6
Roderick Ho war sauer.
Roddy Ho fühlte sich verraten.
Roderick Ho fragte sich, wohin das führen sollte, wenn man seinem Mitmenschen, seiner Mitmenschin, nicht vertrauen konnte. Wenn seine Mitmenschin einen anlog, sich als etwas ausgab, was sie nicht war …
Es war zum Heulen.
Da war man bereit, sich mit Haut und Haar in eine Beziehung zu stürzen, und was musste man feststellen? Man nahm Kontakt zu dieser heißen blonden Braut auf, die sich für Hip-Hop, Actionfilme und Snowboarding interessierte, die Level fünf von Armageddon Posse erreicht hatte und Abendkurse in Geschichte des 20. Jahrhunderts besuchte, und dann – und das hatte er nur entdeckt, weil sie ihre Automarke erwähnt hatte und dass sie SkyPlus hatte, zwei konkrete Fakten, die es ihm ermöglichten, ihre wahre Identität mit ihrem Online-Profil zu vergleichen –, ja, dann stellte sich heraus, dass sie, wenn überhaupt, nur höchst vorsichtig auf ein Snowboard steigen sollte, denn nicht viele Versicherungen würden die Risiken eines Snowboardurlaubs für Vierundfünfzigjährige abdecken. Schließlich war vierundfünfzig ein Alter, in dem die Knochen brüchig wurden und man bei jeder Erkältung befürchten musste, dass sie sich zu etwas Ernsthaftem entwickelte. Mein Gott! Sie brauchte keinen Abendkurs in Geschichte des 20. Jahrhunderts. Sie brauchte sich nur zu erinnern. Roddy Ho war sich nicht sicher, ob seine eigene Mutter schon vierundfünfzig war. Diese Schlampe!
Aber wie auch immer. Er würde darüber hinwegkommen. Jedenfalls war er für Mrs Rollator nicht mehr erreichbar, dafür hatte er alle nötigen Vorkehrungen getroffen. Wenn sie sich wunderte, was sie getan hatte, um Roderick Ho zu verärgern – oder besser: Roddy Hunt, den DJ -Superstar mit dem Montgomery-Clif‌t-Profil, den sie glaubte, demnächst zu treffen –, brauchte sie nur lange genug in den Spiegel zu schauen. Sie brauchte Abendkurse in »die Wahrheit in der Werbung«. Ho war nicht leicht beleidigt – er war ein unkomplizierter Kerl –, deswegen ruinierte er voller Trauer und Widerwillen die Bonität von Ms Coff‌in Dodger. Er hoffte nur, dass sie ihre Lektion lernen und sich in Zukunft an ihre Altersgruppe halten würde.
Und als ob der Nachmittag nicht schon stressig genug gewesen wäre, kam jetzt auch noch Catherine Standish herein und brachte ihm ein Geschenk mit.
»Roddy«, sagte sie und stellte ihm eine Dose Red Bull auf den Schreibtisch.
Mit einem misstrauischen Nicken schob Ho die Dose ein paar Zentimeter nach links. Alles hatte seinen Platz.
Catherine setzte sich an den anderen Schreibtisch, die Hände um eine Tasse Kaffee gelegt. »Und, alles in Ordnung?«, fragte sie.
Er sagte: »Du kommst hier nur rein, wenn du etwas willst.«
Ein Ausdruck, den er nicht an ihr kannte, huschte über ihr Gesicht. »Das stimmt nicht so ganz.«
Er zuckte mit den Schultern. »Egal. Ich hab zu tun. Und außerdem …«
»Außerdem?«
»Lamb hat gesagt, ich soll dir nicht mehr helfen.«
(Lamb hatte eigentlich gesagt: »Wenn ich dich noch mal bei Alleingängen erwische, schicke ich dich zum IT -Support. Fotokopier-Abteilung.«)
»Lamb muss nicht alles wissen«, erwiderte Catherine.
»Hast du ihm das schon mal gesagt?« Sie antwortete nicht. Ho nahm dies als Beweis dafür, dass er hundert Prozent im Recht war, öffnete mit einem Klacken die Lasche seiner Red-Bull-Dose und nahm einen tiefen Zug.
Catherine beobachtete ihn und trank von ihrem Kaffee.
Ho dachte: nicht schon wieder. Noch eine ältere Frau mit Absichten. Fairerweise musste man ihr lassen, dass sie eher hinter Hos Fähigkeiten als hinter seinem Körper her war, aber letztendlich lief beides darauf hinaus, dass er ausgenutzt wurde. Gut, dass er ihr weit überlegen war. Er sah auf seinen Bildschirm. Dann wieder zu Catherine. Sie beobachtete ihn immer noch. Er wandte sich wieder seinem Monitor zu. Studierte ihn eine halbe Minute lang, was viel länger ist, als es klingt. Als er einen weiteren Blick riskierte, beobachtete sie ihn noch immer.
»Was?«
Sie sagte: »Wie läuft es mit dem Archiv?«
Das Archiv war eine Online-Service-Ressource; ein »Tool zur Korrelation aktueller Ereignisse mit historischen Präzedenzfällen« und damit von enormer strategischer Bedeutung, so hatte ein Interimsminister vor einigen Jahren beschlossen. Wie so oft beim öffentlichen Dienst war ein einmal erlassener Beschluss schwer zu widerrufen, und die Vormittags-Geistesblitze des Ministers hatten seine Karriere bei mehreren Behörden überlebt. Und da Regent’s Park selten eine Scheinaufgabe fand, die nicht besser von einem Slow Horse erledigt werden konnte, lagen die Archivpflege und -erweiterung längst auf Roderick Hos Schreibtisch.
