wedelte zur Illustration mit seinem Feuerzeug. »Und wenn ich den Eindruck habe, dass du mit dieser Show meinen Fragen ausweichen willst, schleife ich dich mit raus und setze das hier ein.«
Katinsky starrte ihn zwölf lange Sekunden wortlos an und senkte dann seinen Blick auf die Tischplatte. Als er wieder zu sprechen begann, war seine Stimme ruhig. »Cicadas ist ein Wort, das ich zufällig aufgeschnappt habe, Jackson Lamb. Im Zusammenhang mit einem Namen, der dir bekannt vorkommen dürfte. Alexander Popow. Damals konnte ich nichts mit diesem Namen anfangen, aber er wurde in einem Tonfall ausgesprochen, der irgendwie … wie soll ich es ausdrücken? Ich würde sagen, ehrfürchtig klang. Ja, voller Ehrfurcht.«
»Wo war das?«
»Es war in einer Toilette. Einem Scheißhaus, wenn du so willst. In das ich nur aus den naheliegenden Gründen gegangen war. Es war ein ganz normaler Arbeitstag, allerdings kurz vor dem Mauerfall, als im Grunde kein Tag normal war. Es wird ja so oft gesagt, dass der Fall ganz plötzlich kam und niemand damit gerechnet hatte, aber du und ich wissen, dass es nicht so war. Man sagt, dass Tiere ein Erdbeben schon vorher spüren, und das Gleiche gilt für Schnüffler, stimmt’s? Ich weiß nicht, wie es damals in Regent’s Park zuging, aber in der Moskauer Zentrale war es, als würde man auf die Ergebnisse einer medizinischen Untersuchung warten.«
»Grundgütiger!«, sagte Jackson Lamb. »Du warst in einem Scheißhaus?«
»Ich hatte Bauchkrämpfe, deshalb bin ich auf die Toilette gegangen, und dort bekam ich plötzlich Durchfall. Ich saß also in einer Kabine, als zwei Männer reinkamen und sich an die Pinkelbecken stellten. Und dabei redeten sie miteinander. Einer sagte: »Glaubst du, es ist immer noch wichtig?« Und sein Begleiter sagte: »Alexander Popow denkt, dass es das ist.« Und der erste sagte: »Natürlich tut er das. Die Cicadas sind sein Baby.« Katinsky hielt inne. Dann sagte er: »Er hat nicht wirklich ›sein Baby‹ gesagt. Aber genauer kann ich mich wirklich nicht mehr erinnern.«
»Und das war’s dann?«, fragte Lamb.
»Als sie fertig waren mit Pinkeln, sind sie gegangen. Ich bin noch ein Weilchen dageblieben, mehr mit meinem Magen als mit der Bedeutung ihrer Worte beschäftigt.«
»Wer waren die Männer?«, fragte Lamb.
Katinsky zuckte mit den Schultern. »Hätte ich es gewusst, hätte ich es gesagt.«
»Und sie haben sich unterhalten, ohne zu überprüfen, ob sie belauscht wurden?«
»Müssen sie wohl. Denn ich war da, und sie haben trotzdem miteinander geredet.«
»Praktisch.«
»Wenn du meinst. Aber ich konnte ja sowieso nichts damit anfangen. Ich habe gar nicht mehr daran gedacht, bis ich in einem Keller unter Regent’s Park alles Mögliche aus dem Hinterkopf kramen musste.« Er runzelte die Stirn. »Ich wusste nicht einmal, was Zikaden sind. Ich dachte, es wären Fische.«
»Und nicht irgendein komisches Insekt.«
»Ein komisches Insekt, stimmt. Mit einer besonders komischen Eigenschaft.«
Lamb sagte: »Oh, mein Gott!«, und klang ehrlich verletzt. »Glaubst du etwa, das weiß ich nicht?«
»Sie vergraben sich für lange Zeit unter der Erde«, fuhr Katinsky fort. »Ich glaube, in manchen Fällen bis zu siebzehn Jahre lang. Und dann kommen sie raus und zirpen.«
»Wenn es ein echtes Codewort wäre«, meinte Lamb, »könnte es nur eines bedeuten.«
»Aber es war nicht echt, oder?«
»Nein. Du warst der Dumme. Nur ein Strohmann von vielen, der uns einen Informationsfetzen über diesen Alexander Popow überbrachte, der nicht existierte. Also jagten wir am Ende unserem eigenen Schwanz nach, um ein Schläfer-Netzwerk aufzuspüren, das es ebenfalls nicht gab.«
»Aber warum habt ihr mich dann behalten, Jackson Lamb? Warum schickt ihr mich nicht zurück?«
Lamb zuckte mit den Achseln. »Die hielten dich wahrscheinlich für billig genug, um die paar Pfund zu investieren. Nur für alle Fälle.«
»Falls sich herausstellte, dass das, was ich gehört hatte, wirklich wichtig war.« Katinsky erholte sich von seinem Hustenanfall. Die Lücken zwischen seinen Sätzen wurden kleiner, und er begann, sich wieder so eine Knastbruder-Zigarette zu drehen. Er legte sie so sorgfältig auf den Tisch, als wäre sie eine heilige Reliquie, und richtete seine nächsten Worte an sie. »Was würde das bedeuten? Dass euer Gespenst ebenfalls echt ist, und zwar nicht nur er selbst, sondern dass auch sein Netzwerk existiert. Noch jetzt, viele Jahre nach dem Mauerfall. Hier im guten alten England.«