»Ganz okay.«
Catherine, die Tasse in der einen Hand, tupfte sich mit einem Taschentuch in der anderen die Lippen ab. So ging das doch nicht! Das hier war sein Büro, sein Territorium, wo sich alles an genau dem Platz befand, wo es hingehörte, auch wenn dies für Uneingeweihte nach Chaos aussehen mochte. Es gab Ersatzkabel und -mäuse, dünne Umschläge für CD s und dicke Handbücher für längst veraltete Betriebssysteme. Und es gab Kollateralschäden in Form von Pizzakartons und Energy-Drink-Dosen und das elektrische Summen, das die Luft um die Computer herum erfüllte. Es war sein Bereich. Und es war nicht in Ordnung, dass Catherine Standish einfach reinplatzte und so tat, als wäre es auch ihrer.
Es sah auch nicht so aus, als würde sie sich bald wieder verziehen.
»Ich wette, das nimmt viel von deiner Zeit in Anspruch«, bemerkte sie.
Sie meinte, an dem Archiv zu arbeiten.
»Praktisch meine ganze«, sagte Ho. »Es ist meine Hauptaufgabe.«
»Dann ist die gefälschte Task List, die du aufgesetzt hast, ja sehr praktisch«, fuhr Catherine fort. »Du weißt schon, diejenige, die jedem, der deine angemeldeten Aktivitäten überwacht, zeigt, wie hart du arbeitest.«
Ho erstickte fast an seinem Red Bull.
Louisa sagte: »Du hättest tot sein können!«
»Ich bin Fahrrad gefahren, das ist alles. Tausende von Menschen machen das jeden Tag. Die meisten von ihnen überleben es.«
»Die meisten von ihnen jagen keinen Autos nach.«
»Doch, wahrscheinlich schon«, erwiderte Min.
»Und, wie weit bist du damit gekommen?«
Eineinhalb Meilen, dachte er, was im Londoner Verkehr gar nicht übel war. Doch stattdessen sagte er: »Ich habe die Leute im Troc dazu gebracht, sie von der Clerkenwell Road aus weiterzuverfolgen. Sie haben …«
»Du hast die Leute dazu gebracht.«
»Ist ja schon gut! Okay, Catherine hat die Leute im Troc dazu gebracht, sie weiterzuverfolgen. Sie haben das Taxi in Richtung Westen verfolgt, und die Russen sind nicht etwa bei einem kleinen Hotel namens Excelsior, Excalibur, Expialigetisch oder sonstwie ausgestiegen, sondern geradewegs zur Edgware Road weitergefahren. Da wohnen sie. Im West End Hotel? Kann nur irgendeine billige Absteige sein.«
Louisa sagte: »Man sollte meinen, Webb hätte das alles recherchiert. Wo die Gorillas wohnen, zum Beispiel. Wie lange sind sie überhaupt schon in England? Und warum laufen sie ohne Leine herum?«
Min fand, dass ihm etwas mehr Anerkennung dafür gebührte, dass er ihnen die Leine wieder angelegt hatte. Oder zumindest herausgefunden hatte, wo ihr Zwinger war. Er sagte: »Es ist so, wie er uns gesagt hat. Drüben im Park ist man damit beschäftigt, die Taschen für die Erbsenzähler auszuleeren. Da bleibt keine Zeit für das, äh, praktische Zeug.«
»Das ist keine Kleinigkeit. Das betrifft Sicherheitsfragen. Diese Jungs haben Waffen … Und damit lassen wir sie einfach so durch London spazieren? Wie haben sie sie überhaupt durch den Zoll gebracht?«
»Haben sie wahrscheinlich gar nicht«, erwiderte Min. »Ich nehme an, dass man sich in London durchaus irgendwo illegale Waffen besorgen kann.«
»Danke für die Info.«
»Natürlich nicht in den guten Gegenden. Aber in Ost-London. Und vielleicht in den nördlichen Stadtteilen. Und auch in manchen westlichen.«
»Bist du fertig?«
»Und überall südlich der Themse, natürlich. Aber noch entscheidender ist, dass sie uns verarscht haben, Louisa. Die ganze Zeit haben wir dagesessen und an den Details gearbeitet, zu allen unseren Vorschlägen haben sie brav ›ja, Ma’am, nein, Ma’am‹ gesagt, aber im Grunde genommen haben sie die ganze Zeit gedacht: Ihr könnt uns mal. Wir können ihnen nicht über den Weg trauen! Sie reden uns nach dem Mund und machen anschließend, was sie wollen. Und dabei hat Webb keinen Zweifel daran gelassen, dass es unsere Schuld ist, wenn irgendetwas schiefgeht.«
»Ja, ist mir auch aufgefallen.«
»Also …«
»Also sorgen wir dafür, dass nichts schiefgeht.«
Sie saßen auf der Steinbalustrade um eines der Blumenbeete auf der Barbican-Terrasse mit Blick auf die Aldersgate Street. Der Verkehr brauste unter ihnen vorbei, und irgendwo hinter ihnen ertönte Musik; etwas Klassisches. Auf der anderen Straßenseite, durch eines der Fenster von Slough House, war Catherine hinter dem freien Schreibtisch in Roderick Hos Büro zu sehen. Hos Hinterkopf war ein regloser schwarzer Fleck. Sie bildeten ein seltsames Verschwörerduo.
Louisa legte ihre Hand auf die von Min, die leicht auf ihrem Knie ruhte. »Okay, sie haben uns also erzählt, sie wohnen in einem hübschen Hotel, weil sie nicht wollen, dass wir sie für Mietgorillas halten, obwohl sie das sind und wir das sowieso glauben. Vielleicht hat Paschkin auch für ein schickes Hotel bezahlt, und sie stecken sich die Differenz in die eigenen Taschen. Aber wie auch immer: Ich glaube nicht, dass wir uns darüber allzu große Sorgen machen sollten. Mich beunruhigt eher dieser Mangel an Backup-Informationen. Ob gerade eine Überprüfung läuft oder nicht, der Park hätte wissen müssen, wo sie sich aufhalten.«
»Aber zumindest wissen wir es jetzt.«
»Ja, wenigstens das.«
»Dank mir.«
»Ja, ja, ja. Dank dir.«
»Das nehme ich als anerkennendes Tätscheln.«
»Tätschel, tätschel, tätschel«, machte Louisa.
»Meinst du, dass die die Waffen jetzt loswerden?«
»Meiner Meinung nach haben sie sie zum Treffen getragen, weil wir uns sonst vielleicht gewundert hätten, wo ihre Waffen waren. Jetzt werden sie sie vorübergehend ablegen. Aber sie werden sie tragen, während ihr Chef hier ist. Dafür sind Gorillas schließlich da.«
»Du hast viel Ahnung in so was.«
»Ich habe mein Gehirn benutzt. Während deins beinahe auf der Old Street verspritzt worden wäre, weil du unbedingt Lance Armstrong spielen musstest.«
»Es geht um das Fahrrad, oder?«, fragte Min, aber sie verstand ihn nicht. Drüben in Slough House sprach Catherine immer noch mit Ho. Im Nebenraum saß Marcus Longridge an seinem Computer. Min konnte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht erkennen. Marcus war Chif‌frierer. Niemand wusste genau, warum er ins Exil geschickt worden war, und niemand kannte ihn gut genug, um ihn danach zu fragen. Andererseits interessierte es keinen so richtig, deswegen war es kein wichtiger Punkt.
Louisa sagte: »Der, der das Reden übernommen hat. Piotr. Meinst du, er hat mich angemacht?«
»Träum weiter. Im Taxi hatte er seinen Arm um Kyril gelegt. Sie haben sich geküsst.«
»Na klar.«
»Im Ernst. Mit Zunge und allem.«
»Selbstverständlich.«
»Dein Schwulenradar ist verkümmert.«
»Weißt du, was?«, erwiderte sie. »Mir fällt da was ganz anderes ein, was bei mir verkümmert.«
Sie warf ihm einen Seitenblick zu, den er inzwischen nur allzu gut kannte.
»Aha«, sagte er. »Na so was. Kapiert.«
»Heute Abend zu mir?«
Min stand auf. Die Musik hatte aufgehört, oder sie wurde leiser. Er streckte eine Hand aus, und Louisa nahm sie.
»Auf geht’s!«, sagte Min.
Catherine stellte ihre Tasse ab, redete aber weiter. »Versteh mich nicht falsch, Roddy, es ist ein toller Trick, aber meinst du nicht, du hättest ein paar nicht konforme Seiten mit einprogrammieren sollen? Niemand sitzt den ganzen Tag am Computer und tut nichts anderes, als zu arbeiten.«
Ho bemerkte, dass sein Mund offen stand, also schloss er ihn. Dann öffnete er ihn wieder, aber nur, um ihn mit Red Bull zu füllen.
»Vielleicht«, fuhr Catherine fort, »wunderst du dich, woher ich das weiß.«
Nein, eigentlich tat er das nicht. Er war bereits zu dem Schluss gekommen, dass es Hexerei sein musste.
Denn Catherine Standish wusste vielleicht, wie eine Tastatur funktionierte, und wahrscheinlich besaß sie irgendein Zertifikat, das ihre Tippgeschwindigkeit bestätigte, aber alles, was über das Surfen auf Touristenseiten hinausging, war so weit außerhalb ihrer Reichweite wie Dating … und … na ja, wie Dating. Selbst wenn sie sich nachts reingeschlichen und sich mit seinem Benutzernamen angemeldet hatte, hätte sie das von ihm geschriebene Programm nicht entdecken können. Wenn Roddy es nicht selbst versteckt hätte, hätte nicht mal er es gefunden.
Er sagte: »Ich weiß nicht, wovon du redest.«
Catherine warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Das kommt etwa dreißig Sekunden zu spät, um überzeugend zu klingen. Was in gewisser Weise meine These bestätigt.«
Diesmal wusste Ho wirklich nicht, wovon sie redete.
»Roddy«, sagte sie, »du kannst dich nicht in andere reinversetzen, oder?«
»Reinversetzen?«
»Du verstehst nicht, wie sie ticken.«
Er schnaubte. Es war seine Spezialität zu verstehen, wie Leute tickten. Er warf im Geist eine Münze und kam auf Min Harper. Also, Min Harper zum Beispiel. Wie tickte Min Harper? Halten Sie Ihren Hut fest, Lady, denn Roddy Ho kann Ihnen Harpers Beurteilung verraten, sein Gehalt, die Hypothek auf das Haus seiner Familie, die Miete für sein Apartment, seine Kreditkartenschulden, seine Daueraufträge, die Verwandten und Freunde, die er auf dem Handy gespeichert hat, wie viele Punkte er auf seiner Supermarkt-Treuekarte gesammelt und welche Websites er markiert hat. Er kann Ihnen sagen, dass Harper sich viel auf Amazon ansieht, aber nur wenig kauft, und dass er regelmäßig E-Mails an den Cricket-Blog des Guardian schickt. All das wollte er ihr gerade unter die Nase reiben, aber sie kam ihm zuvor.
»Roddy.« Sie deutete auf den Computer vor ihm. »Wir alle wissen es zu schätzen, dass du den Dingern ›sitz‹ und ›gib Pfötchen‹ beibringen kannst. Und dass du es verabscheust, die Art von EDV machen zu müssen, die ein Auszubildender nach zwanzig Minuten Einweisung beherrschen würde. Und wir wissen definitiv alle, dass eine Menge Leute in der Kommunikationszentrale ein Auge auf das Online-Verhalten von MI 5-Mitarbeitern haben, für den Fall, dass irgendwo jemand ungezogen ist. So weit alles klar?«
Unwillkürlich nickte er.