Lamb sagte: »Danke. Jetzt, wo ich es ausgesprochen gehört habe, ist es eindeutig Schwachsinn.«
»Natürlich.« Katinsky neigte den Kopf. »Selbstverständlich. Es gibt keinen Präzedenzfall für so etwas.«
»Komisch.«
»Genau, denn alle Welt weiß, dass es einen gibt. Bist du deshalb vor meiner Tür aufgetaucht, Jackson Lamb? Du hast die Zeitungen des letzten Jahres gelesen und machst dir Sorgen, dass es wieder passieren könnte …« Er amüsierte sich jetzt. »Das wird so aussehen, als hättet ihr eure Hausaufgaben nicht gemacht, stimmt’s? Nicht ein, sondern zwei Nester kommunistischer Spione, die sich all die Jahre in westlichem Komfort gesuhlt haben.«
»Ich weiß nicht, ob sich irgendjemand für ihre politische Gesinnung interessieren würde«, erwiderte Lamb. »Das ist doch längst passé.«
»Allerdings. Das Arbeiterparadies wird heute von Gangstern und Kapitalisten regiert. Ganz wie der Westen.«
»Vermisst du die guten alten Zeiten, Nicky? Wir könnten dich jederzeit zurückschicken.«
»Ich vermisse gar nichts, Jackson Lamb. Ich schaue mich in deinem grünen und angenehmen Land um und finde es einfach toll, was ihr daraus gemacht habt. Aber du bist gekommen, weil du angefangen hast, ›was wäre wenn‹ zu denken, richtig? Was wäre, wenn es die Zikaden doch geben würde? Wem wären sie verpflichtet? Nicht den Interessen der Sowjetunion, denn die gibt es nicht mehr.« Er hob sein leeres Glas gegen das Licht und neigte es, so dass der Rand, den der Wein hinterlassen hatte, seine schwachrote Flutmarke zeigte wie eine Narbe. »Stell dir mal vor! Seit Jahren versteckt zu leben und auf das Codewort zu warten, um in Aktion zu treten. Aber von wem sollte das Wort kommen?«
Lamb entgegnete: »Alexander Popow war eine Vogelscheuche. Ein Hut, ein Mantel, zwei alte Stöcke, mehr nicht.«
»Es heißt, der schlauste Trick des Teufels sei es, die Leute glauben zu machen, dass er nicht existiere«, sagte Katinsky. »Aber alle Schnüffler glauben an den Teufel, nicht wahr? Tief im Inneren, in ihren dunkelsten Nächten, glauben alle Schnüffler an den Teufel.«
Er fing an zu lachen, bis das Lachen erneut in einen Hustenanfall überging. Lamb beobachtete ihn eine Minute lang beim Keuchen, schüttelte dann den Kopf und ließ eine Fünfpfundmünze auf den Tisch fallen. »Ich wünschte, ich könnte sagen, dass du eine Hilfe warst, Nicky«, sagte er. »Aber wenn man alles zusammennimmt, hätten wir dich doch zurückschicken sollen.«
Als er von der Tür aus zurückblickte, schüttelte es Katinski noch immer am ganzen Körper. Aber der Fünfpfundschein war verschwunden.
Zuvor hatte Kenny Muldoon von seinem Auto aus zugesehen, wie Shirley Dander sich selbst ans Steuer setzte, eine Sonnenbrille aufsetzte und mit röhrendem Motor den Parkplatz des Bahnhofs Moreton-in-Marsh verließ. Die sollte lieber vorsichtig sein, dachte er. Die Einheimischen mochten keine rücksichtslosen Fahrer, und niemand ist einheimischer als ein Dorfpolizist. Aber das war nicht sein Problem. Er fuhr über seine Brusttasche, wo er das Geld, das sie ihm gegeben hatte, versteckt hatte, dann fuhr er sich über den Bauch, in den er das von ihr spendierte Frühstück geschaufelt hatte. Keine schlechte Bilanz für einen Vormittag Arbeit. Und das war noch nicht das Ende der Fahnenstange.
Aus seinem Handschuhfach nahm er ein Stück Papier, auf das eine Handynummer gekritzelt war. Während er sie vor sich hin murmelte, gab er sie in sein Handy ein.
Ein Zug verließ den Bahnhof, bis zum Anschlag gefüllt mit Pendlern.
Das Telefon klingelte.
Eine Frau stand auf der Brücke, ein Baby im Arm. Sie ließ das Kind mit einer Hand dem abfahrenden Zug nachwinken, indem sie seinen Ellbogen festhielt und nach rechts und links bewegte.
Das Telefon klingelte.
Ein junges Paar in hellen Jacken und Rucksäcken las auf dem Bahnsteig einen Fahrplan. Sie schienen sich zu streiten. Einer von beiden deutete dem abfahrenden Zug hinterher, als hätte er recht gehabt.
Der Anruf wurde angenommen.
Muldoon sagte: »Hier Muldoon. Der Taxifahrer. Ich habe diese Nummer bekommen.«
Und er sagte: »Ja. Es war allerdings eine Frau.«
Und er sagte: »Ja, das habe ich ihr gesagt.«
Und er sagte: »Wann bekomme ich mein Geld?«
Als er den Anruf beendet hatte, warf er das Handy auf den Beifahrersitz. Dann knüllte er den Zettel zusammen und ließ ihn vor seine Füße fallen. Und dann verließ auch er den Parkplatz.
Nach einer Weile ging das junge Paar in den hellen Jacken weiter den Bahnsteig entlang, um auf den nächsten Zug zu warten.