»Daraufhin habe ich mich gefragt, was ich tun würde, wenn ich deine Fähigkeiten hätte und, sagen wir, dazu neigte, auf der dunklen Seite des Netzes herumzuwandern. Ich kam zu dem Schluss, dass ich ein Programm schreiben würde, das jeden, der meine Schritte beobachtet, davon überzeugt, dass ich genau das tue, was ich tun soll, was mir wiederum die Freiheit gäbe, den ganzen Tag lang zu tun, was ich wollte.«
Ho fühlte, wie Flüssigkeit über seine Finger tropfte, senkte den Blick und stellte fest, dass er die noch nicht ganz leere Dose Red Bull mit der Faust zerquetscht hatte.
»Gleichzeitig habe ich mir vorgestellt, ich wäre die Art von, äh, zwanghaftem Persönlichkeitstyp, dem nicht einfallen würde, ein bisschen Spielraum in das System einzubauen. So dass man den Eindruck erhielte, dass ein Mensch an der Tastatur sitzt und nicht ein – entschuldige, Roddy – Roboter. Das meinte ich damit, dass du nicht verstehst, wie die Leute ticken.« Und jetzt lehnte sich Catherine zurück und faltete die Hände auf dem Schoß. »Und? Habe ich irgendetwas falsch gemacht?«
»Ja«, sagte er.
»Nein, ich meine, ob ich richtig geraten habe. Nicht, ob du findest, ich hätte das nicht rauskriegen dürfen.«
Nach einer Weile sagte Ho: »Du hast eine Glasfaser durch die Decke gelassen, oder?«
»Roddy, ich könnte das eine Ende einer Glasfaser nicht vom anderen unterscheiden.« Angesichts dieser kolossalen Unwissenheit fehlten Roderick Ho die Worte.
Catherine stand auf und nahm ihre Kaffeetasse. »So«, schloss sie. »Wie nett, dass wir ein bisschen geplaudert haben.«
»Willst du es Lamb sagen?«
Oder den Dogs, dachte er. Die definitiv nicht erfreut wären über einen kaltgestellten Agenten, der im Servicenetz Schabernack trieb.
»Natürlich nicht«, erwiderte sie. »Lamb muss nicht alles wissen, oder?«
Er nickte wortlos.
»Allerdings erwarte ich, dass du in Zukunft etwas flexibler dabei bist, wenn es darum geht, bei Recherchen zu helfen. Und nicht nur meinen.«
»Aber Lamb …«
»Mmm?«
»Nichts.«
»Dachte ich mir.« Catherine hielt an der Tür inne. »Oh, fast hätte ich es vergessen. Falls du erwägst, mir mit Hilfe deiner Online-Tricks das Leben schwerzumachen, werde ich dein schlagendes Herz an einen hungrigen Hund verfüttern. Verstanden?«
»Klar.«
»Einen schönen Nachmittag noch, Roddy.«
Und damit ging sie.
Und ließ einen stocksauren Roderick Ho zurück, der sich verraten fühlte – und irgendwie zutiefst beeindruckt.
In einer dunklen Nacht im vergangenen Winter hatte Jackson Lamb ein Treffen mit Diana Taverner am Kanal in der Nähe des Engels vereinbart; ein Treffen, dem sie zugestimmt hatte, weil Lamb sie an den Eiern hatte. Lady Di strebte nach der Leitung des Parks, die derzeit Ingrid Tearney innehatte, und die Methoden, die sie angewandt hatte, um ihre Interessen zu vertreten, hatten eine Situation heraufbeschworen, die drohte, aus dem Ruder zu laufen. Lambs Eingreifen hatte die Angelegenheit nicht angenehmer gemacht, aber in der Welt der Schnüffler – ebenso wie in Politik, Wirtschaft und Sport – hatte die Tatsache, dass alles völlig beschissen gelaufen war, nicht zu irgendwelchen Veränderungen geführt: Die Ränge im Regent’s Park blieben genauso besetzt wie zuvor, und Lady Dis Unmut, vom Top-Job ausgeschlossen zu sein, war nicht wesentlich geringer geworden. Und Lamb hatte immer noch etwas gegen sie in der Hand, durch das sie gleich zweimal gekreuzigt werden konnte: einmal von den Medien, mit Tinte und Pixeln, und ein zweites Mal von Ingrid Tearney, mit Holz und Nägeln.
In Anbetracht dessen hatte Lady Di nicht viel Widerstand geleistet, als Lamb eine kleine Plauderei vorschlug, »am üblichen Treffpunkt«. Sie kam zu spät, aber diese Demonstration ihrer Dominanz störte Lamb nicht im Geringsten, denn er kam noch später. Als er sich aus der Richtung des Engels näherte, konnte er sie auf der Bank sitzen und den Kanal hinunterblicken sehen. Am anderen Ufer lagen ein paar Hausboote vor Anker; eines mit einem Fahrradträger auf dem Dach, das andere mit geschlossenen Läden und Kette an der Tür. Sie fragte sich wahrscheinlich, ob er sie von einem der beiden Boote aus mit einer Videokamera überwachte, denn das hätte er sich an ihrer Stelle überlegt. Aber er war sich ziemlich sicher, dass sie nichts dergleichen arrangiert hatte, erstens, weil sie ihr Gespräch garantiert nicht aufgezeichnet haben wollte, und zweitens, weil Lamb in dem Zeitfenster, in dem sie die Überwachung hätte organisieren können, auf derselben Bank gesessen hatte und es bemerkt hätte.
Wie jeder Agent hatte auch er seine Lieblingsplätze. Und wie jeder Agent mied er sie meist; er besuchte sie nur in unregelmäßigen Abständen und verzichtete darauf, wenn zu viele oder zu wenige Menschen in der Nähe waren. Aber wie jeder Agent brauchte er einen Ort, an dem er nachdenken konnte, und das musste einer sein, an dem niemand mit ihm rechnete. Dieser Abschnitt des Kanals passte perfekt. Er wurde von den rückwärtigen Fassaden hoher Häuser überragt, und normalerweise kamen regelmäßig Fahrradfahrer oder Jogger vorbei. Mittags schlenderten Laden- und Büroangestellte hinunter ans Ufer und aßen ihre Brote. Manchmal tuckerten Kanalboote vorüber und fuhren in den langen Tunnel unter Islington hinein, wohin kein Treidelpfad folgte. Es war so offensichtlich ein Ort, an dem ein Schnüffler sitzen und Schnüfflergedanken wälzen würde, dass niemand mit der geringsten Ahnung von Schnüfflern sich vorstellen konnte, dass tatsächlich einer so dumm wäre, dorthin zu kommen.
Also hatte Lamb Lady Di von dort aus angerufen und seine Einladung ausgesprochen, und dann hatte er dort gesessen, während der Nachmittag verblasste, und dabei wie ein Büroangestellter ausgesehen, der gerade entlassen worden war, wahrscheinlich aus hygienischen Gründen. Er hatte sieben Zigaretten Kette geraucht und dabei Shirley Danders Bericht über ihren Ausflug in die Cotswolds durchdacht, und als er sich die achte Kippe angezündet hatte, erfasste ihn ein Schaudern von Kopf bis Fuß, und er hustete, wie der Russe gehustet hatte. Er musste die noch längst nicht runtergebrannte Zigarette in den Kanal werfen, während er sich darauf konzentrierte, seinen Körper zusammenzuhalten, und als der Anfall abebbte, fühlte er sich, als wäre er eine Meile gelaufen. Klammer Schweiß brach ihm aus, und sein Blick war verschwommen. Man sollte wirklich mal etwas dagegen tun, dachte er, bevor er die Bank für Lady Di freimachte.
Diese ignorierte jetzt geflissentlich seine Ankunft und nahm ihn auch dann noch kaum zur Kenntnis, als er neben ihr saß. Ihr Haar war länger als bei ihrer letzten Begegnung und lockiger, obwohl das künstlich sein konnte. Sie trug einen dunklen Regenmantel, der zu ihrer Strumpfhose passte, und als sie endlich sprach, sagte sie: »Wenn diese Bank meinen Mantel ruiniert, schicke ich dir die Reinigungsrechnung.«
»Kann man Mäntel reinigen?«
»Man kann Mäntel reinigen, Zähne in Ordnung bringen und Haare waschen. Ich nehme an, das ist dir neu.«
»Ich war in letzter Zeit sehr beschäftigt. Möglicherweise habe ich mich ein wenig gehen lassen.«
»Ein wenig.« Sie wandte sich ihm zu. »Was wolltest du von Nikolai Katinsky?«
»Ah, also war nicht nur ich beschäftigt.«
»Wenn du ehemalige Mitarbeiter belästigst, haben sie die Angewohnheit, die Kommunikationsstrippe zu ziehen. Und ich kann momentan auf Komplikationen verzichten.«
»Wegen deiner internen Schwierigkeiten.«
»Wegen meiner Kümmer-dich-um-deine-eigene-Scheiße. Was wolltest du von ihm?«
»Was hat er dir denn gesagt?«
Diana Taverner antwortete: »Es sei um sein Debrief‌ing gegangen. Du hättest ihn nach dem gefragt, was er den Zahnärzten erzählt hat.«
Lamb grunzte.
»Worauf warst du in Wirklichkeit aus?«
Lamb sagte: »Ich wollte, dass er mir erzählt, was er den Zahnärzten gesagt hat.«
»Du konntest dir nicht einfach das Video ansehen?«
»Es ist nie dasselbe, oder?« Sein Hustenanfall war in die komfortable mentale Zone eingesickert, in der er jemand anderen geschüttelt haben konnte, also zündete er sich eine weitere Zigarette an. Etwas verspätet hielt er das Päckchen andeutungsweise Taverner hin, aber sie schüttelte den Kopf. »Und es bestand immerhin die Möglichkeit, dass er sich anders daran erinnern würde.«
»Was führst du im Schilde, Jackson?«
Ganz die verkörperte Unschuld, antwortete er nur mit einer luftigen Geste: Ich? Er musste nicht einmal etwas sagen. Ein leichter Schwenk mit der Zigarette genügte.
»Katinsky ist ein ganz kleines Licht«, sagte Taverner. »Ein Chif‌frierfachmann, der nichts wusste, was wir nicht bereits aus anderen, besser informierten Quellen erfahren hatten. Wir hielten nur für den Fall an ihm fest, dass wir ein Tauschpfand brauchten. Willst du ernsthaft behaupten, dass du ein Interesse an ihm entwickelst?«
»Dann hast du dich also über ihn informiert.«
»Als ich erfahren habe, dass du Nobodys aus dem Mittelalter aufscheuchst, habe ich natürlich Nachforschungen angestellt. Es liegt daran, dass er Alexander Popow erwähnt hat, nicht wahr? Mein Gott, Jackson, langweilst du dich so sehr, dass du Mythen ausgräbst? Egal, welche Operation Moskau damals geplant hatte, sie ist heute so relevant wie eine Musikkassette. Wir haben diesen Krieg gewonnen, und wir sind mitten dabei, den nächsten zu verlieren und in die nächste Runde zu gehen. Geh zurück nach Slough House und danke Gott, dass du nicht mehr in der Schusslinie stehst.«
»So wie du, meinst du?«
»Glaubst du, es wäre einfach, Stellvertreterin zu sein? Okay, es ist nicht wie das Leben hinter der Mauer damals. Aber versuche mal, meinen Job mit gefesselten Händen zu machen, dann wird dir klar, wie sich Stress anfühlt, das garantiere ich dir.«
Sie starrte ihn an und betonte damit, wie ernst es ihr war, aber er hielt ihrem Blick mit Leichtigkeit stand, und es war ihm egal, dass sie das Lächeln auf seinen Lippen sah. Lamb war sowohl im Außeneinsatz als auch im Innendienst gewesen, und er wusste, was davon einen beim kleinsten Geräusch in der Dunkelheit aus dem Schlaf riss. Doch bisher hatte er noch keinen Anzugträger getroffen, der sich nicht für einen Samurai hielt.
Taverner sah weg. Zwei Jogger, die den Treidelpfad vor ihnen entlangkeuchten, wichen für eine Frau mit einem Kinderwagen auseinander. Erst nachdem das Paar weitergejoggt war und der Kinderwagen sich der Steigung hinauf zur Brücke näherte, fuhr sie fort: »Tearney ist auf dem Kriegspfad«, sagte sie.
Lamb erwiderte: »Auf dem Kriegspfad zu sein, ist Teil ihrer Stellenbeschreibung. Wenn sie nicht mit dem Säbel rasseln würde, würde man den Flur runter glauben, sie sei nicht die Richtige für den Job.«
»Vielleicht ist sie das auch nicht.«
Lamb fuhr sich mit fünf fetten Fingern durch die Haare, die nach einer Wäsche schrien. »Ich hoffe, du willst jetzt nicht politisch werden. Denn ich kann es nicht genug betonen: Es ist mir scheißegal, wer im Park wem in den Rücken fällt.«
Aber Taverner musste sich Luft machen und ließ sich dabei nicht unterbrechen. »Leonard Bradley war nicht nur ihr Rabbi, er war auch ihr Westminster-Maulwurf. Jetzt hat sie keine Verbündeten den Flur runter, wie du es ausgedrückt hast, und du weißt, wie nervös sie werden kann. Sie will also nicht, dass Boote zum Schaukeln gebracht oder Saiten gezupft werden. Sie will nicht, dass überhaupt irgendetwas passiert, ob gut oder schlecht. Bring ihr den Kopf des nächsten Bin Laden auf einem Silbertablett, und sie würde sich Sorgen machen, woher das Tablett käme und dass es jemand als Spesen absetzen wollte.«
»Na, dann wird sie ja ganz begeistert sein.«
»Wovon?«
»Ich plane eine Operation.«
Taverner wartete auf die Pointe.
»Bist du etwa tief beeindruckt?«
»Nein, das bin ich nicht, weil ich meinen Ohren nicht traue. Hast du mir auch nur eine Sekunde lang zugehört?«
»Nicht wirklich. Ich habe nur darauf gewartet, dass du fertig wirst.« Er schnippte seine Kippe ins Wasser, und eine Ente änderte den Kurs, um sie zu untersuchen. »Popow war ein Mythos, Katinsky ist ein Niemand, und Dickie Bow war vor langer Zeit ein Teilzeitschnüffler. Aber jetzt ist er eine Vollzeit-Leiche und hat auf seinem Handy eine ungesendete SMS hinterlassen. Ein Wort. Cicadas. Das gleiche Wort, das Katinsky in Bezug auf irgendeine Verschwörung gehört hat, die der nicht existierende Alexander Popow ausgeheckt haben soll. Und jetzt sag mir, dass es sich nicht lohnt, das näher zu untersuchen.«
»Das letzte Wort eines Sterbenden? Ist das dein Ernst?«
»Allerdings.«
Taverner schüttelte den Kopf. »Weißt du, ich hätte nicht gedacht, dass von deiner ganzen Crew ausgerechnet du als Erster durchdrehst.«
»Das hält dich auf Trab, nicht wahr?«
»Lamb, es ist vollkommen ausgeschlossen, dass Tearney Slough House erlaubt, aktiv zu werden. Nicht, solange der Park eine Ausgabensperre hat. Und auch zu keiner anderen Zeit.«
»Na, wie gut, dass ich in diesem Fall dich habe, oder?«, sagte Lamb. »Wo du mir doch nichts abschlagen kannst!«
Slough House an einem Aprilnachmittag: die Verheißung von Frühling auf den Straßen, die gelegentlich vom Furzen des Verkehrs gestört wurde, aber dennoch da war. Min erkannte sie am Sonnenlicht, das von den Fenstern der Barbican Towers reflektiert wurde, und er konnte es an gelegentlichen Gesangsausbrüchen hören, denn die Studierenden der nahe gelegenen Schauspielschule waren immun gegen Scham und gaben auf dem Weg zur U-Bahn gerne Proben ihres Könnens ab.
Trotz all den Schmerzen und Beschwerden nach seinem Fahrradspurt fühlte er sich gut. Auch nach ein paar Jahren sinnloser Sesselpupserei konnte er noch aufdrehen, wenn es sein musste. Das hatte er heute Morgen bewiesen.
Im Moment war er jedoch wieder zurück an seinem Schreibtisch und erledigte Sinnloses: Er katalogisierte die Strafzettel von Falschparkern, die in der Nähe möglicher terroristischer Ziele gestanden hatten, für den Fall, dass ein Selbstmordattentäter vorher mit dem Auto auf Erkundung gegangen war und sich nicht die Mühe gemacht hatte, rechtzeitig Geld in den Parkscheinautomaten zu werfen. Min hatte fast den ganzen Februar durch, ohne dass ein einziger Falschparker zweimal aufgetaucht war. Louisa, vertieft in eine ebenso mühsame Aufgabe, hatte schon seit einer Weile nichts gesagt.
Däumchendrehzeit.
Es gab natürlich die Theorie, dass man ihnen diese Jobs zu dem Zweck aufhalste, sie durch Langeweile in den Wahnsinn zu treiben. Daraufhin würden sie kündigen und dem Service den Aufwand ersparen, sie zu entlassen, mit dem damit verbundenen Risiko, vor Gericht gezerrt zu werden. Min war froh, dass er an diesem Morgen schon richtige Arbeit geleistet hatte und die Aussicht auf mehr vor ihm lag. Eine billige Absteige an der Edgware Road. Piotr und Kyril hatten sich dort verschanzt, bis ihr Chef auftauchte: Es konnte nicht schaden, mehr über diese beiden zu erfahren. Ihre Gewohnheiten, ihre Stammkneipen. Etwas, was Min einen Vorteil verschaffte, falls sich herausstellte, dass er einen brauchte. Man konnte nie zu viele Informationen sammeln, es sei denn, es ging um Parkknöllchen.
Es war ruhig im Obergeschoss. Lamb hatte sich verzogen, nachdem er sich Shirley Danders Bericht angehört hatte, wie sie Mr B aufgespürt hatte; jedenfalls nahm Min an, dass sie das berichtet hatte.
Er sagte: »Ich frage mich, was Shirley rausgefunden hat.«
»Hmm?«
»Shirley. Ich frage mich, ob sie den Glatzkopf gefunden hat.«
»Ah, ja.«
Kein großes Interesse von dieser Seite.
Ein Bus rollte am Fenster vorbei; sein Oberdeck war leer.
»Ich meine ja nur. Lamb schien ganz begierig darauf zu sein«, sagte er. »Als wäre es etwas Persönliches.«
»Nur eine Laune, so, wie ich ihn kenne.«
»Ich glaube, dass River nicht besonders glücklich darüber war, dass Shirley draußen spielen gehen durfte.« Er konnte sich dabei das Lächeln nicht verkneifen und dachte an die Geschwindigkeit, mit der er die Old Street hinuntergeflitzt war. Und dass River zur gleichen Zeit an seinem Schreibtisch gesessen hatte.
Louisa beobachtete ihn.
»Was ist?«
Sie schüttelte den Kopf und fuhr mit ihrer Arbeit fort.
Ein weiterer Bus fuhr vorbei; dieser war vollbesetzt. Wie konnte das passieren?
Min klopfte sich mit einem Bleistift auf den Daumennagel. »Vielleicht hat sie es vermasselt, was meinst du? Ich meine, sie hatte ja nicht besonders viele Hintergrundinformationen.«
»Kann sein.«
»Und sie war in der Kommunikationsabteilung, stimmt’s? Also, Shirley. Meinst du, sie hat viel Erfahrung im Außendienst?«
Erneut sah Louisa ihn an. Ziemlich sauer, diesmal. »Reicht’s jetzt bald mal mit ihr?«
»Wie bitte?«
»Wenn du wissen willst, wie Shirley vorankommt, geh zu ihr und mach sie an. Viel Glück.«
»Ich will sie nicht anmachen.«
»Klingt aber so.«
»Ich habe mich nur gefragt, ob sie Erfolg hatte, mehr nicht. Wir sind doch ein Team, oder?«
»Ja, genau. Vielleicht solltest du ihr ein paar Tipps geben. Nach deinem Abenteuer heute Morgen.«
»Ja, vielleicht sollte ich das. Es ist ja nicht so, als hätte ich meine Sache schlecht gemacht.«
»Du könntest sie ein bisschen aufklären.«
»Okay.«
»Ihr zeigen, wo der Hammer hängt.«
»Okay.«
»Ihr den Hintern versohlen, wenn sie unartig ist«, fuhr Louisa fort.
»Okay. Nein!«
»Min? Halt jetzt die Klappe, okay?«
Er schwieg.
Draußen sah es noch immer verheißungsvoll nach Frühling aus, aber im Büro herrschte unmissverständlich wieder tiefer Winter.
»Na, wie gut, dass ich in diesem Fall dich habe, oder?«, sagte Lamb. »Wo du mir doch nichts abschlagen kannst!«
Dies wurde von einem schiefen gelben Lächeln begleitet, falls Taverner vergessen haben sollte, was für gute Freunde sie waren.
»Jackson …«
»Ich brauche eine vernünftige Tarnung, Diana. Ich könnte mir selbst eine zusammenbasteln, aber es würde ein oder zwei Wochen dauern, und ich brauche sie sofort.«
»Du willst also eine Operation leiten, und zwar in aller Eile? Klingt irgendetwas davon nach einer guten Idee?«
»Dazu brauche ich das nötige Kapital. Mindestens ein paar tausend. Und ich muss mir vielleicht ein paar Leute ausleihen. Ich bin zurzeit unterbesetzt, nach der Rekrutierungsoffensive deines Spider-Boys.«
»Webb?«
»Ich bevorzuge Spider. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, habe ich Lust, eine Zeitung nach ihm zu werfen.« Er warf ihr einen verstohlenen Seitenblick zu. »Du weißt doch von seiner Wilderei, oder?«
»Webb verrückt nicht mal seinen Schreibtisch ohne meine Erlaubnis. Natürlich weiß ich Bescheid.« Plötzlich ein Flügelschlagen, und die Ente flatterte auf und flog kanalabwärts. »Und auf keinen Fall kannst du jemanden aus dem Park ausleihen. Schließlich zählt Roger Barrowby gerade unsere Teelöffel. Glaub mir, es wird ihm auffallen, wenn einer aus der Belegschaft verlorengeht.«
Lamb sagte nichts. Das Rad hatte sich gedreht. Jeden Moment würde Taverner merken, dass sie von der Aussage, die Tür sei geschlossen, zu Verhandlungen darüber übergegangen war, wie weit sie sich öffnen würde.
»O Gott«, murmelte sie.
Na also.
Schweigend bot er ihr noch einmal seine Zigaretten an, und diesmal nahm sie eine. Als er sich hinüberbeugte, um ihr Feuer zu geben, nahm er einen Hauch ihres Parfüms wahr. Dann flammte sein Feuerzeug auf, und der Parfümduft war weg.
Taverner lehnte sich zurück; ob die Holzbank womöglich Schäden hinterließ, schien sie nicht mehr zu interessieren. Sie schloss die Augen und inhalierte tief. »Tearney hasst verdeckte Ermittlungen«, sagte sie. Ihm war, als würde sie ein Gespräch fortsetzen, das sie schon viele Male im Geiste geführt hatte. »Wenn sie die Möglichkeit hätte, würde sie den Außendienst ganz abschaffen und dafür das Government Communications Headquarter um das Doppelte aufblähen. Informationsbeschaffung aus sicherer Distanz. Genau so, wie es die Arbeitsschützer mögen.«
»Es gäbe weniger Agenten in Leichensäcken«, bemerkte Lamb.
»Es gäbe weniger Agenten – Punkt. Und tu nicht so, als ob du sie verteidigen würdest. Sie würde deine Generation vor eine Wahrheits- und Versöhnungskommission stellen. Du müsstest dich für jedes einzelne unautorisierte Abenteuer entschuldigen, das du je unternommen hast, und anschließend für die Kameras deinen Gegner umarmen.«
»Kameras«, wiederholte Lamb. Dann sagte er: »Mein Gott, du machst nicht mal Witze, oder?«
»Weißt du, was in ihrem letzten Memo stand? Dass diejenigen, die sich um eine Stellung in der oberen Etage bewerben wollen, sich vorher für einen internen PR -Kurs anmelden sollen. Um sicherzugehen, dass sie auf eine ›kundenorientierte‹ Rolle vorbereitet sind.«
»›Kundenorientiert‹?«
»›Kundenorientiert‹.«
Lamb schüttelte den Kopf. »Ich kenne da ein paar Leute. Wir könnten sie umlegen lassen.«
Sie berührte kurz sein Knie. »Sehr freundlich von dir. Machen wir daraus Plan B.«
Danach saßen sie schweigend da, während sie ihre Zigarette fertig rauchte. Anschließend zermalmte sie die Kippe unter ihrem Absatz und sagte: »Okay. Keine Witze mehr. Es sei denn, du willst mir sagen, dass du welche gemacht hast?« Aber ein kurzer Blick sagte ihr, dass sie nicht so leicht davonkommen würde. Sie schaute auf ihre Uhr. »Erklär es mir.«
Lamb erzählte ihr, was er vorhatte.
Als er fertig war, sagte sie: »Die Cotswolds?«
»Ich sagte: eine Operation. Nicht: al-Kaida.«
»Du ziehst das doch sowieso durch. Warum machst du dir überhaupt die Mühe, mir davon zu erzählen?«
Lamb sah sie feierlich an. »Ich weiß, dass du mich für eine tickende Zeitbombe hältst. Aber nicht mal ich bin so blöd, eine Operation auf heimischem Gebiet durchzuführen, ohne sie vorher mit dem Park zu klären.«
»Ich habe das ernst gemeint.«
»Weil du es sowieso herausfinden würdest.«
»Da hast du verdammt recht, das würde ich. Hast du schon überlegt, welcher von deinen Neulingen mir Bericht erstattet?«
Sein Gesichtsausdruck verriet nichts.
Sie sagte: »Das Ganze sollte sich besser nicht in einen Zirkus verwandeln.«
»Einen Zirkus? Dieser Typ hat einen von uns umgebracht. Wenn wir das zulassen, ohne uns – wie würdest du es ausdrücken? – mit der gebotenen Sorgfalt darum zu kümmern, also ohne herauszufinden, wer das getan hat und warum, dann erledigen wir nicht nur unsere Arbeit nicht, sondern lassen auch noch unsere eigenen Leute im Stich.«
»Bow gehörte nicht mehr zu unseren Leuten.«
»So funktioniert das nicht, das weißt du ganz genau.«
Sie seufzte. »Ja, ich weiß. Ich wusste allerdings nicht, dass du gerne Reden hältst.« Sie dachte einen Moment nach. »Okay. Wir können wahrscheinlich unauffällig eine schon vorab benutzte ID verwenden, ohne dass Alarmglocken schrillen. Sie wird nicht wasserdicht sein, aber du schickst ja niemanden in den Wilden Westen. Und wenn du einen 22-F ausfüllst, sorge ich dafür, dass er die Rechnungsabteilung passiert. Wir werden eine Art Archivierungsaufwand geltend machen. Ich meine, überleg doch mal selbst, du ermittelst in einem historischen Fall. Wenn das keine Archivsache ist, weiß ich es auch nicht.«
Lamb sagte: »Von mir aus kannst du es aus der Portokasse stehlen, ganz egal. Geht mir am Arsch vorbei.«
Zur Illustration kratzte er sich am betreffenden Körperteil.
»Grundgütiger!«, seufzte Diana Taverner. Dann sagte sie: »Ich regle das, und wir sind quitt, oder?«
»Natürlich.«
»Und du solltest nicht während der Arbeitszeit pinkeln gehen, Jackson.«
In einem seltenen Moment von Taktgefühl erkannte Lamb, wann jemand das letzte Wort haben musste, und sagte nichts. Stattdessen sah er ihr nach, bis sie außer Sichtweite verschwand, und belohnte sich dann mit einem langsamen Grinsen. Er hatte Servicedeckung. Er hatte sogar Betriebskapital.
Nichts von alldem hätte er bekommen, wenn er ihr die Wahrheit gesagt hätte.
Er zog sein Handy aus der Tasche und rief in Slough House an.
»Sind Sie noch da?«
»Wenn ich nicht da wäre, wäre ich nicht ans Telefon gegangen.«
»Bewegen Sie Ihren Arsch nach Whitecross. Und bringen Sie Ihr Portemonnaie mit.«
Als Lamb den Anruf beendete, beobachtete er, wie die entflogene Ente zurückkehrte und schliddernd auf der spiegelglatten Oberfläche des Kanals landete, wobei sie die Reflexion des Himmels trübte, jedoch nur für einen Moment. Dann zitterte sich alles wieder zurecht: Himmel, Dächer und Überlandleitungen, alles an seinem Platz.
Ho wäre erfreut darüber gewesen.